Glückslehrer aus Bhutan

Glück und Meditation als Schulfach

Ein indischer Händler im Bundesland Assam zeigt Geldscheine aus Bhutan.
Ist unser Wirtschaftssystem Ursache allen Übels? Ein Händler zeigt seine bhutanischen Geldscheine. © epa / dpa / Str
Von Gerhard Richter · 02.01.2017
Laut Verfassung ruht das Glück der Bhutanesen auf vier Säulen: gerechte wirtschaftliche Entwicklung, Förderung einer guten Regierungsführung, Bewahrung traditioneller Werte, Schutz der Umwelt. In den Schulen wird auch Glück gelehrt nach Lehrplänen, die Dr. Ha Vinh Tho mitentwickelt.
"Jeder Mensch wünscht sich irgendwie, es gibt irgendwo einen Platz auf der Erde, wo alles perfekt ist, so wie ein Paradies. Weil, wir sehnen uns danach, nach dem irdischen Paradies." - Ha Vinh Tho hat vorübergehend ein kleines Paradies gefunden. Er ist bei Hamburger Freunden in einer Villa zu Gast, vor ihm auf einem großen Holztisch dampft ein Glas Tee. Eine Projektgruppe für Immobilien hat ihn als Berater angefragt. Hier in Hamburg soll er helfen, eine Wohnsiedlung zu gestalten.
"Sie wollen autofreie Straßen haben. Sie wollen versuchen, dass Grünanlagen da sind, genügend Plätze, wo die Menschen sich begegnen können und treffen können", sagt Ha Vinh Tho. Dabei ginge es um die Frage, wie sich ein öffentlicher Raum so gestalten lasse, "dass er den Menschen hilft, ein sozialeres Leben, ein Gemeinschaftsgefühl zu haben".

"Kann man Entwicklung, Fortschritt, Wachstum anders denken?"

Seitdem Ha Vinh Tho das "Gross National Happiness Center" in Bhutan leitet, gilt er als Fachmann für Glück. Der 65-Jährige wirkt zurückhaltend und freundlich. Er hat kurze graue Haare, ist gut gebräunt und hat wachsame Augen. Seine Finger spielen mit den hölzernen Kugeln einer Meditationskette. Seine Mutter stammt aus Frankreich, sein Vater ist ein vietnamesischer Diplomat. Als Kind hat er acht Schulen in acht Ländern besucht. "Ich selber fand das sehr interessant und angenehm, immer etwas Neues zu entdecken", erinnert sich Ha Vinh Tho. "Das ist also mehr so, wie man sich dazu verhält. Ich hab das immer gern gehabt, viel zu reisen, und ich reise heute noch sehr viel."
Acht Monate lebt der leidenschaftliche Bergwanderer mit seiner Frau in Bhutan, zwei Monate in der Schweiz. Den Rest des Jahres ist der praktizierende Buddhist und Zen-Meister in Sachen Glück unterwegs, berät Unternehmen und Regierungen und hält Vorträge. Angefangen hat Ha Vinh Tho als Waldorflehrer und Heilpädagoge, dann hat er Erziehungswissenschaften studiert. Für das Internationale Rote Kreuz leitete er jahrelang die Ausbildung der Krisenhelfer, in Kriegsgebieten hat er selbst viel menschliches Leid und Zerstörung erlebt. Dort wurde ihm bewusst, dass Gewaltausbrüche nur die Spitze des Eisberges sind, die Ursachen dafür viel tiefer liegen: Er sieht vor allem in dem jetzigen Wirtschaftssystem einen der Hauptgründe für Gewalt. "Eine strukturelle Gewalt ist in dieses Wirtschaftssystem wie eingebaut", meint der Glücksfachmann. Und dies führe zu sehr viel Ungerechtigkeit. "Es ist ein System, das die Unterschiede stärkt, anstatt zu lindern. Und es war die Frage, kann man Entwicklung, Fortschritt, Wachstum anders denken."

Das Glück der Bhutanesen ruht auf vier Säulen

Genau das versucht er in Bhutan - einem Bergland, das so klein ist wie die Schweiz, aber großes Entwicklungspotenzial hat. Nur wenige Straßen führen durch das Land, Fernsehen gibt es erst seit 1999, die Landwirtschaft ist noch traditionell, die Natur noch intakt. Laut Verfassung ruht das Glück der Bhutanesen auf vier Säulen: gerechte wirtschaftliche Entwicklung, Förderung einer guten Regierungsführung, Bewahrung traditioneller und kultureller Werte, Schutz der Umwelt. Äußerst wichtig ist deshalb die Bildung. Selbst im hintersten Himalaya-Tal Bhutans gibt es eine Schule. Und dort wird auch Glück gelehrt. Nach den Lehrplänen, die Dr. Ha Vinh Tho mitentwickelt. In den Schulen in Bhutan werde Beispielsweise täglich meditiert, sagt Ha Vinh Tho. "Wir achten darauf, dass auch nicht nur akademische Fähigkeiten, sondern auch soziale und emotionale Fähigkeiten entwickelt werden, in den Schulen. Wir versuchen, ein Schulsystem aufzubauen, wo eben Kooperation stärker ist als Kompetition und so."

Entfremdung von uns selbst schreitet voran

Glück ist lernbar, auch das ist eine Botschaft, die Dr. Ha Vinh Tho in die Welt hinausträgt. In seinem Buch "Grundrecht auf Glück" widmet er diesem Aspekt gleich mehrere Kapitel. Seine These: Es sind nicht nur die äußeren Umstände, die über Glück und Zufriedenheit entscheiden, sondern die innere Haltung. Die Menschen, sagt Ha Vinh Tho, erleben eine fundamentale Entfremdung von der Natur, von den Mitmenschen und am gravierendsten, von sich selbst: "Die Tatsache, dass gerade in den entwickelten Gesellschaften Burn-out oder Depression so gravierend sind, sind ja äußere Zeichen für das Gefühl, dass das Leben irgendwie sinnlos ist, obwohl man es vielleicht sogar geschafft hat, äußerlich, materiell. Und trotzdem fühlt man eigentlich keine tiefe Zufriedenheit. Und das ist diese Entfremdung von uns selber."
Ha Vinh Tho meditiert täglich mindestens eine halbe Stunde. Das gibt ihm Kraft und Zuversicht für seine ganz konkrete Arbeit in der bhutanesischen Realität, in der noch lange keine paradiesischen Zustände herrschen: "Auch Bhutan hat seine Probleme", räumt Ha Vinh Tho ein. "Aber: das Experiment, was dort durchgeführt wird, ist ein Experiment, von dem alle Länder etwas lernen können."
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