Goat Girl: "On All Fours"

Der Scherbenhaufen, der sich Welt nennt

05:56 Minuten
Die Sängerin schaut auf ihre E-Gitarre und ist in rotes Licht getaucht.
Clottie Cream, Sängerin von Goat Girl bei einem Konzert in London 2018 © imago images / Richard Gray
Von Jessica Hughes · 26.01.2021
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Vier junge Frauen, die sich selbstbewusst die britische Politik und das Patriarchat vorknöpfen: das ist die Band Goat Girl aus London. Doch ihr einst roher Gitarren-Sound mit Country-Einflüssen ist auf dem neuen Album nicht mehr zu hören.
Der galoppierende Rhythmus des Songs "Sad Cowboy" von Goat Girl könnte den perfekten Soundtrack zu einem Spaghetti-Western liefern. Aber mit einem Twist: Hier gibt es nur weibliche Heldinnen, und die öde Prärie verwandelt sich plötzlich in eine bunte Disco-Landschaft. Der raue und düstere Gitarrensound des Debütalbums ist auf dem neuen Album "On All Fours" nicht mehr zu finden.

Raus aus der Schublade des Gitarren-Rock

Goat Girl wurden 2016 als Teil der Szene um den Club Windmill im Londoner Stadtteil Brixton bekannt. Ein Ort, der als Brutstätte eines neuen britischen (und vor allem männlichen) Gitarren-Rocks gefeiert wurde. Holly Mullineaux, die aktuelle Bassistin der Band, erklärt:
"Ich glaube, es gab einfach das Verlangen, aus dieser Schublade herauszutreten, in die Goat Girl als Teil der Windmill-Szene hineingesteckt wurde. Für uns hat es sich natürlich angefühlt, diesmal unterschiedliche Genres aufzugreifen und dafür auch Freundinnen und Freunde zum Mitmachen zu bewegen. Wir wollten mit unserem Sound und unserer Ästhetik als Band spielen."
Nicht verschwunden sind die bissigen Textzeilen von Goat Girl. Schon 2016 lieferte die Band eine direkte Antwort auf das Brexit-Votum: Wie kann eine ganze Nation so dumm sein, sangen sie im Song "Scum". Im neuen Song "Where Do We Go" – übersetzt: Wo geht es nun hin? - fragen Goat Girl, welche Folgen die kopflose Tory-Politik für ihre Heimat haben wird.
Sängerin Lottie Pendlebury beschreibt im Song eine Person voller Hass und Lügen. Der britische Premierminister lieferte die Inspiration, wie Holly Mullineaux trocken erklärt:
"Sie hat sich vorgestellt, wie sie Boris Johnson seziert und diese ganzen ekligen Schichten von ihm auseinandernimmt. So ein bisschen wie in diesem Gesellschaftsspiel Operation, bei dem man Organe entnehmen muss."

Verletzlichkeit, die Stärke beweist

Aufs Album, dessen Songtexte zum ersten Mal von allen Bandmitgliedern geschrieben wurden, haben es diesmal aber auch sehr intime Themen geschafft. Im Song "Anxiety Feels" erzählt Ellie Rose-Davies gefasst, aber ehrlich von dem Ringen mit ihrer Angststörung. "Manchmal ist es einfach schwer", singt sie. Eine Verletzlichkeit, die Stärke beweist.
Das neu hinzugekommene Keyboard prägt den Sound von "On All Fours" und bereichert die vielfältige Mischung auf dem Album: Hier findet man Dub-Einflüsse, Britpop oder groovende Synthieflächen, wie im Song "Bang", die deutlich machen, dass sich Goat Girl keinen Genre-Grenzen unterordnen.
Dem Titel "Jazz In The Supermarket" merkt man an, dass sich Goat Girl nach wie vor für ihr Londoner Umfeld interessieren. Inspiriert ist der Song von der lebhaften jungen Jazzszene.

Self-Care ist der neue Punk

Goat Girl blicken auch auf ihrem zweiten Album immer noch unerschrocken auf den Scherbenhaufen, der sich Welt nennt. Und sie machen dabei deutlich: In einer Zeit wie dieser bedeutet Rebellion nicht zwangsweise Abriss und Zerstörung, die sich für viele immer noch in lauter Gitarrenmusik äußert.
Self-care ist der neue Punk. Die eigenen Ängste zu teilen ist Systemkritik, genauso die Entscheidung, musikalisch allen Erwartungen zum Trotz einen eigenen Weg zu wählen. Der Albumtitel "On All Fours" (Auf allen Vieren) steht dieser Strategie nur scheinbar entgegen.
"Sich auf allen Vieren zu befinden, kann hilflos wirken", sagt Holly Mullineaux, "eine Hilflosigkeit gegenüber allem, was um einen herum passiert. Aber allein diese Erkenntnis hat etwas Ermächtigendes."
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