Glosse

Betteln als Schulfach

Eine Bettlerin streckt in der Innenstadt von Frankfurt am Main einem Passanten ihre Hand entgegen.
Eine Bettlerin in Frankfurt am Main © picture-alliance/ dpa / Arne Dedert
Von Tim Lang |
Die Altersarmut erwisch sie später garantiert, besser wir bereiten unsere Kinder früh genug darauf vor – und bringen ihnen das Betteln in der Schule bei, findet Tim Lang.
Das gibt's doch gar nicht. Jetzt will Berlin den Kindern das Betteln verbieten. Als ob es die Kleinen nicht schon schwer genug haben. Nein, jetzt müssen sie sich auch noch in die Illegalität begeben. Bis zur Unkenntlichkeit verkleidet und mit angeklebten Bärten werden sie becherhaltend durch die Straßen ziehen. Andere werden aus der Dunkelheit der Kanalschächte ihre kleinen Arme in die Luft recken, um die Passanten auf sich aufmerksam zu machen – und wieder Andere müssen versuchen, auf langen Holzstelzen lebensgefährliche Balanceakte zu vollführen, um ihre Kleinheit zu verbergen. Horrorszenarien auf den Berliner Straßen.
Betteln enttabuisieren
Sollten wir da nicht viel eher das Betteln der Kleinen enttabuisieren, gar befördern? Ja. Man stelle sich nur vor, dass zum Beispiel ausgedehnte Kita-Streiks in Zukunft zur Gewohnheit würde. Dann könnte man doch die Kleinen einfach raus auf die Straße schicken. Verstehen Sie? Die Erzieherinnen könnten dann ganz stressfrei streiken, die Eltern müssten sich keine Gedanken machen, dass sich ihre Kleinen langweilen und könnten ganz beruhigt arbeiten gehen. Und der Nachwuchs selbst ginge endlich mal einer vernünftigen Tätigkeit nach, statt im Sandkasten frustriert die Artgenossen mit Matsch zu malträtieren. Also eine Win-Win-Win-Situation. Und dazu kommt noch: So lernen die süßen Kleinen schon im frühen Alter das Wesentliche: Geld ist alles! Scheiß auf die Sandkiste. Scheiß auf den Kindergarten. Ran ans wirkliche Leben. Und dann könnten sie nämlich von ihren Einnahmen endlich ihre Erzieher bezahlen, die dann nicht mehr streiken müssten. Ok, die bräuchte dann zwar auch keiner mehr – aber egal.
Betteln, eine Jugendbewegung?
Denn das Allerwichtigste: Die Sprösslinge wären vorbereitet für die Zukunft. Auf das Leben. Auf das Leben im Alter. Auf das Leben in der Altersarmut. Also: Betteln in die Bildung. Betteln als Schulfach. Als Studium das folgerichtig nur zu einem Abschluss führen kann: zum Bettel-Bachelor.
Und noch ein Gewinn käme dazu: Die, die heute schon auf der Straße stehen, wären nicht mehr alleine. Sie wären Teil der Gemeinschaft. Endlich integriert neben den anderen Bettelkindern. Und wenn auch noch der griechische Nachwuchs rüberkommt und die Teppichknüpfer aus Asien, und, und, und – dann wird da eine richtige Jugendbewegung draus. Gemeinsam sind wir arm. Ja, positiv denken. Betteln für die Zukunft.
Schafft mehr Armut!
Also, was gibt's da zu überlegen?
Schafft mehr Armut. Spekuliert weiter. Erhöht das Gefälle zwischen Arm und Reich. Befördert Flüchtlingsströme und Staatsbankrotte. Und dann, wenn wir im Alter alle mit ausgestreckten Händen nebeneinander auf der Straße sitzen, auf dem Schutthaufen unseres Kapitalismus und den vereinzelten Wohlhabenden beim Slalomlauf um die aufgestellten Hüte zusehen, dann summen wir vielleicht ganz leise ein Lied: "Völker hört die Signale ..."
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