Glück und Unglück im Zeitraffer
Die dänische Kleinstadt Viborg ist Handlungsort von Peer Hultbergs Roman „Die Stadt und die Welt“. Der Leser lernt im Schnelldurchlauf die Biografien der Viborger kennen. Rasch wird von der Wiege zur Bahre geschritten, von der Schulbank ins Altersasyl – und die Stadt wird zur Weltbühne.
Viborg ist eine Kleinstadt im dänischen Jütland, ein Sitz von Verwaltung und Gerichtsbarkeit – überschaubar genug, um einen sozialen Wahrnehmungskosmos zu bilden. Niemand wird hier übersehen, will sagen: Jeder ist dem öffentlichen Blick ausgeliefert und muss sich der kollektiven Urteilskraft des Klatsches stellen. Die Stadt steht für die Welt, der Erzähler erteilt ironisch den Segen „urbi et orbi“.
Peer Hultberg, 1935 in Kopenhagen geboren und 2007 gestorben in Hamburg, war ein Sammler von Stimmen. Auf nicht weniger als 537 bringt es sein Buch „Requiem“, mit dem er vor Jahrzehnten bekannt wurde, jeder ein kleines Kapitel gewidmet. „Die Stadt und die Welt“ wirkt dagegen fast zurückhaltend: „Roman in hundert Texten“ lautet der Untertitel.
Das in Erstausgabe 1992 erschienene Buch, das inzwischen als ein Hauptwerk der neueren dänischen Literatur gilt, schlägt in jeder dieser Episoden eine neue, auf vier oder fünf Seiten geschilderte Biografie auf. Am Ende sind es etwa 300 Figuren, mit denen es der Leser zu tun bekommt – eine Herausforderung.
Man lernt einen Viborger nach dem anderen kennen: Honoratioren und Verfemte, Erfolgreiche und Versager, brave oder bigotte Bürger, Gerichtsräte und Kartoffelgroßhändler, nach Hamburg oder Kopenhagen aufgebrochene und später zurückgekehrte Provinzgenies, ewig chancenlose Arbeiter und Waschfrauen. Rasch wird von der Wiege zur Bahre geschritten, von der Schulbank ins Altersasyl.
Mit angezogenem Tempo werden berufliche Karrieren absolviert, Familien gegründet, dann entwickelt sich meist alles ganz anders als erwartet: Kränkungen und Krankheiten, Familienzerwürfnisse und enttäuschte Hoffnungen, und alles läuft aufs Sterben zu, alle paar Seiten. Dieses überbordende Buch ist ein gespenstischer Tanz der lebenden Toten.
Die Lektüre erfordert mehr Konzentration als sonst für Romane üblich. Beschreibung findet sich auf den 475 Seiten kaum. Man erfährt nur selten, wie die für ein paar Minuten auf die Bühne gestellten Menschen aussehen, etwa wenn jemand besonders kleinwüchsig ist, was für seine Biografie entscheidende Bedeutung hat. Wenige hinterlassen tiefere Spuren im Lesergedächtnis – dazu gehört die feine Dame, die auch ihren Mitbürgern als krankhafte Kleptomanin in Erinnerung bleibt.
In der dritten Person wird berichtet, aber die Stimme ist nicht die eines distanzierten Erzählers. Viele Sätze Hultbergs klingen alltagssprachlich, nach innerem Monolog oder erlebter Rede. Aber wer ist es, der da redet? Gelegentlich finden sich die Pronomen „wir“ und „uns“ im Textfluss. Es ist demnach eine Art gesellschaftliches Über-Ich, das die Tonlage vorgibt – eine kollektive Gemeinschaftsstimme aller wohlanständigen Viborger, auch in ihrer Komik treffend übersetzt von Angelika Gundlach.
Eine Spur des ironisch vorgeführten Moralisierens zieht sich durch das Buch. Immer wieder macht sich Standesdünkel geltend, erweisen sich Klassenschranken als unüberwindlich. Glücklich, wer sich „besserer Herkunft“ rühmen kann, wobei es meist die kleinen Unterschiede sind, die zählen.
Obwohl die geschilderten Schicksale vom Beginn des 20. Jahrhunderts über die Nazi-Besatzung Dänemarks bis fast bis in die Gegenwart reichen, hat man den Eindruck einer in überkommenen Moralvorstellungen fixierten Welt – kennzeichnend, dass es noch so etwas wie „gefallene Mädchen“ gibt und die Ehefrauen zumeist als Anhängsel ihrer Gatten apostrophiert werden, sofern deren Beruf das halbwegs hergibt: „Frau Oberarzt Leif T. Vestervang“ oder gar „Frau ehemaliger Drogerie- und Farbenhandelsverkäufer Holm Jorgensen“.
Es gibt einige große Passionen in Viborg, etwa die des Rechtsanwalts Lorenz Bendixen und seiner Jugendliebe Jette Lurup. Aber im kleingeschachtelten Erzählformat ist auch die Liebe keine befreiende Macht – eher führt ihre „gnadenlose Eigenmächtigkeit“ groteske Situationen herauf. So kollidieren die Liebesgeschichten nach einem Glück im Zeitraffer allzu bald mit der unfreundlichen Lebenswirklichkeit. Vor allem macht sich gerade hier die argwöhnisch-neidische Klatsch- und Tratsch-Perspektive geltend.
Das Resümee all der Menschenkenntnis?
„Wie wenig wir Menschen, letzten Endes, voneinander wissen...“
Immer wieder schildern die „hundert Texte“ in diesem Sinn Lebenswendungen, die alle in Erstaunen setzen, die über jemanden eine festgelegte Meinung hegten. Und es ist so viel verlorene Lebensmühe in diesem Buch. Strindbergs Klagemelodie „Es ist schade um die Menschen“ durchzieht diesen Roman, der vielleicht keiner ist. „Die Stadt und die Welt“ fordert den Leser, bietet aber auch eine außerordentliche Lektüreerfahrung.
Rezensiert von Wolfgang Schneider
Peer Hultberg: Die Stadt und die Welt. Roman in hundert Texten
Aus dem Dänischen von Angelika Gundlach
Verlag Jung und Jung
477 Seiten, 32 Euro
Peer Hultberg, 1935 in Kopenhagen geboren und 2007 gestorben in Hamburg, war ein Sammler von Stimmen. Auf nicht weniger als 537 bringt es sein Buch „Requiem“, mit dem er vor Jahrzehnten bekannt wurde, jeder ein kleines Kapitel gewidmet. „Die Stadt und die Welt“ wirkt dagegen fast zurückhaltend: „Roman in hundert Texten“ lautet der Untertitel.
Das in Erstausgabe 1992 erschienene Buch, das inzwischen als ein Hauptwerk der neueren dänischen Literatur gilt, schlägt in jeder dieser Episoden eine neue, auf vier oder fünf Seiten geschilderte Biografie auf. Am Ende sind es etwa 300 Figuren, mit denen es der Leser zu tun bekommt – eine Herausforderung.
Man lernt einen Viborger nach dem anderen kennen: Honoratioren und Verfemte, Erfolgreiche und Versager, brave oder bigotte Bürger, Gerichtsräte und Kartoffelgroßhändler, nach Hamburg oder Kopenhagen aufgebrochene und später zurückgekehrte Provinzgenies, ewig chancenlose Arbeiter und Waschfrauen. Rasch wird von der Wiege zur Bahre geschritten, von der Schulbank ins Altersasyl.
Mit angezogenem Tempo werden berufliche Karrieren absolviert, Familien gegründet, dann entwickelt sich meist alles ganz anders als erwartet: Kränkungen und Krankheiten, Familienzerwürfnisse und enttäuschte Hoffnungen, und alles läuft aufs Sterben zu, alle paar Seiten. Dieses überbordende Buch ist ein gespenstischer Tanz der lebenden Toten.
Die Lektüre erfordert mehr Konzentration als sonst für Romane üblich. Beschreibung findet sich auf den 475 Seiten kaum. Man erfährt nur selten, wie die für ein paar Minuten auf die Bühne gestellten Menschen aussehen, etwa wenn jemand besonders kleinwüchsig ist, was für seine Biografie entscheidende Bedeutung hat. Wenige hinterlassen tiefere Spuren im Lesergedächtnis – dazu gehört die feine Dame, die auch ihren Mitbürgern als krankhafte Kleptomanin in Erinnerung bleibt.
In der dritten Person wird berichtet, aber die Stimme ist nicht die eines distanzierten Erzählers. Viele Sätze Hultbergs klingen alltagssprachlich, nach innerem Monolog oder erlebter Rede. Aber wer ist es, der da redet? Gelegentlich finden sich die Pronomen „wir“ und „uns“ im Textfluss. Es ist demnach eine Art gesellschaftliches Über-Ich, das die Tonlage vorgibt – eine kollektive Gemeinschaftsstimme aller wohlanständigen Viborger, auch in ihrer Komik treffend übersetzt von Angelika Gundlach.
Eine Spur des ironisch vorgeführten Moralisierens zieht sich durch das Buch. Immer wieder macht sich Standesdünkel geltend, erweisen sich Klassenschranken als unüberwindlich. Glücklich, wer sich „besserer Herkunft“ rühmen kann, wobei es meist die kleinen Unterschiede sind, die zählen.
Obwohl die geschilderten Schicksale vom Beginn des 20. Jahrhunderts über die Nazi-Besatzung Dänemarks bis fast bis in die Gegenwart reichen, hat man den Eindruck einer in überkommenen Moralvorstellungen fixierten Welt – kennzeichnend, dass es noch so etwas wie „gefallene Mädchen“ gibt und die Ehefrauen zumeist als Anhängsel ihrer Gatten apostrophiert werden, sofern deren Beruf das halbwegs hergibt: „Frau Oberarzt Leif T. Vestervang“ oder gar „Frau ehemaliger Drogerie- und Farbenhandelsverkäufer Holm Jorgensen“.
Es gibt einige große Passionen in Viborg, etwa die des Rechtsanwalts Lorenz Bendixen und seiner Jugendliebe Jette Lurup. Aber im kleingeschachtelten Erzählformat ist auch die Liebe keine befreiende Macht – eher führt ihre „gnadenlose Eigenmächtigkeit“ groteske Situationen herauf. So kollidieren die Liebesgeschichten nach einem Glück im Zeitraffer allzu bald mit der unfreundlichen Lebenswirklichkeit. Vor allem macht sich gerade hier die argwöhnisch-neidische Klatsch- und Tratsch-Perspektive geltend.
Das Resümee all der Menschenkenntnis?
„Wie wenig wir Menschen, letzten Endes, voneinander wissen...“
Immer wieder schildern die „hundert Texte“ in diesem Sinn Lebenswendungen, die alle in Erstaunen setzen, die über jemanden eine festgelegte Meinung hegten. Und es ist so viel verlorene Lebensmühe in diesem Buch. Strindbergs Klagemelodie „Es ist schade um die Menschen“ durchzieht diesen Roman, der vielleicht keiner ist. „Die Stadt und die Welt“ fordert den Leser, bietet aber auch eine außerordentliche Lektüreerfahrung.
Rezensiert von Wolfgang Schneider
Peer Hultberg: Die Stadt und die Welt. Roman in hundert Texten
Aus dem Dänischen von Angelika Gundlach
Verlag Jung und Jung
477 Seiten, 32 Euro