"Glücklich machendes Buch"

01.09.2010
Die bissige Satire von Michail Bulgakow "Meister und Margarita" auf die Bürokratie im Moskau der 30er-Jahre könne einem zu einem besseren Menschen machen, sagt Alina Bronsky in unserer Reihe "Europäischer Kanon".
Jürgen König: Mit einem Klassiker aus Russland geht unsere Sommerreihe über einen europäischen Literaturkanon heute zu Ende: "Der Meister und Margarita" von Michail Bulgakow. Er schrieb ihn von 1928 bis zu seinem Tod 1940. Als er nicht mehr schreiben konnte, diktierte er seiner Frau Jelena. Erst 1966, also 26 Jahre später, erschien das Buch in Fortsetzungen in der Literaturzeitschrift "Moskwa" in einer Auflage von je 150.000 Exemplaren, die immer innerhalb von wenigen Stunden ausverkauft waren. Nicht wenige Leser sollen den Roman auswendig wiedergegeben haben, so wird es berichtet. "Der Meister und Margarita", das ist eine fantastische Abenteuergeschichte, eine Liebesgeschichte, eine philosophische Parabel über das Wesen von Gut und Böse, über die Macht der Kunst, über die Ohnmacht der Künstler, eine Satire, eine Groteske über die russische Bürokratie, die jeden freiheitsliebenden Menschen in den schieren Wahnsinn treibt – und ist auch eine Parodie von Goethes "Faust". Hören wir einen Ausschnitt:

"Margarita Nikolaewna hatte keine Geldsorgen. Margarita Nikolaewna konnte sich alles kaufen, was ihr gefiel. Unter den Bekannten ihres Mannes waren interessante Leute. Margarita Nikolaewna hatte noch nie einen Primuskocher angerührt. Margarita Nikolaewna wusste nichts von den Schrecken einer Gemeinschaftswohnung. Kurzum: War sie glücklich? Keine Minute lang. Seit sie als 19-Jährige geheiratet und die Villa bezogen hatte, kannte sie kein Glück. Oh, ihr Götter, ihr Götter! Was wollte denn diese Frau? Was wollte diese Frau, in deren Augen ständig ein rätselhaftes Flämmchen brannte? Was brauchte diese ganz leicht auf einem Auge schielende Hexe, die sich damals im Frühling mit gelben Mimosen geschmückt hatte? Ich weiß es nicht. Ich habe keine Ahnung. Offenbar sagte sie die Wahrheit. Sie brauchte ihn, den Meister. Keineswegs aber die gotische Villa, den abgeschlossenen Garten, das Geld. Sie liebte ihn. Sie sagte die Wahrheit."

König: In unserer Sommerreihe über einen europäischen Literaturkanon ein Ausschnitt aus dem Roman "Der Meister und Margarita" von Michail Bulgakow. Den hat Alina Bronsky für unseren Literaturkanon vorgeschlagen. Alina Bronsky wurde 1978 im russischen Jekaterinburg geboren, wuchs später auf in Marburg und Darmstadt. Ihr Debütroman "Scherbenpark" erschien 2008 bei Kiepenheuer & Witsch, wie auch ihr neuer Roman, "Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche", der wurde gerade für die Longlist zum Deutschen Buchpreis nominiert. Frau Bronsky, ich grüße Sie!

Alina Bronsky: Guten Tag!

König: "Der Meister und Margarita", wann sind Sie zum ersten Mal mit diesem Roman in Berührung gekommen?

Bronsky: Ich muss gestehen, ich war sehr jung. Als ich so zehn, zwölf war, war ich sehr stolz drauf, Erwachsenenbücher zu lesen, das hat sich inzwischen sehr gewandelt. Ich glaube, ich war zwölf, als ich das erste Mal anfing, dieses Buch zu lesen.

König: Können Sie die Leute verstehen, die 1966 das ganze Buch oder zumindest Passagen daraus auswendig konnten?

Bronsky: Oh ja, absolut. Ich muss gestehen, auch ich war versucht, Passagen auswendig zu lernen. Ich habe das damals überhaupt nicht begriffen. Ich glaube, das ist wirklich die Schönheit der Sprache und auch die Lakonie des Ausdrucks, sodass ich auch praktisch noch als Kind davon hingerissen war und sie gerne so nachgeplappert habe auswendig.

König: Mögen Sie versuchen, mal den Inhalt von "Meister und Margarita" wiederzugeben?

Bronsky: Das ist eine sehr anspruchsvolle Aufgabe.

König: Ich weiß.

Bronsky: Genau, Sie haben ja schon angedeutet, wie vielschichtig dieser Roman ist. Also es gibt drei Handlungsstränge: Zum einen, der sozusagen reale Strang besteht daraus, dass der Teufel nach Moskau kommt und dieses bürokratische 30er-Jahre-Moskau kräftig aufwirbelt – also eigentlich ist der Teufel einer der sympathischsten Gestalten in diesem Buch. Dann gibt es eine Liebesgeschichte zwischen einem armen Künstler, der sich Meister nennt, und der Margarita, der Titelgebenden. Und dann gibt es noch so Einschübe aus einem nacherzählten Neuen Testament, also wo man praktisch die letzten Tage Jesu nacherzählt sehr lebhaft, und am Ende oder auch vorher schon erschließt sich, diese Teile kommen aus dem Roman des Meisters, also aus dem Lebenswerk dieses Künstlers, der nicht sehr oft auftaucht, aber eine auch nicht nur Titelgebende, auch eine tragende Gestalt ist in der Geschichte.

König: Und als Sie das das erste Mal gelesen haben, als was vor allem, als Satire, als Liebesgeschichte vielleicht – für das junge Mädchen Alina, dass sie da das am faszinierendsten fand?

Bronsky: Ja, da haben Sie recht, die Liebesgeschichte hat mich sehr interessiert, und ich konnte auch schon über diese Satire sehr lachen. Das Buch fand ich damals schon sehr witzig. Diese Jesusgeschichte, der im Roman Jeschua heißt, hat mich am wenigsten interessiert. Und das Tolle an diesem Buch wie an vielen guten Büchern ist ja, man liest es immer wieder, und dann vertieft man sich hinein und dann werden auch andere Dinge interessant. Also zum Beispiel heute als Erwachsene ist vielleicht der Jesusteil für mich, wird immer wichtiger, wenn ich über diesen Roman nachdenke.

König: Warum?

Bronsky: Der ist am schwierigsten zu interpretieren, und es ist sehr spannend, darüber nachzudenken. Also es gab sogar die Deutung irgendeines russisch-orthodoxen Kirchenmannes, dass der Teufel den Meister beauftragt, das Neue Testament neu zu schreiben und ihn dafür mit, nicht mit Anerkennung, aber mit Ruhe belohnt, nach der sich dieser Meister sehr sehnt, denn er wird verfolgt und terrorisiert vom System. Das finde ich wahnsinnig spannend, darüber nachzudenken.

König: Michail Bulgakow kämpfte im Bürgerkrieg auf der Seite der Weißen Garden, also gegen die Anhänger der Oktoberrevolution. Seine Kritik zuzeiten Stalins richtete sich weniger gegen den Diktator als gegen das bürokratische System. Das war sozusagen das, worauf diese bissige Satire abzielte: das bürokratische System der Sowjetunion. Nun wurde Bulgakow ja selber von der stalinistischen Bürokratie und auch der Zensur arg gebeutelt, er wusste, was es heißt, als Schriftsteller gedemütigt zu werden. Ist das auch ein Racheroman?

Bronsky: Das würde ich nicht sagen, dafür ist es ein viel zu helles, viel zu großartiges, glücklich machendes Buch. Wenn man sich rächen will, kommt so was nicht zustande. Das ist ein Buch, was einen – das ist jetzt, ich weiß, das ist eine sehr pathetische Formulierung – zu einem etwas besseren Menschen machen kann, wenn man sich richtig hineinvertieft. Und es ist ein großer Verdienst von Bulgakow, dass er sein Leid eben nicht in Form von Rache verarbeitet hat, sondern – also sprichwörtlich – so verarbeitet hat, dass so was großartig Helles rausgekommen ist.

König: Aber er hat die letzten zwölf Jahre an diesem Buch geschrieben, und er hat für die Schublade geschrieben.

Bronsky: Ja, das ist das Sensationelle dran, und deswegen ist ja auch der Begriff des Künstlers auch für mich als Autorin inzwischen sehr spannend, der auch in diesem Roman so auseinandergenommen wird: Wie sehr darf man an sich glauben oder muss auch an sich glauben, und wie wenig oder wie sehr darf man auf Rückmeldung von außen angewiesen sein, um wirklich große Kunst zu vollbringen? Also Bulgakow hat es ja vorgemacht, Sie haben es ja schon erwähnt, der hat auf dem Todesbett noch seiner Ehefrau Korrekturen diktiert, und dann hat es immer noch sehr lange gedauert, bis das Buch überhaupt erste Leser fand. Und das ist ein Meisterwerk, das bis heute – also in Russland – Generationen von Lesern prägt.

König: Der Teufel, der Meister, Margarita – als werden diese Figuren heute in Russland gesehen?

Bronsky: Ich muss sagen, so die ganz aktuelle Deutung verfolge ich nicht mehr, das finde ich nicht mehr so spannend – höchstens diese kirchlich-religiösen Interpretationen, von denen ich ja eine skurrile schon erwähnt habe. Ich glaube, es geht immer noch um Menschen und um Macht. Der Teufel ist ja einer der mächtigsten Personen, und es gelingt Bulgakow nicht, diesen Teufel unsympathisch darzustellen. Eigentlich ist der Teufel ein Handlanger von einem sehr guten Gott. Ja, da kann man sich lange den Kopf drüber zerbrechen ...

König: Also die berühmte Kraft, die stets das Böse will ...

Bronsky: Genau!

König: ... und doch das Gute schafft, wie es bei Goethe heißt.

Bronsky: So ist es, ist auch dem Roman vorangestellt, das Zitat, und ich glaube, kein Zitat kann es besser beschreiben als dieses.

König: Wobei das ja auch schon ein Ausmaß an Ironie bedeutet, den Teufel als etwas Gutes nach Moskau kommen zu lassen, sozusagen als ein Gegenbild der dort herrschenden Bürokratie.

Bronsky: Ja, der steht eben für die Macht. Das ist die Macht des vermeintlich Bösen, die aber dieses Kleinliche, Zerstörerische bekämpft, von dem Moskau in dieser Zeit so zerrissen wurde, dieses Bürokratische, dieser Kleinterror, der einfach Menschen das Leben unmöglich gemacht hat.

König: Und auch mancher heutige Russe wird diese Kritik als sehr passend empfinden.

Bronsky: Die Zeiten haben sich schon sehr verändert, aber klar, das Gegenüberstellen eines Individuums gegenüber einem System, das sehr ungnädig ist, das sehr willkürlich ist, das hat durchaus noch eine Aktualität.

König: Sie haben diesen Roman, Frau Bronsky, vorgeschlagen für unseren europäischen Kanon, eine etwas vielleicht alberne Frage, aber sei es drum: Warum sollte ein Europäer diesen Roman unbedingt kennen?

Bronsky: Es gibt einen sehr einfachen Grund: Das ist ein großartiges Buch. Ich glaube, die deutsche Übersetzung ist auch ziemlich gut, also ich hatte nur flüchtig reingeschaut. Es ist große Weltliteratur aufgrund ihrer literarischen Qualität. Es gibt natürlich ein Zeitpanorama, was da eine große Rolle spielt, was den Europäern – also ich sehe da jetzt keinen politischen, aufklärerischen Auftrag sozusagen – jedem Europäer das Russland der 30er-Jahre vertraut zu machen, darum geht es nicht, aber es gibt auch sehr viele ewige Themen, über die wir schon gesprochen haben, eben die Macht, die Kunst, die Unterdrückung, auch die Auseinandersetzung mit der Bibel – da kann man sehr viel drin finden.

König: Ist Bulgakow auch schriftstellerisch ein Vorbild vielleicht nicht oder auch doch für Sie?

Bronsky: Vorbild nicht, ich würde niemals nacheifern wollen ...

König: Ich habe selber schon gezögert bei dem Wort, aber so, dass man doch sagt, da ist jemand, der hat eine solche Trickkiste, sagen wir es mal so, schriftstellerischer Art, da kann ich schon das ein oder andere mir rausholen.

Bronsky: Ich glaube, Bulgakow nachzumachen oder von ihm zu lernen, ist wirklich nahezu unmöglich, also dafür ist er für mich einfach zu groß, und es ist zu schwer zu sagen, also sein Handwerk zu entschlüsseln, das bringt nicht viel, das kommt wirklich von seiner inneren Größe, von seiner unglaublichen Meisterschaft. Also das ist ein Buch, da lernt man nicht draus, das hat man zu genießen, würde ich sagen.

König: In unserer Sommerreihe über einen europäischen Literaturkanon stellte Alina Bronsky den Roman "Der Meister und Margarita" von Michail Bulgakow vor. Es gibt viele Taschenbuchausgaben auch in verschiedenen Verlagen. Der neue Roman von Alina Bronsky ist erschienen bei Kiepenheuer & Witsch, "Die schärfsten Gerichte der tatarischen Küche". Frau Bronsky, ich danke Ihnen!

Bronsky: Danke schön!