Globalisierung im Kinderzimmer

Arlie Hochschildt im Gespräch mit Joachim Scholl |
Ist Mutterliebe eine Ressource? Diese Frage stellt die amerikanische Soziologin Arlie Hochschildt angesichts der vielen ausländischen Nannys, der Kindermädchen, die sich in den reichen westlichen Ländern um die Kinder der vornehmlich weißen Mittel- und Oberschicht kümmern - und dafür ihre eigenen Kinder in den Heimatländern zurücklassen.
Joachim Scholl: Sie kommen aus Mexiko, aus Lateinamerika, den Philippinen, aus osteuropäischen Ländern – Zehntausende von Kindermädchen, Nannys, die sich in den westlichen Industrieländern um die Kinder wohlhabender Weißer aus Mittel- und Oberschicht kümmern, weil diese Eltern keine oder zu wenig Zeit dafür haben. Dass diese Kinderfrauen aber ihre eigenen Kinder in der Regel zurücklassen und sie manchmal über Jahre nicht sehen, diesen Zusammenhang hat die amerikanische Soziologin Arlie Hochschildt untersucht. Sie ist derzeit im Rahmen einer Vortragsreihe in Berlin und hat uns im Radiofeuilleton besucht, und ich habe sie zunächst gefragt, ob in der globalisierten Welt auch die Mutterliebe inzwischen eine Ware, zur Ressource geworden ist.

Arlie Hochschildt: Da muss man vielleicht ein Stückchen zurückgehen noch einmal. Es ist ja so, dass jedes Jahr über 200 Millionen Menschen emigrieren, das sind zwei Prozent der Bevölkerung, und die Hälfte davon sind Frauen, mit steigender Tendenz. Die meisten von ihnen emigrieren wegen der Arbeit und ein Großteil von ihnen wiederum ist im Betreuungssektor beschäftigt, sie betreuen entweder Kinder oder ältere Menschen. Das sind meistens junge Frauen, der Durchschnitt liegt bei 29 Jahren, und diese Frauen haben auch meistens selber Kinder zu Hause, die sie jetzt zurücklassen mussten, das heißt, sie geben die Liebe jetzt den neuen Kindern, die sie in der neuen Familie betreuen müssen. In meinem Buch "Global Women" habe ich das als Herztransplantation beschrieben, dass zum Beispiel eine Philippina ihre eigenen drei Kinder zurücklässt – in der Betreuung einer anderen Nanny, die sie sich dort leisten kann oder ihrer Mutter oder einer Schwester –, um dann selber wiederum sich um die Kinder von deutschen oder amerikanischen Eltern zu kümmern, die dafür selbst keine Zeit haben. Ja, es ist eine Art Herztransplantation.

Scholl: Sie sprechen in Ihren Studien auch von der Kommerzialisierung der Gefühle. Sind Dritte-Welt-Mütter in diesem Sinne also bessere Mütter? Was macht diese Ware, um in diesem bösen Sprachbild zu bleiben, anscheinend so attraktiv?

Hochschildt: Das ist eine sehr paradoxe Situation. Ich habe viele arbeitende Mütter interviewt, die, wie es in den USA üblich ist, sehr lange am Tag arbeiten müssen, und die sagten alle, wir brauchten einfach eine Nanny, weil sie selber so müde waren von ihrer Arbeit, so besorgt darum, dass es den Kindern auch gut geht, dass man den Kindern gerecht wird. Und sie pflegten dann zu sagen, zum Beispiel: Wenn Philippa aus Mexiko kommt und die mit den Kindern umgeht, dann ist sie immer so entspannt, sie scheint Spaß daran zu haben und Freude und das funktioniert alles so gut. Das liegt vielleicht daran, so mutmaßten diese Mütter, dass sie ihre eigenen südlichen familiären Traditionen mitbringt, den warmherzigen Umgang mit Kindern und so weiter.

Aber wenn man dann das Kindermädchen selbst gefragt hat, dann bot sich einem ein ganz anderes Bild. Sie erzählte eine andere Geschichte und zwar die, dass sie selbst eigentlich eher sehr streng erzogen worden war, schon mit sechs, sieben, acht, neun Jahren anfangen musste zu arbeiten, und die eigene Mutter eigentlich kaum in der Lage war, ihre Gefühle zu zeigen. Nun aber, da diese Frau selber in Kalifornien war – dort hatte sie Zeit, dort hatte sie Geld und dort war sie vor allem sehr einsam, und mit dieser Einsamkeit und der neuen Sicherheit sah sie sich plötzlich in der Lage, den Kindern ganz etwas anderes zu geben. Und was sie im Fernsehen gesehen hat in den USA, war die amerikanische Variante der Familienliebe, also – die Amerikaner küssen sich, sie umarmen einander, und da dachte sie sich, aha, so funktioniert also hier die Kindesliebe, die Elternliebe und so weiter, und so werde ich das einmal weitergeben. Und so hat die Mutter dann etwas gekauft, was sie erwartet hat und eigentlich bekommen hat, aber auch wiederum nicht.

Scholl: Ihr Ausdruck, Arlie Hochschildt, den Sie benutzen, lautet "care chain", also eine Art Fürsorgekette, die sich da abrollt, und man kann sich leicht vorstellen, dass das schwächste Glied in dieser Kette die Kinder sind, die verlassen sind. Wie geht es denen eigentlich? Gibt es hier Erkenntnisse?

Hochschildt: Ja, es gibt Studien über Kinder in den Philippinen, und die Ergebnisse sind zwiespältig aber eigentlich auch eindeutig. Wenn man zum Beispiel die Kinder fragt, ob sie das Gleiche machen würden, ob sie auch ihre Kinder und ihr Land verlassen würden, um im Ausland Geld zu verdienen, dann antworten diese fast alle mit: Nein, das würden sie nicht tun. Nur ist die traurige Wahrheit, dass es sehr wahrscheinlich ist, dass sie das doch tun werden, dass sie ebenfalls emigrieren werden. Und das ist eine sehr schwierige Situation. Einerseits wissen sie, Mama liebt mich, sie ruft an, sie schickt Geld. Aber auf der anderen Seite, wenn man sie dann fragt, wen hättest du gerne, wer dich morgens anziehen soll, wer dir das Frühstück machen soll, ist das dein Vater? Dann ist die Antwort meistens "nein", denn die Väter behandeln diese Trennungssituation oft wie eine Scheidung. Oft verlassen sie das Dorf und die Familie, oft suchen sie sich neue Frauen, nicht immer, aber das passiert, und dann lautet die Antwort meistens, dass die Großmutter die Person ist, die dann bevorzugt wird.

Und mit diesen Zweifeln an der Situation müssen die Kinder auch klarkommen, mit der Frage: Warum ist die Mutter weggegangen? Vielleicht auch persönliche Zweifel nach der Frage: Was habe ich falsch gemacht und liegt es wirklich nur am Geld, das sie verdienen muss? Das ist eine extreme Unsicherheit und das ist vielleicht auch die größte Last, die diese Kinder zu tragen haben: die Angst und der Zweifel. Man spricht ja immer nur über die ökonomischen Probleme dieser Transferleistungen. Ich denke, es ist höchste Zeit, dass man auch einmal über die emotionalen Kosten spricht, die dies bedeutet. Der emotionale Preis ist sehr hoch.

Scholl: Mutterliebe als Ressource, die amerikanische Soziologin Arlie Hochschildt im Gespräch mit Deutschlandradio Kultur. Es gibt ja diese berührende Geschichte des kleinen Enrique aus Honduras, der sich nach elfjähriger Trennung von seiner Mutter auf eigene Faust aufmacht, seine Mutter in den USA zu finden, eine traumatische Odyssee wird daraus. Der Fall wurde weltbekannt, es gibt auch einen Spielfilm darüber. Sie schreiben, Arlie Hochschildt, von einem emotionalen Imperialismus, der sich im Zuge der Globalisierung, also auf diesem Wege etabliert habe. Sehen die Betroffenen das eigentlich auch so? Sie haben für Ihre Forschungen viele Nannys interviewt. Sehen die diesen Zusammenhang der Globalisierung?

Hochschildt: Nein. Ich denke, dass kaum einer sieht, was wirklich passiert. Dieses Bewusstsein ist gerade erst dabei, sich wirklich zu entwickeln. Wenn man mal einen Blick in die Zukunft wirft, dann sieht man, dass es sozusagen eine Globalisierung des Lebenslaufs im Norden gibt. Nehmen wir zum Beispiel ein deutsches Paar, das ein Kind haben will, aber keins bekommen kann. Nun gibt es für dieses Paar die Möglichkeit, zum Beispiel nach Indien, nach Gujarat zu gehen und in eine Leihmutter ein Ei implantieren zu lassen, die dann wiederum das Kind austrägt. Dann wird das Kind geboren, es kommt nach Deutschland, und in Deutschland merkt das Paar vielleicht, dass es gar nicht genug Zeit hat, sich um das Kind zu kümmern und leistet sich ein Kindermädchen, das sich um das Kind kümmert, die wiederum vielleicht aus den Philippinen oder aus der Ukraine kommt. Oder wenn die Leute alt sind und in Rente gehen, ziehen sie sich zum Beispiel nach Mexiko zurück, weil man dort billiger in Altersheimen leben kann oder eine billigere Fürsorge bekommt. Dies sehe ich als eine Globalisierung des Lebenslaufs des Nordens.

Das Problem dabei ist, dass es ganze Nationen betrifft, die sozusagen ihr eigenes Leben an diesen Lebenslauf anpassen müssen, dass sozusagen ganze Nationen die Betreuungen von anderen übernehmen. Ob die Nanny nun sieht, dass das falsch ist – sicherlich weiß sie, dass etwas nicht funktioniert, sie weiß auch, dass sie einen hohen Preis zu zahlen hat, aber ich denke, an diesem Problem muss definitiv noch weiter gearbeitet werden.

Scholl: Was man in dem Zusammenhang auch erwähnen muss: Der finanzielle Anreiz für die Nannys ist natürlich enorm. Im Vergleich zu dem, was die Kinderfrauen in ihren Heimatländern verdienen können, ist ihr Lohn zum Beispiel in den USA oder Europa zehn Mal so hoch, das heißt, das Angebot ist überaus verlockend. Welche Konsequenzen, Arlie Hochschildt, sollte man denn Ihrer Meinung nach ziehen, wie soll man reagieren? Soll man einfach sagen, "support your local nanny", nimm gefälligst ein einheimisches Kindermädchen, um diesen "emotional imperialism", um diesen emotionalen Imperialismus zu vermeiden?

Hochschildt: Das ist ein sehr wichtiger Punkt. Nein, ich bin überhaupt nicht gegen die Migration, aber ich denke, dass die Bedingungen wichtig sind, unter welchen diese Migration stattfindet. Wenn man sich mal die 356 Milliarden Dollar anguckt, die nach den offiziellen Weltbankzahlungen von Immigranten in ihre Heimatländer geschickt werden, dann ist das eine Summe, die dreimal so hoch ist wie die gesamte Entwicklungshilfe. Diese Überweisungen sind riesig und auch sehr wichtig und entstehen zu einem großen Teil aus weiblicher Arbeit, und sie erleichtern auch die Armut in den Heimatländern, aber tragen nicht zu einer Verbesserung der Entwicklung dort bei. Darauf wird auf zwei verschiedene Arten normalerweise reagiert, und beide halte ich nicht für richtig.

Die erste Art der Reaktion wäre, zu sagen, nein, ich bin jetzt gegen Migration, ich möchte nicht mehr, dass Einwanderer kommen, wir lösen diese Probleme lokal, keine ausländischen Nannys mehr. Die zweite wäre, zu sagen, wie die neoliberalen Marktbefürworter das sagen: Alles ist offen, alles ist frei, soll kommen wer will, dann wird nur alles gut, man soll den Markt arbeiten lassen. Keiner spricht die Probleme des emotionalen Imperialismus überhaupt an. Ich denke, was wir brauchen, wäre eine dritte Antwort, die fehlt uns noch – eine Antwort, in der klar wird, dass die Liebe umverteilt werden muss, aber auch das Geld, indem man den armen Ländern erst mal hilft, wirtschaftlich sich weiterzuentwickeln, aber auch auf der anderen Seite versucht, den amerikanischen Traum neu zu bewerten. Das ist etwas, das sowohl für die Eltern gilt, die zehn Stunden am Tag arbeiten, ebenso wie die Nanny, die vielleicht auch irgendwann mal von einem eigenen Swimmingpool träumt. Das ist aber ein Modell, das ökonomisch so nicht nachhaltig weitergelebt werden kann, kulturell ebenfalls nicht, und ich denke, dass es wichtig ist also, dass man jetzt den amerikanischen Traum neu bewertet.

Scholl: Arlie Hochschildt, die amerikanische Soziologin, über Mutterliebe, die im Zeitalter der Globalisierung auch zur Ressource, zur Ware geworden ist. Ich danke Ihnen für das Gespräch!

Hochschildt: Thank you.