Glücklich, wer solche Verfassungsrichter hat

Von Peter Lange, Chefredakteur Deutschlandradio Kultur · 15.09.2012
Ein paar Tage haben wir uns wohlig gegruselt in der Lust am Untergang. Aber uns gleichzeitig gegenseitig versichert: Das können die in Karlsruhe doch nicht machen. Die müssen doch die Folgen bedenken. Nun: Der schwarze Mittwoch hat nicht stattgefunden, der Untergang Europas ist vertagt.
Bei Lichte betrachtet und mit dem Abstand von drei Tagen ist dem Bundesverfassungsgericht ein heikler Drahtseilakt geglückt. Es hat eine brisante, hochpolitische Frage auf ihren verfassungsrechtlichen Kern reduziert und trotzdem die möglichen politischen Folgen im Blick behalten. Und der Kern ist verblüffend schlicht: Für die deutsche Strategie zur Euro-Rettung mit all ihren denkbaren Risiken ist die Bundesregierung und die sie tragende parlamentarische Mehrheit zuständig. Es ist der Bundestag, der letztlich entscheidet, wie sich Deutschland am Europäischen Rettungsschirm beteiligt und welche Haftungsrisiken dabei eingegangen werden sollen.

Damit haben die Karlsruher Richter einmal mehr den Bundestag in seinen Beteiligungsrechten gestärkt. Und sie haben der Versuchung widerstanden, die demokratisch gewählte Volksvertretung aus ihrer Verantwortung zu entlassen. An ihr ist es vor allem, den Wählerinnen und Wählern zu vermitteln, warum es notwendig und gerechtfertigt ist, diese Risiken einzugehen. Und da liegt nach wie vor der Kern des Problems. Solange sich die Verantwortlichen für die Euro-Rettung in Regierung und Parlament ständig von den Populisten und den Stammtisch-Strategen in die Defensive drängen lassen; solange wird die Unsicherheit bleiben, die ständig neue Krisenherde erzeugt, auf die wieder mit neuen Interventionen reagiert werden muss.

Die Europäische Union ist eine Wettbewerbsgesellschaft. Das gilt für die innere Verfassung der einzelnen Länder ebenso wie für die Konkurrenz der 27 Länder untereinander. Jeder Wettbewerb hat Gewinner und Verlierer. In Deutschland werden die negativen Folgen des Wettbewerbs abgefedert durch staatliche Transferleistungen – die Wettbewerbsverlierer sollen nicht ins Bodenlose fallen; die soziale Marktwirtschaft sichert den sozialen Frieden und damit eine Grundbedingung für Prosperität. Nicht anders wird auf Dauer die Europäische Union funktionieren.

Es ist nicht nur ethisch geboten, sondern liegt im Interesse aller, dass die Kluft zwischen Arm und Reich nicht systemsprengend wird. Von einer Staatengruppe im Süden, in denen über mehrere Jahre Verhältnisse wie in der Endphase der Weimarer Republik herrschen, gehen weit größere Gefahren und Risiken aus als von den Bemühungen, diesen Ländern in der Krise beizustehen. Und nur nebenbei: Man mag sich gar nicht vorstellen, wie ein massenhafter Strom verzweifelter Arbeitsmigranten in den Norden Arbeits- und Wohnungsmärkte unter Druck setzen kann.
Wenn die Krisenländer in der EU wettbewerbsfähiger werden sollen, dann brauchen sie dafür Zeit – zur Sanierung der Haushalte, zur Schuldentilgung und zu wirtschaftlichen und sozialen Reformen. Mit dem Rettungsschirm wird diese Zeit gekauft. Und es muss klar sein, dass danach andere Länder im Wettbewerb weniger erfolgreich sein werden. Europa wird das Auf und Ab dieser kommunizierenden Röhren nur ertragen, wenn es die Grundidee der sozialen Marktwirtschaft über alle Länder hinweg akzeptiert. Der Stärkere hat mehr Lasten zu tragen als der Schwächere. Er sollte einsehen, dass das um des sozialen Friedens willen sinnvoll und richtig ist. Anders kann Gemeinschaft nicht funktionieren, weder von Menschen noch von Staaten.

Es wäre die Aufgabe der politischen Eliten, insbesondere der gewählten Volksvertreter, dies mit aller Energie zu kommunizieren, ohne dabei die Risiken zu verschweigen. Sie sind da, sie sind beträchtlich, und eine Erfolgsgarantie gibt es nicht. Die gab es übrigens auch nicht, als die USA nach dem Zweiten Weltkrieg den Marshallplan für Europa auflegten. Die Begeisterung der Amerikaner, ausgerechnet dem ehemaligen Kriegsgegner auf die Füße zu helfen, hielt sich in Grenzen. Zumal auch nicht ausgemacht war, ob dieses zerstörte Deutschland nicht ein Fass ohne Boden sein würde. Der Marshall-Plan wurde eine Erfolgsgeschichte. Daran sollten wir hin und wieder denken, wenn wir darüber reden, ob es sich überhaupt lohnt, Ländern wie Griechenland oder Portugal, Italien oder Spanien zu helfen. Jawohl: Europa ist jetzt für längere Zeit auch eine Haftungsunion, und das ist gut so. Und wenn es durch diese Krise auch zu einer sozialen und eindeutig demokratischen Union werden sollte, um so besser.
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