Glückliche Fügung eines Schicksalsschlages

Rezensiert von Kolja Mensing · 20.12.2005
Ein Mann verliert fast alles buchstäblich über Nacht: sein Haus, seine Familie, seine Firma und sein Augenlicht. Doch dann gerät der vermeintliche Schicksalsschlag zu einer glücklichen Fügung. Auf dem Flur des Krankenhauses trifft er auf Mara, eine Frau, mit der er vor vielen Jahren mal eine Nacht verbracht hat.
Ein Mann erblindet über Nacht. Der Arzt diagnostiziert "eine drastische Entzündung der Netzhaut" und macht seinem Patienten nur wenig Hoffnung auf Besserung. Doch dann gerät der vermeintliche Schicksalsschlag zu einer glücklichen Fügung. Auf dem Flur des Krankenhauses trifft der namenlose Erzähler auf Mara, eine Frau, mit der er vor vielen Jahren einmal eine Nacht verbracht hat. Sie nimmt ihn mit auf die kleine Insel, auf der sie lebt. Er habe "sein Augenlicht gegen Mara getauscht", bemerkt der Erzähler, und wenn die beiden gemeinsam am Strand sitzen, und sie ihm das Blau des Himmels beschreibt, scheint das Glück perfekt zu sein.

Zumindest fast. Es sei "ein Tag ohne Bedrohung", so beginnt Jan Costin Wagner neuer und nunmehr dritter Roman, doch bereits wenige Absätze später wird die Aussage relativiert: "Es ist der Tag, an dem Katastrophen fern liegen, es sei denn, sie sind bereits passiert." Und genau darum geht es in "Schattentag", um das, was bereits geschehen ist. Immer mehr Erinnerungen an ein früheres Leben tauchen aus dem Dunkel der Vergangenheit auf, während die ersten Wolken aufziehen und der gerade noch blaue Himmel sich langsam schwarz färbt. Schon bald gewinnt man den Eindruck, dass die Blindheit des Erzählers möglicherweise nichts anderes ist als die Weigerung, dem eigenen Leben ins Auge zu sehen.

In seinem extrem erfolgreichen Debüt "Nachtfahrt" (2002) und dem Nachfolger "Eismond" (2003) hatte Jan Costin Wagner mit Motiven der Romantik gespielt, mit Doppelgängerfiguren, Wahnvorstellungen und dunklen Vorahnungen. Auch sein neuer Roman ist ein Nachtstück geworden, in dem der 1972 geborene Schriftsteller nicht nur die düsteren Schatten eines einzigen Tages, sondern eines ganzen Lebens vorbeiziehen lässt. Es ist eine typische Vorortsiedlung, in der der Erzähler vor seiner angeblichen Erblindung als erfolgreicher Inhaber einer Werbeagentur mit Frau und Kind in einem "weißen, sauberen Bungalow" gelebt hat, mit malerischem Garten und freundlichen Nachbarn. Mit der gleichen Akribie, mit der er dieses Idyll schafft, zerstört Jan Costin Wagner es dann wieder: Auch wenn der Erzähler glaubt, seine regelmäßigen Bordellbesuche "eigentlich gut im Griff zu haben", dauert es nicht lange, bis es zur Katastrophe kommt.

Die literarische Kälte, mit der Jan Costin Wagner das Bild einer glücklichen Familie einfriert, ist atemberaubend, genauso wie die Perfektion, mit der er die unterschiedlichen Handlungsebenen in "Schattentag" ineinander überführt - und seinen nur mit wenigen Strichen gezeichneten Erzähler manchmal sogar von einem Halbsatz zum nächsten die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit überqueren lässt. Und so ist das einzige, was man an diesem zutiefst abgründigen Roman kritisieren möchte, der Schluss. Zuletzt führt Jan Costin Wagner seine Leser dann nämlich doch etwas sehr beiläufig wieder aus dem Romanlabyrinth heraus. Nicht dass es besonders schön darin gewesen wäre, ganz im Gegenteil: Es war schrecklich! Aber dennoch wäre man gerne noch etwas geblieben.


Jan Costin Wagner:
Schattentag

Eichborn Berlin,
Frankfurt am Main 2005
185 Seiten, 17,90 Euro.