Görlitz mit Aussichten
Kulturhauptstadt Europa 2010. Zwei deutsche Bewerber, ein Sieger, der Kandidat Essen wurde gestern vorgestellt, heute nun das Bewerberporträt Görlitz/Zgorzelec. Präsentiert Bewerber Essen den kulturellen Umbruch einer Industrieregion, so liegt der Fall bei Görlitz etwas anders. Hier bewirbt sich eine einstmals geteilte Stadt mit zwei Nationen.
Ballungsraum Ruhrgebiet gegen Grenzstadt Oder/Neiße. Und so setzt Görlitz/Zgorzelec in seiner Bewerbung weniger auf Kultur-Highlights üblicher Art, sondern mehr auf die schlichte und spannende Frage: Welche Rolle kann Kultur als Motor der Veränderung spielen? Kultur also als erneuerbare Energie, auch und gerade im Alltag.
Görlitz am frühen Morgen. Eine Stadt erwacht. Noch sind die Gassen und Straßen fast menschenleer. Gleich neben dem Theater steht die alte Kaisertrutz. Ein wehrhafter Rundbau, der Teil der historischen Stadtbefestigung war. Dann folgt ein Platz mit dem städtischen Busbahnhof. In zwei, drei Stunden werden hier die ersten Reisebusse stehen, die die Touristen nach Görlitz bringen. Was dann folgt, ist klar: raus aus den Bus und immer dem kleinen Fähnchen nach. Die Görlitzer Altstadt steht auf dem Programm: mit Obermarkt und Untermakt, mit der Peterskirche und der neuen Altstadtbrücke zur Nachbarstadt Zgorzelec, die bis 1945 die Görlitzer Vorstadt war.
"Görlitz ist einfach eine herzergreifend schöne Stadt, von einer wirklich einmaligen Schönheit und Substanz. Es ist unglaublich, dass diese Stadt diese wechselnden Schicksale, Krieg, Nachkriegszeit, DDR zum Teil eben auch durch das Selbstbewusstsein der Bürgerschaft so überstanden hat. Aber andererseits fehlen die Impulse, diese Stadt ihrem Bild nach entsprechend auch zu beleben. Und wir meinen, dass diese Stadt, mit dem anderen Teil auf der polnischen Seite, nicht nur vom Städtebau, sondern von ihrer Geschichte, auch von ihrer kulturellen Tradition her, eine Bedeutung hat, die nicht entsprechend realisiert und wahrgenommen wird. "
Der Architekturhistoriker Werner Durth gerät stets ins Schwärmen, wenn er von Görlitz spricht. Er ist Mitglied jener Jury, die Görlitz und Zgorzelec neben der Ruhrstadt Essen für die Kulturhauptstadt 2010 vorgeschlagen hat.
So gegen zehn erobern die ersten Reisegruppen die Görlitzer Altstadt. Die Heimattouristen, die auf den Weg nach Schlesien sind, um die Orte ihrer Kindheit und Jugend wieder zu sehen, reisen lieber individuell. Und so sieht man sie häufig in kleinen Gruppe mit einem ortskundigen Reiseführer vor den historischen Gebäuden stehen; vor dem Alten Rathaus am Untermarkt oder vor dem Haus zum Goldenen Baum.
Vor dem Rathauscafé am Untermarkt sitzt der Regisseur und Dramatiker Herrmann Rueth. Er hat schon mehrfach am Görlitzer Theater inszeniert und ist kürzlich mit seiner Familie aus dem Allgäu nach Görlitz gezogen.
"In Görlitz ist es halt wirklich das Atemberaubende, man sieht die Straßenflucht hinunter und es ist komplett. Es ist komplett in vielen Himmelsrichtungen. Man geht eine halbe Stunde durch die Stadt und sieht nichts anderes als historische Häuser. Wer darauf steht, kann sehr schnell in einen Rausch des Sinnlichen geraten. "
Schon deshalb hat Görlitz viele Freunde. Vor allem die Kenner der Architekturgeschichte sind ganz hin und weg, wenn sie zum ersten Mal nach Görlitz kommen. Oft ist es Liebe auf den ersten Blick und dann folgen manchmal auch Taten. An vorderster Front engagiert sich Gottfried Kiesow. Er war einst oberster Denkmalpfleger in Hessen und ist heute Vorstandsvorsitzender der Deutschen Stiftung Denkmalschutz. Schon seit Jahren schwärmt er landauf und landab von der Stadt an der Neiße und schwingt mit Erfolg die Sammelbüchse. Mittelfristig will Gottfried Kiesow die Stadt zum Zentrum der privaten Denkmalpflege machen. Und dann gibt es da noch den anonymen Spender, der Jahr für Jahr eine halbe Million Euro für Görlitz spendet und auf keinen Fall namentlich genannt werden will. Doch nur von Schönheit kann keiner leben. Auch nicht in Görlitz - viele Arbeitslose, viele Abwanderer. Ulf Großmann, Kulturbürgermeister der Stadt, kennt die Fakten: das steinerne Gedächtnis von Görlitz erzählt nicht zwangsläufig die Geschichte seiner Bewohner.
" Görlitz ist eine Stadt die ist wunderschön erhalten, die ist wunderschön restauriert, aufgearbeitet. Man braucht nur noch eine Käseglocke drüber zu machen, man hat alles wunderbar konserviert. Das ist nun aber kein Lebensraum, sondern ein Lebensraum definiert sich auch, indem man sich aktuell auseinandersetzt. Das ist eigentlich das Spannende, neue Wege zu finden, frischen Geist in alte Mauern zu bringen. "
Einstweilen hat die Vision einen Namen. Sie heißt Kulturhauptstadt 2010.
Der Weg führt durch die Altstadt, hinunter zum Untermarkt. Es ist der Platz, wo Regisseur Herrmann Rueth in südlichem Ambiente öfter einen Capuccino trinkt.
Herrmann Rueth kennt Hinz und Kunz. Er grüßt den Görlitzer Herrgottschnitzer, der früher mal Informatiker war, und er grüßt die schöne Polin mit den langen blonden Zöpfen, die auch in seinem Stück mitspielt, denn zur Zeit wird mit 300 Schauspielern und Laien aus Görlitz und Zgorzelec auf dem Untermarkt sein historisches Stück gespielt, dass von der großen Vergangenheit der Bürgerstadt erzählt.
" Dieses Selbstbewusstsein als Bevölkerung basiert natürlich auf Geschichte. Und hier ist an jeder Ecke Geschichte, und diese Geschichte ist eine bedeutende Geschichte. Görlitz war im 16. Jahrhundert die bedeutendste mitteldeutsche Stadt. Und die waren sehr stolz, die suchten sich ihre Könige selbst aus. Und dieses Selbstbewusstsein wird transportiert durch die Architektur, die hier überall steht. Und es lohnt sich natürlich mit dieser Geschichte zu befassen. Wenn ich hier lebe, ist das auch meine Geschichte, und entsprechend kann natürlich dieses Selbstbewusstsein über diese Architektur über diese Geschichte auch zur Jetztzeit rüberschwappen. "
Für Herrmann Rueth sind die alten Görlitzer Gemäuer kein blutleeres Museum, sondern ein mentales Kraftwerk, das es anzuzapfen gilt. Kommen Sie, sagt Hermann Rueth, ich zeige Ihnen die alte Nikolai-Vorstadt. Der historische Friedhof, der Görlitzer Ölberg und das Heilige Grab liegen ein wenig abseits der üblichen Touristenstrecke.
" Görlitz ist ja deswegen so eine blühende Handelsstadt geworden, weil sie am Kreuzpunkt uralter Handelswege lag, Nord-Süd, Ost-West, und wie weit auch das wieder herstellbar ist, mit der Erweiterung der EU. Darin mag eine Chance liegen, eben nicht nur mit einem Tourismuskonzept, sondern sehr wohl mit vitalen Beziehungen zwischen den großen Städten im Osten Europas auch Görlitz wieder eine neue Bedeutung zuzuweisen. "
Das ist zurzeit etwas Zukunftsmusik. Noch liegt Görlitz im Abseits: Die Verkehrsverbindungen sind schlecht, der Weg nach Berlin führt über Landstraßen und die Autobahn nach Breslau ist noch im Bau. Der stolze Gründerzeitbahnhof hat nur wenig zu tun, und die Händler, Pilger und Touristen bevorzugen andere Wege und wandeln auf anderen Pfaden.
Zurück am Untermarkt führt die Straße bergab zum Fluss und zur neuen Fußgängerbrücke, die über die Neiße nach Zgorzelec führt. Im Oktober 2004 wurde die neue Brücke für Fußgänger und Radfahrer eröffnet, erklärt Peter Baumgardt, Geschäftsführer der Kulturhauptstadtbewerbung.
" Man geht diese Neißestraße hinunter und wird wohl einen größeren Kontrast als den in dieser Stadt nicht erwarten. Man sieht hoch oben am Horizont, sozusagen das Erbe des Sozialismus, die Plattenbauten von Zgorzelec, Hochhäuser, die eigentlich die Skyline, jedenfalls aus dieser Blickrichtung, die Skyline von Zgorzelec bestimmen, und kommt zur Altstadtbrücke und geht über die Altstadtbrücke und kommt in eine andere Welt. "
Die andere Welt heißt Zgorzelec. Hier wird zum ersten Mal deutlich, was die Stadtväter von Görlitz und Zgorzelec unter Laboratorium der Zukunft und unter der Baustelle Europastadt verstehen.
Nach ein paar hundert Metern biegt die Straße links ab und führt etwas bergauf zu einer belebten Straßenkreuzung, die so etwas wie das Zentrum von Zgorzelec ist. Hier sind auch die Kommunalverwaltung und das Büro des Vizebürgermeisters zu finden, der sich um die Kulturhauptstadtbewerbung 2010 kümmert. Ireneusz Aniszkiewicz ist eher der handfeste Typ, bodenständig und vital. Deutsch hat er schon in der Schule gelernt, zu DDR-Zeiten hat er die großen Schaufelbagger für den Kohletagebau in der Lausitz mitkonstruiert. Und bei der Bewerbung zur Kulturhauptstadt war er zunächst skeptisch.
" Aber dann habe ich gemerkt, wir haben eine große Chance, weil wir waren die einzige Stadt mit zwei Nationen, Polen und Deutschland gemeinsam. Darum denke ich, wir haben Chancen, und ich denke, es geht nicht darum, wer ist größer, es geht um die Qualität. Wir können diese Zeit nicht verschlafen, wir müssen mehr machen, aber wir brauchen auch mehr Unterstützung von Bürgern. Wir müssen mehr Bürger engagieren. "
Natürlich will Zgorzelec auch zeigen, was es kulturell zu bieten hat. So gibt es neue archäologische Funde, die auf die Zeit um 850 vor Christus verweisen. Die Ausgrabungen sollen finanziert werden und das örtliche Museum bereichern. Natürlich wird Jakob Böhme gebührend geehrt, und es wird an den französischen Komponisten Olivier Messiaens gedacht, der während des Zweiten Weltkriegs in dem Görlitzer Lager StaLag VIIIa Kriegsgefangener war. Doch vor allem wollen der Vizebürgermeister und seine Mitarbeiterin Silvia Markowska die Bürger für die Kulturhauptstadtbewerbung begeistern.
" Das ist sehr wichtig, dass man mit Bürgern persönlich spricht und nicht nur Presseinformationen in den Medien macht, das reicht nicht. "
Vom Bürgermeisteramt zurück nach Görlitz sind es nur wenige hundert Meter. Links von der Straße liegt in einem gepflegten Park das Dom Kultury, die ehemalige Ruhmeshalle im wilhelminischen Neobarock von 1902, ein Gebäude, das an der Kulturschleife liegt. Bei der Eröffnung der Ruhmeshalle war Kaiser Wilhelm II. dabei. 1998 wurde an gleicher Stelle der Gründungsvertrag Europastadt Görlitz-Zgorzelec unterzeichnet. Jetzt gehört das Kulturhaus zum Herzstück des geplanten Brückenparks, der das Rückgrat der beiden Schwesterstädte werden soll. An beiden Ufern der Neiße, so Ulf Großmann, soll einmal das gemeinsame Herz der Europastadt Görlitz-Zgorzelec schlagen.
" Wir wollen diesen Fluss Neiße wieder als etwas Verbindendes sehen. Wir wollen auch die Uferbereiche, die von beiden Seiten vernachlässigt worden sind, in unsere Stadtplanung bewusst einbeziehen und ein Projekt formulieren, das am Ende Brückenpark heißt, und zum Inhalt hat, ein Zentrum zu schaffen für die Europastadt Görlitz-Zgorzelec. Die sich aber nicht durch Einkaufen und Wohnen definiert, wie es sonst ein Zentrum tut, sondern das sich definiert durch Kultur, Kommunikation, Bildung und Begegnung. "
Der Weg in Zgorzelec führt zur Zeit noch nicht zurück nach Görlitz, weil die verbindende Brücke fehlt, so dass Peter Baumgardt zunächst unsere Phantasie bemüht, damit wir seinem Weg auch weiterhin folgen können.
" Was wir jetzt gerne täten, wäre diese Kulturschleife fortsetzen, und das macht uns im Augenblick noch Schwierigkeiten, außer man zieht die Hosen hoch und geht durch die Neiße. Nein, wir planen hier und hoffen sehr, die dritte Brücke, eine weitere Fußgängerbrücke errichten zu können, und damit tatsächlich eine Kulturschleife binden zu können, denn wir würden in dem Moment tatsächliche unsere im Mittelalter begonnene Reise am Kaisertrutz beenden können im Gründerzeit-Viertel. "
Es ist das größte Gründerzeitensemble Deutschlands. Auf deutscher Seite gehört die Görlitzer Stadthalle und die Görlitzer Synagoge zu den Brückenparkprojekten, zwei Gebäude, die noch renoviert werden müssen. Hier stehen auch die vielen prächtigen Gründerzeitvillen. Anfang des letzten Jahrhunderts war es üblich, dass wohlhabende Rentiers in die Garnisonstadt Görlitz zogen, um dort ihren Lebensabend zu verbringen. Jetzt hofft die Stadt wieder auf zahlungskräftige Privatiers, die in die vielen leer stehenden Wohnungen ziehen. Görlitz statt Mallorca oder Florida? Es gilt neue Konzepte für die Revitalisierung der Stadt zu finden, auch das soll die Aufgabe der Kulturhauptstadt 2010 sein, sagt Jurymitglied Werner Durth.
" Den Hinweis zu geben, dass hier man kann sagen ein unentdeckter Schatz ist, für den es auch gilt, neue Ideen zu sammeln und in die Welt zu bringen, das hat uns auf den Gedanken gebracht, bewusst auch im Kontrast zu dieser vitalen Stadt Essen und ihrem lebendigen Strukturwandel, diese Aufgabe, Görlitz auch zu einem europäischen Thema zu machen. "
Görlitz und Zgorzelec haben die Evaluierungskriterien für die zweite Phase der Kulturhauptstadtbewerbung sehr genau studiert, und Ulf Großmann und seine Mitstreiter rechts und links der Neiße sind fest entschlossen, sie mit Leben zu erfüllen.
"Da stecken Fragen drin nach Europäisierung unserer Städte, nach Modellen für die Umgestaltung der Städte, der Bewältigung der Strukturprobleme, der demografischen Probleme mit Hilfe kultureller Mittel. Und das war eigentlich der interessante Ansatz für uns und nicht nur das Ziel, ein ganzjähriges Event durchzuführen, sondern wirklich mittelfristiges Entwicklungsziel für beide Städte und im Grunde genommen für die gesamte Region zu werden. "
Lassen sich verloren gegangene Industriearbeitsplätze durch Kultur und Dienstleistungen kompensieren? Das sind in Görlitz existentielle Fragen.
Die Stadt lebte einst vom Handel. Im 19. Jahrhundert wurde Görlitz zu einer bedeutenden Industriestadt. Die Industriearbeitsplätze sind dramatisch zusammengeschrumpft. 17.500 waren es vor der Wende, knapp zweieinhalb Tausend sind geblieben. Andererseits: Architektonisch ist Görlitz eine unzerstörte Stadt. Zerbricht sie nun an ganz neuen, ganz anderen Widersprüchen? Wo liegt das Geheimnis für Wohlstand? Das Laboratorium Görlitz-Zgorzelec muss diese Überlebensfrage klären. Als Kulturhauptstadt 2010 könnte sie das etwas selbstbewusster, einzigartig und stellvertretend für andere Städte tun.
Görlitz am frühen Morgen. Eine Stadt erwacht. Noch sind die Gassen und Straßen fast menschenleer. Gleich neben dem Theater steht die alte Kaisertrutz. Ein wehrhafter Rundbau, der Teil der historischen Stadtbefestigung war. Dann folgt ein Platz mit dem städtischen Busbahnhof. In zwei, drei Stunden werden hier die ersten Reisebusse stehen, die die Touristen nach Görlitz bringen. Was dann folgt, ist klar: raus aus den Bus und immer dem kleinen Fähnchen nach. Die Görlitzer Altstadt steht auf dem Programm: mit Obermarkt und Untermakt, mit der Peterskirche und der neuen Altstadtbrücke zur Nachbarstadt Zgorzelec, die bis 1945 die Görlitzer Vorstadt war.
"Görlitz ist einfach eine herzergreifend schöne Stadt, von einer wirklich einmaligen Schönheit und Substanz. Es ist unglaublich, dass diese Stadt diese wechselnden Schicksale, Krieg, Nachkriegszeit, DDR zum Teil eben auch durch das Selbstbewusstsein der Bürgerschaft so überstanden hat. Aber andererseits fehlen die Impulse, diese Stadt ihrem Bild nach entsprechend auch zu beleben. Und wir meinen, dass diese Stadt, mit dem anderen Teil auf der polnischen Seite, nicht nur vom Städtebau, sondern von ihrer Geschichte, auch von ihrer kulturellen Tradition her, eine Bedeutung hat, die nicht entsprechend realisiert und wahrgenommen wird. "
Der Architekturhistoriker Werner Durth gerät stets ins Schwärmen, wenn er von Görlitz spricht. Er ist Mitglied jener Jury, die Görlitz und Zgorzelec neben der Ruhrstadt Essen für die Kulturhauptstadt 2010 vorgeschlagen hat.
So gegen zehn erobern die ersten Reisegruppen die Görlitzer Altstadt. Die Heimattouristen, die auf den Weg nach Schlesien sind, um die Orte ihrer Kindheit und Jugend wieder zu sehen, reisen lieber individuell. Und so sieht man sie häufig in kleinen Gruppe mit einem ortskundigen Reiseführer vor den historischen Gebäuden stehen; vor dem Alten Rathaus am Untermarkt oder vor dem Haus zum Goldenen Baum.
Vor dem Rathauscafé am Untermarkt sitzt der Regisseur und Dramatiker Herrmann Rueth. Er hat schon mehrfach am Görlitzer Theater inszeniert und ist kürzlich mit seiner Familie aus dem Allgäu nach Görlitz gezogen.
"In Görlitz ist es halt wirklich das Atemberaubende, man sieht die Straßenflucht hinunter und es ist komplett. Es ist komplett in vielen Himmelsrichtungen. Man geht eine halbe Stunde durch die Stadt und sieht nichts anderes als historische Häuser. Wer darauf steht, kann sehr schnell in einen Rausch des Sinnlichen geraten. "
Schon deshalb hat Görlitz viele Freunde. Vor allem die Kenner der Architekturgeschichte sind ganz hin und weg, wenn sie zum ersten Mal nach Görlitz kommen. Oft ist es Liebe auf den ersten Blick und dann folgen manchmal auch Taten. An vorderster Front engagiert sich Gottfried Kiesow. Er war einst oberster Denkmalpfleger in Hessen und ist heute Vorstandsvorsitzender der Deutschen Stiftung Denkmalschutz. Schon seit Jahren schwärmt er landauf und landab von der Stadt an der Neiße und schwingt mit Erfolg die Sammelbüchse. Mittelfristig will Gottfried Kiesow die Stadt zum Zentrum der privaten Denkmalpflege machen. Und dann gibt es da noch den anonymen Spender, der Jahr für Jahr eine halbe Million Euro für Görlitz spendet und auf keinen Fall namentlich genannt werden will. Doch nur von Schönheit kann keiner leben. Auch nicht in Görlitz - viele Arbeitslose, viele Abwanderer. Ulf Großmann, Kulturbürgermeister der Stadt, kennt die Fakten: das steinerne Gedächtnis von Görlitz erzählt nicht zwangsläufig die Geschichte seiner Bewohner.
" Görlitz ist eine Stadt die ist wunderschön erhalten, die ist wunderschön restauriert, aufgearbeitet. Man braucht nur noch eine Käseglocke drüber zu machen, man hat alles wunderbar konserviert. Das ist nun aber kein Lebensraum, sondern ein Lebensraum definiert sich auch, indem man sich aktuell auseinandersetzt. Das ist eigentlich das Spannende, neue Wege zu finden, frischen Geist in alte Mauern zu bringen. "
Einstweilen hat die Vision einen Namen. Sie heißt Kulturhauptstadt 2010.
Der Weg führt durch die Altstadt, hinunter zum Untermarkt. Es ist der Platz, wo Regisseur Herrmann Rueth in südlichem Ambiente öfter einen Capuccino trinkt.
Herrmann Rueth kennt Hinz und Kunz. Er grüßt den Görlitzer Herrgottschnitzer, der früher mal Informatiker war, und er grüßt die schöne Polin mit den langen blonden Zöpfen, die auch in seinem Stück mitspielt, denn zur Zeit wird mit 300 Schauspielern und Laien aus Görlitz und Zgorzelec auf dem Untermarkt sein historisches Stück gespielt, dass von der großen Vergangenheit der Bürgerstadt erzählt.
" Dieses Selbstbewusstsein als Bevölkerung basiert natürlich auf Geschichte. Und hier ist an jeder Ecke Geschichte, und diese Geschichte ist eine bedeutende Geschichte. Görlitz war im 16. Jahrhundert die bedeutendste mitteldeutsche Stadt. Und die waren sehr stolz, die suchten sich ihre Könige selbst aus. Und dieses Selbstbewusstsein wird transportiert durch die Architektur, die hier überall steht. Und es lohnt sich natürlich mit dieser Geschichte zu befassen. Wenn ich hier lebe, ist das auch meine Geschichte, und entsprechend kann natürlich dieses Selbstbewusstsein über diese Architektur über diese Geschichte auch zur Jetztzeit rüberschwappen. "
Für Herrmann Rueth sind die alten Görlitzer Gemäuer kein blutleeres Museum, sondern ein mentales Kraftwerk, das es anzuzapfen gilt. Kommen Sie, sagt Hermann Rueth, ich zeige Ihnen die alte Nikolai-Vorstadt. Der historische Friedhof, der Görlitzer Ölberg und das Heilige Grab liegen ein wenig abseits der üblichen Touristenstrecke.
" Görlitz ist ja deswegen so eine blühende Handelsstadt geworden, weil sie am Kreuzpunkt uralter Handelswege lag, Nord-Süd, Ost-West, und wie weit auch das wieder herstellbar ist, mit der Erweiterung der EU. Darin mag eine Chance liegen, eben nicht nur mit einem Tourismuskonzept, sondern sehr wohl mit vitalen Beziehungen zwischen den großen Städten im Osten Europas auch Görlitz wieder eine neue Bedeutung zuzuweisen. "
Das ist zurzeit etwas Zukunftsmusik. Noch liegt Görlitz im Abseits: Die Verkehrsverbindungen sind schlecht, der Weg nach Berlin führt über Landstraßen und die Autobahn nach Breslau ist noch im Bau. Der stolze Gründerzeitbahnhof hat nur wenig zu tun, und die Händler, Pilger und Touristen bevorzugen andere Wege und wandeln auf anderen Pfaden.
Zurück am Untermarkt führt die Straße bergab zum Fluss und zur neuen Fußgängerbrücke, die über die Neiße nach Zgorzelec führt. Im Oktober 2004 wurde die neue Brücke für Fußgänger und Radfahrer eröffnet, erklärt Peter Baumgardt, Geschäftsführer der Kulturhauptstadtbewerbung.
" Man geht diese Neißestraße hinunter und wird wohl einen größeren Kontrast als den in dieser Stadt nicht erwarten. Man sieht hoch oben am Horizont, sozusagen das Erbe des Sozialismus, die Plattenbauten von Zgorzelec, Hochhäuser, die eigentlich die Skyline, jedenfalls aus dieser Blickrichtung, die Skyline von Zgorzelec bestimmen, und kommt zur Altstadtbrücke und geht über die Altstadtbrücke und kommt in eine andere Welt. "
Die andere Welt heißt Zgorzelec. Hier wird zum ersten Mal deutlich, was die Stadtväter von Görlitz und Zgorzelec unter Laboratorium der Zukunft und unter der Baustelle Europastadt verstehen.
Nach ein paar hundert Metern biegt die Straße links ab und führt etwas bergauf zu einer belebten Straßenkreuzung, die so etwas wie das Zentrum von Zgorzelec ist. Hier sind auch die Kommunalverwaltung und das Büro des Vizebürgermeisters zu finden, der sich um die Kulturhauptstadtbewerbung 2010 kümmert. Ireneusz Aniszkiewicz ist eher der handfeste Typ, bodenständig und vital. Deutsch hat er schon in der Schule gelernt, zu DDR-Zeiten hat er die großen Schaufelbagger für den Kohletagebau in der Lausitz mitkonstruiert. Und bei der Bewerbung zur Kulturhauptstadt war er zunächst skeptisch.
" Aber dann habe ich gemerkt, wir haben eine große Chance, weil wir waren die einzige Stadt mit zwei Nationen, Polen und Deutschland gemeinsam. Darum denke ich, wir haben Chancen, und ich denke, es geht nicht darum, wer ist größer, es geht um die Qualität. Wir können diese Zeit nicht verschlafen, wir müssen mehr machen, aber wir brauchen auch mehr Unterstützung von Bürgern. Wir müssen mehr Bürger engagieren. "
Natürlich will Zgorzelec auch zeigen, was es kulturell zu bieten hat. So gibt es neue archäologische Funde, die auf die Zeit um 850 vor Christus verweisen. Die Ausgrabungen sollen finanziert werden und das örtliche Museum bereichern. Natürlich wird Jakob Böhme gebührend geehrt, und es wird an den französischen Komponisten Olivier Messiaens gedacht, der während des Zweiten Weltkriegs in dem Görlitzer Lager StaLag VIIIa Kriegsgefangener war. Doch vor allem wollen der Vizebürgermeister und seine Mitarbeiterin Silvia Markowska die Bürger für die Kulturhauptstadtbewerbung begeistern.
" Das ist sehr wichtig, dass man mit Bürgern persönlich spricht und nicht nur Presseinformationen in den Medien macht, das reicht nicht. "
Vom Bürgermeisteramt zurück nach Görlitz sind es nur wenige hundert Meter. Links von der Straße liegt in einem gepflegten Park das Dom Kultury, die ehemalige Ruhmeshalle im wilhelminischen Neobarock von 1902, ein Gebäude, das an der Kulturschleife liegt. Bei der Eröffnung der Ruhmeshalle war Kaiser Wilhelm II. dabei. 1998 wurde an gleicher Stelle der Gründungsvertrag Europastadt Görlitz-Zgorzelec unterzeichnet. Jetzt gehört das Kulturhaus zum Herzstück des geplanten Brückenparks, der das Rückgrat der beiden Schwesterstädte werden soll. An beiden Ufern der Neiße, so Ulf Großmann, soll einmal das gemeinsame Herz der Europastadt Görlitz-Zgorzelec schlagen.
" Wir wollen diesen Fluss Neiße wieder als etwas Verbindendes sehen. Wir wollen auch die Uferbereiche, die von beiden Seiten vernachlässigt worden sind, in unsere Stadtplanung bewusst einbeziehen und ein Projekt formulieren, das am Ende Brückenpark heißt, und zum Inhalt hat, ein Zentrum zu schaffen für die Europastadt Görlitz-Zgorzelec. Die sich aber nicht durch Einkaufen und Wohnen definiert, wie es sonst ein Zentrum tut, sondern das sich definiert durch Kultur, Kommunikation, Bildung und Begegnung. "
Der Weg in Zgorzelec führt zur Zeit noch nicht zurück nach Görlitz, weil die verbindende Brücke fehlt, so dass Peter Baumgardt zunächst unsere Phantasie bemüht, damit wir seinem Weg auch weiterhin folgen können.
" Was wir jetzt gerne täten, wäre diese Kulturschleife fortsetzen, und das macht uns im Augenblick noch Schwierigkeiten, außer man zieht die Hosen hoch und geht durch die Neiße. Nein, wir planen hier und hoffen sehr, die dritte Brücke, eine weitere Fußgängerbrücke errichten zu können, und damit tatsächlich eine Kulturschleife binden zu können, denn wir würden in dem Moment tatsächliche unsere im Mittelalter begonnene Reise am Kaisertrutz beenden können im Gründerzeit-Viertel. "
Es ist das größte Gründerzeitensemble Deutschlands. Auf deutscher Seite gehört die Görlitzer Stadthalle und die Görlitzer Synagoge zu den Brückenparkprojekten, zwei Gebäude, die noch renoviert werden müssen. Hier stehen auch die vielen prächtigen Gründerzeitvillen. Anfang des letzten Jahrhunderts war es üblich, dass wohlhabende Rentiers in die Garnisonstadt Görlitz zogen, um dort ihren Lebensabend zu verbringen. Jetzt hofft die Stadt wieder auf zahlungskräftige Privatiers, die in die vielen leer stehenden Wohnungen ziehen. Görlitz statt Mallorca oder Florida? Es gilt neue Konzepte für die Revitalisierung der Stadt zu finden, auch das soll die Aufgabe der Kulturhauptstadt 2010 sein, sagt Jurymitglied Werner Durth.
" Den Hinweis zu geben, dass hier man kann sagen ein unentdeckter Schatz ist, für den es auch gilt, neue Ideen zu sammeln und in die Welt zu bringen, das hat uns auf den Gedanken gebracht, bewusst auch im Kontrast zu dieser vitalen Stadt Essen und ihrem lebendigen Strukturwandel, diese Aufgabe, Görlitz auch zu einem europäischen Thema zu machen. "
Görlitz und Zgorzelec haben die Evaluierungskriterien für die zweite Phase der Kulturhauptstadtbewerbung sehr genau studiert, und Ulf Großmann und seine Mitstreiter rechts und links der Neiße sind fest entschlossen, sie mit Leben zu erfüllen.
"Da stecken Fragen drin nach Europäisierung unserer Städte, nach Modellen für die Umgestaltung der Städte, der Bewältigung der Strukturprobleme, der demografischen Probleme mit Hilfe kultureller Mittel. Und das war eigentlich der interessante Ansatz für uns und nicht nur das Ziel, ein ganzjähriges Event durchzuführen, sondern wirklich mittelfristiges Entwicklungsziel für beide Städte und im Grunde genommen für die gesamte Region zu werden. "
Lassen sich verloren gegangene Industriearbeitsplätze durch Kultur und Dienstleistungen kompensieren? Das sind in Görlitz existentielle Fragen.
Die Stadt lebte einst vom Handel. Im 19. Jahrhundert wurde Görlitz zu einer bedeutenden Industriestadt. Die Industriearbeitsplätze sind dramatisch zusammengeschrumpft. 17.500 waren es vor der Wende, knapp zweieinhalb Tausend sind geblieben. Andererseits: Architektonisch ist Görlitz eine unzerstörte Stadt. Zerbricht sie nun an ganz neuen, ganz anderen Widersprüchen? Wo liegt das Geheimnis für Wohlstand? Das Laboratorium Görlitz-Zgorzelec muss diese Überlebensfrage klären. Als Kulturhauptstadt 2010 könnte sie das etwas selbstbewusster, einzigartig und stellvertretend für andere Städte tun.