Glücksspielexperte: Staatsvertrag hat schwere "Konstruktionsfehler"

Moderation: Katrin Heise |
Der Leiter der Forschungsstelle Glücksspiel an der Universität Hohenheim, Tilman Becker, hat den Staatsvertrag zur Reglementierung von Glücksspielen scharf kritisiert. Der Vertrag differenziere nicht ausreichend zwischen gefährlichen und ungefährlichen Glücksspielen, sagte Becker.
Katrin Heise: Ich begrüße jetzt den Leiter der Forschungsstelle Glücksspiele der Universität Hohenheim, Professor Tilman Becker. Schönen guten Tag.

Tilman Becker: Schönen guten Tag, Frau Heise.

Heise: Nun greifen also die Länder in punkto Glücksspielwerbung durch. Ist das richtig so Ihrer Meinung nach?

Becker: Also der Glücksspiel-Staatsvertrag sieht ja ein umfassendes Werbeverbot für Glücksspiel im Fernsehen vor. Vom Verbot sind allerdings nicht umfasst Programmteile, die von der Werbung optisch zu trennen sind, wie die Ziehung der Lottozahlen und Sendungen, die zugelassen werden, die Lotterien zum Gegenstand haben. Das heißt, in dem Augenblick, wo die SKL-Show eine Sendung ist und keine Werbung ist, wäre sie erlaubt, weil sie eine zugelassene Lotterie zum Gegenstand hat.

Heise: Offenbar war sie aber zu viel Werbung.

Becker: Ja, das deutet darauf hin, das Verbot, dass das so bewertet wurde.

Heise: Ist das Ihrer Meinung nach richtig?

Becker: Da muss man ein bisschen weiter ausholen. Der Glücksspielstaatsvertrag soll ja dazu dienen, die Glücksspielsucht einzudämmen und zur Prävention der Glücksspielsucht beizutragen. Nun hat der Staatsvertrag aber einen entscheidenden Konstruktionsfehler, dass er nicht das Automatenspiel mit einbezogen hat. 80 Prozent aller Glücksspielsüchtigen sind automatenspielsüchtig. Das sind die Automaten, die in Spielhallen und Gaststätten stehen. Das ist ein entscheidender Fehler des Glücksspielstaatsvertrags. Der zweite Konstruktionsfehler des Glücksspielsstaatsvertrags ist, dass er nicht deutlich genug differenziert zwischen gefährlichen und ungefährlichen Glücksspielen. Wir haben gefährliche Glücksspiele wie das Automatenspiel, und wir haben vergleichsweise ungefährliche Spiele wie Lotto, und wir haben vergleichsweise beinahe schon harmlose Spiele wie Klassenlotterien. Es gibt kaum Fälle von Klassenlotteriesüchtigen. Wenn Sie sich die Zahlen angucken, so haben wir vielleicht maximal in Deutschland unter 100 Spieler, die Probleme haben mit Klassenlotterien. Wir haben aber 150.000 etwa in dem Bereich Spiele, die Probleme haben mit dem Automatenspiel.

Heise: Dann müsste, wenn es tatsächlich um Schutz geht, eigentlich müsste der Staat die Sparten Spielhallen und Automaten und Internetangebote monopolisieren. Warum geschieht das nicht?

Becker: Spielhallen und Automaten müsste er mit einbeziehen in den Staatsvertrag. Der Staatsvertrag sieht auch vor ein generelles Internetverbot für das Glücksspiel, wo man sich natürlich auch fragen muss, da wäre eine Differenzierung zwischen gefährlichem und ungefährlichem Glücksspiel sicherlich sinnvoll.

Heise: Die staatlichen Lotterien wie Lotto und Glücksspirale, die Sportwetten Toto und Oddset, die SKL, also die Süddeutsche Klassenlotterie, die Norddeutsche Klassenlotterie, auch die Fernsehlotterie-Aktionen Mensch und Ein Platz an der Sonne, auch die staatlichen Kasinos, also alle klagen jetzt inzwischen schon über schwere Einbußen. Gräbt sich da der staatliche Monopolist selbst das Wasser ab im Moment?

Becker: Ja, er gräbt sich einerseits selbst das Wasser ab und er wird eigentlich auch seinem Auftrag, den natürlichen Spieltrieb in geordnete Bahnen zu lenken, nicht gerecht. Beispielsweise bei Sportwetten haben wir die Situation, dass der Marktanteil bei Sportwetten von Oddset, dem einzigen legalen Anbieter in Westdeutschland, nur noch 10 Prozent beträgt. 90 Prozent des Marktes ist illegal. Bei Poker dürften wir ähnlich Verhältnisse haben. Das heißt, durch die starke Regulierung der vergleichsweise harmlosen Spiele wie Lotto und Klassenlotterien, Fernsehlotterien, die staatlich angeboten werden, werden die Leute oder die Spieler natürlich eher in das illegale Angebot gedrängt. Das heißt, der natürliche Spieltrieb wird nicht mehr in geordnete Bahnen gelenkt, sondern er wird praktisch zu sehr reglementiert.

Heise: Sie sagen immer, vergleichsweise harmlos, Kioskbesitzer haben aber auch schon Leute bei Lotto und Toto ihr letztes Geld ja quasi einsetzen sehen.

Becker: Das ist richtig. Man schätzt etwa, dass es zwischen 5000 und vielleicht 30.000 Spieler gibt, die Probleme haben mit dem Lottospiel – aber natürlich im Vergleich zu den zwischen 130.000 und 200.000 Automatenspielern vergleichsweise gering.

Heise: Der Staatsvertrag, Sie haben es gesagt, soll also in geordnete Bahnen den Spieltrieb lenken. Ist das tatsächlich möglich, indem der Staat selber als Glücksspielbetreiber auftritt?

Becker: Ja, er kann natürlich viel besser darauf einwirken, wie das Glücksspielangebot aussieht. Das heißt, es wäre zum Beispiel bei Lotto möglich, Lotterien zu konzipieren, die ein ganz hohes Suchtpotenzial haben, wenn sie im Minutentakt stattfinden und andere Eigenschaften haben, die Eigenschaft zum Beispiel, dass man persönlich involviert ist. Und wir haben ja bei Lotto die geringen Zahlen von pathologischen Spielern, weil es halt nur zweimal in der Woche stattfindet, weil man nicht nachsetzen kann. Das so genannte Chasing-Verhalten ist bei pathologischen Spielern sehr ausgeprägt. Wenn sie Verluste haben, wollen sie gleich nachsetzen und die Verluste kompensieren. Das geht alles bei Lotto schlecht. Und deswegen hat Lotto ja auch ein geringes Suchtgefährdungspozential. Beim Automatenspiel, wenn man verliert, kann man gleich nachsetzen.

Heise: Aber wenn man zum Beispiel in staatlichen Kasinos sein Geld verzockt, dann wird man doch nicht weniger süchtig als beim privaten Anbieter.

Becker: Nein, das ist richtig. Aber das Angebot wird beschränkt durch die Kasinos. Wir haben nicht an jeder Ecke ein staatliches Kasino. Das heißt, die Spieler müssen dahin fahren, dann können Sie sich sperren lassen, das heißt sie können sich eine Selbstsperre verfügen, dann sind sie in allen Kasinos in Deutschland gesperrt. Das heißt, wenn sie sagen, ich habe Probleme damit, ich möchte mich sperren lassen, ich möchte das nicht mehr, ich kann selber damit nicht anders umgehen als mit der Sperre, dann können sie sich in Kasinos sperren lassen, in Automatensälen nicht. In Kasinos wird bei der Eingangskontrolle das Alter abgefragt, in Automatensälen nicht.

Heise: Der Staat ist aber trotzdem in einer gewissen Zwickmühle, wenn er als Veranstalter eben auftritt. Er steht nach wie vor im Verdacht, einerseits die Spielsucht eben doch zu fördern, weil er eben was anbietet, andererseits die Kanalisierung des Spieltriebs vielleicht auch nur vorzutäuschen, um eben selbst weiter Kasse machen zu können. Wie kommt er aus dieser Zwickmühle raus, aus diesem schlechten Image?

Becker: Er muss den Bereich umfassend regeln und im Sinne einer sinnvollen Prävention regeln. Das heißt, die Glücksspiele, die sehr gefährlich sind, müssen stark reguliert werden und die Glücksspiele, die vergleichsweise ungefährlich sind wie Lotto, die müssen schwach reguliert werden. Das heißt, es ist nicht einzusehen zum Beispiel, warum man nicht seinen Lottoschein im Internet abgeben kann. Davon wird keiner süchtig. Es ist aber natürlich einzusehen, dass man nicht im Internet nun wild in Kasinos spielen kann und Roulette spielen kann und im Internet um Geld pokern kann. Und dementsprechend muss man das Internetverbot abstufen und dementsprechend muss man auch das Werbeverbot abstufen. Man kann nicht alle über einen Kamm scheren. Man kann nicht Klassenlotterien so behandeln, als ob sie dann hochgefährliches Glücksspiel seien.

Heise: Also die Freigabe des Glücksspielmarktes kann keine Lösung sein.

Becker: Nein, ich denke mal, das ist keine Lösung, weil dann hätten wir eine Reihe von Glücksspielformaten, die ein hohes Suchtgefährdungspotenzial haben. Das heißt, es ist schon sinnvoll, dass der Staat diesen Bereich reguliert. Aber er muss es halt differenziert tun.

Heise: Dieses Regulieren sieht häufig nach schlechtem Gewissen aus. Ihre eigene Forschungsstelle beispielsweise bekam oder bekommt auch immer noch Lotto-, Toto-Gelder. Da hat man das Gefühl, auf der einen Seite lässt man die Leute spielen, um eben auch Geld zu bekommen, auf der anderen Seite erforscht man ihr Spielverhalten.

Becker: Ja sicher, ich erforsche ja das Spielverhalten, das ist ja mein sozusagen akademischer Auftrag, als jemand, der sich mit Verbraucherverhalten und Konsumforschung beschäftigt, erforsche ich das Spielverhalten. Es ist nicht richtig, dass es die Forschungsstelle Glücksspiel gibt, es gibt eine Stiftung, einen Verein, in dem jeder Mitglied werden kann. Es ist richtig, dass zum Beispiel die staatliche Lotto-Toto Mitglied in dem Verein ist, in dem Förderverein, aber sie können gar kein Einfluss nehmen darauf, was für eine Arbeit wir tun.

Heise: Der Leiter der Forschungsstelle Glücksspiele der Universität Hohenheim, Tilman Becker. Herr Becker, ich danke Ihnen ganz herzlich für dieses Gespräch.

Becker: Bitte schön, Frau Heise.