Globalgeschichte der Psychoanalyse

Ist das Unbewusste international?

34:34 Minuten
Ein nachkolorierte Aufnahme von Sigmund Freud (1856-1939), der auf seine eigene Büste des Bildhauers Oscar Nemon im Jahr 1931 blickt.
Erkenntnis oder Kränkung? Sigmund Freud blickt auf seine eigene Büste des Bildhauers Oscar Nemon von 1931. © imago
Uffa Jensen im Gespräch mit Stephanie Rohde |
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Mit der Entdeckung des Unbewussten erschüttert Sigmund Freud um 1900 das europäische Menschenbild. Aber die Psychoanalyse bleibt nicht auf den Westen beschränkt, sagt der Historiker Uffa Jensen: Selbst Seelenärzte in Indien greifen sie auf.
Dass Träume über unsere geheimen Wünsche Auskunft geben, dass ein Versprecher verrät, was jemand eigentlich für sich behalten wollte – solche Ideen wirken auf viele Menschen absurd oder verstörend, als Sigmund Freud vor etwas mehr als hundert Jahren seine ersten psychoanalytischen Studien veröffentlicht. Die Ansichten des Wiener Nervenarztes über das Unbewusste stellen das aufgeklärte Menschenbild des Westens radikal in Frage.

Die Psychoanalyse: eine Kränkung der Menschheit

Freud selbst spricht von der dritten großen Kränkung der Menschheit: Nachdem Kopernikus gezeigt habe, dass die Erde nicht der Mittelpunkt des Weltalls ist, und Darwin, dass der Mensch von Tieren abstammt, führe die Psychoanalyse zu der Einsicht, "dass das Ich nicht Herr sei im eigenen Haus".
Dennoch stößt Freuds Deutung der menschlichen Psyche weltweit auf große Resonanz. Die Psychoanalyse habe verwandte Forschungsansätze auch über die Grenzen Europas hinaus beflügelt, sagt der Historiker und Emotionsforscher Uffa Jensen im Gespräch mit Deutschlandfunk Kultur.
Ein Porträt des Prof. Dr. Uffa Jensen, aufgenommen in der Bibliothek der TU Berlin.
Der "Ödipus-Komplex" kam in Indien nicht gut an: Der Historiker und Emotionsforscher Uffa Jensen hat untersucht, wie die Psychoanalyse über Europa hinaus wirkte - und dabei neue Wege einschlug.© TU Berlin / PR/ Alexander Rentsch
Das Unbewusste als Sphäre kollektiver Träume und Mythen faszinierte schon die Dichter der Romantik. Freud bringe dem gegenüber die Psyche des Einzelnen ins Spiel, sagt Jensen: "Das erschafft eine neue Denkmöglichkeit über das Unbewusste, die dann auch globalisiert wird."

Hypnose oder Couch? – Wie Freuds Ideen nach Indien kamen

In seinem Buch "Wie die Couch nach Kalkutta kam" zeigt Jensen, weshalb Freuds Ideen gerade in Indien auf fruchtbaren Boden fallen. Dort werden bereits Hypnose und Suggestionstechniken gegen psychische Störungen eingesetzt, von der Psychoanalyse versprechen sich die Ärzte ein verlässlicheres System für die Behandlung.
Aber lässt sich die Psychoanalyse so ohne weiteres auf die Verhältnisse in Indien übertragen? Ist das Unbewusste eine menschliche Konstante, so dass Freuds Ansatz unabhängig vom kulturellen Hintergrund prinzipiell auf jede Person passt? "Zunächst mal sind Psychoanalytiker überall auf der Welt davon überzeugt, dass es ein Unbewusstes gibt, das universell ist und das nach bestimmten Regeln und Strukturen funktioniert", sagt Uffa Jensen. Einzelne Grundstrukturen des Unbewussten seien aber in verschiedenen Gesellschaften durchaus unterschiedlich interpretiert worden.

Zwischen Körper und Seele – Vernunft und Spiritualität

So habe Girindrasekhar Bose, der Leiter der ersten psychoanalytischen Vereinigung Indiens, Freuds Lehre zwar begeistert aufgegriffen, an dessen Konzept des "Ödipus-Komplexes" aber grundlegend Kritik geübt. Die Figur eines strafenden Vaters, der mit dem Sohn um die Liebe der Mutter konkurriert, kann Bose in der indischen Gesellschaft nicht wiederfinden. Da Indien damals noch unter britischer Kolonialherrschaft steht, behandelt Bose in seiner Praxis englische und indische Patienten. Dabei stellt er weitere Vergleiche zur kulturbedingten Ausprägung der Psyche an.
Für Uffa Jensen spielt die frühe Psychoanalyse eine Mittlerrolle zwischen der europäischen und der indischen Weltsicht. "Es gibt eine weit über die Rezeption der Psychoanalyse hinausgehende Kritik am Westen, der zu stark auf die Rationalität sehe und zu wenig auf Spiritualität", erklärt Jensen, "und man kann die Psychoanalyse verstehen als eine rationale Technik, das Spirituelle oder das Seelische zu beschreiben. Insofern steht sie genau dazwischen und ist deswegen, glaube ich, auch für viele Inder interessant."

Kolonialismus: Rechtfertigung und Kritik durch Psychoanalyse

Eine ähnlich ambivalente Position nehme die Psychoanalyse in Bezug auf den Kolonialismus ein, sagt Jensen. Britische Mitglieder der Internationalen Psychoanalytischen Vereinigung schrieben Texte über die indische Psyche, die zur Rechtfertigung der Kolonialherrschaft geeignet waren, und Freud selbst zog Vergleiche zwischen Neurotikern und sogenannten "primitiven" außereuropäischen Kulturen.
Auf der anderen Seite beobachtet Jensen: "Die Psychoanalyse konnte, so kolonial sie vielleicht am Anfang strukturiert war, durchaus auch als Kritik am kolonialen Denken mobilisiert werden." So beschrieb etwa der postkoloniale Denker Frantz Fanon, wie ein schwarzer Mensch in eine "neurotische Situation" gerate, wenn er in einer weißen Gesellschaft lebe, die eine Überlegenheit gegenüber der schwarzen Bevölkerung proklamiere und ständig zur Schau stelle.

Kränkung oder Erkenntnis? – Das Doppelgesicht der Analyse

Zwischen Kränkung und Selbsterkenntnis, zwischen Bedrohung und Befreiung habe die Psychoanalyse "eine changierende Funktion", resümiert Uffa Jensen:
"Die Psychoanalyse sagt: Krankheiten, Neurosen, selbst schwere Perversionen oder Schizophrenien sind eigentlich Abwandlungen des Normalen. Jeder normale Mensch hat auch diese Tendenzen. Und das hat natürlich etwas Befreiendes, weil dann der 'Verrückte' oder der 'Irre' eine Spielart des Normalen ist. Aber gleichzeitig ist der 'Normale' davon natürlich auch ständig bedroht: Er muss ständig versuchen, sich in den Griff zu kriegen, um nicht durchzudrehen."

Uffa Jensen: Wie die Couch nach Kalkutta kam. Eine Globalgeschichte der frühen Psychoanalyse
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019
538 Seiten, 28 Euro

Außerdem in dieser Ausgabe von Sein und Streit:

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