Globale Schreckensvision

05.10.2009
Der Roman "Das Jahr der Flut" nimmt eine Vision auf, die Margaret Atwood in "Oryx und Crake" bereits gestaltet hat: Die düstere Vision einer Zukunft, in der die Natur vom Menschen zerstört worden ist.
Steht in "Oryx und Crake" noch die Gentechnologie im Mittelpunkt, die die endgültige Zerstörung nach sich zieht, so entwickelt der neue Roman auf atemberaubende Weise die Folgen dieser wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Entwicklung.

Wenige haben die "Flut ohne Wasser", eine weltweite, durch Genmanipulationen ausgelöste Seuche, überlebt. Erzählt wird die Geschichte von Toby, einer älteren Frau, die sich in einem ehemaligen Luxus-Spa verschanzt hat, sich von dem wenigen, was noch oder wieder wächst, ernährt und versucht, die verwilderten, genmanipulierten Riesenschweine - hochintelligent und aggressiv - und andere Raubtiere in Schach zu halten.

Parallel verläuft die Geschichte der jungen Ren, die in einem Luxus-Eros-Center eingeschlossen ist und einen Weg finden muss, sich zu befreien, als ihre Vorräte zur Neige gehen. Nach und nach tauchen weitere Überlebende auf, nicht zuletzt Mitglieder der korrupten Polizei oder eine Gruppe brutaler Verbrecher. Aber auch Mitglieder der Widerstandssekte finden sich ein, zu denen Ren und Toby zeitweise gehörten: Die "Gärtner" hatten sich auf den Dächern der verlassenen Hochhäuser angesiedelt und blühende Gärten angelegt; zugleich entwickeln sie einen religiösen Kult, der den Respekt vor allem Leben zum Inhalt hat (jedes Kapitel enthält eine Predigt und ein "Kirchen"-Lied). Fast zwangsläufig werden alte Fähigkeiten wie die der Heilerin oder der Seherin wiederentdeckt und ausgebildet; Toby war eine Heilerin.

Die Geschichten der Personen vervielfachen sich, sie verzweigen und verschränken sich. Zwischen die Szenen aus der Gegenwart im Jahr 25, dem Jahr der Flut, sind lange Rückblicke auf das Leben davor geschaltet: die völlig unterschiedlichen, sich immer wieder kreuzenden Geschichten von Ren und Toby, das Leben der Gärtner mit allen privaten, sozialen und politischen Verwicklungen - und mit ihren Kämpfen gegen die vollständige moralische Korruption einer Gesellschaft, in der nur die in der Industrie Arbeitenden Privilegien in ihren Ghettos genießen, während alle anderen in Slums ihr Leben fristen, in der Lebewesen jeglicher Art nur noch als käufliche Dinge betrachtet werden und die fleischverarbeitende Industrie auch vor menschlichen Leichen nicht zurückschreckt.

Atwoods Stärke liegt in ihrem bildreichen, oft lakonischen, manchmal ironischen, nie sentimental-pathetischen Stil. Die unterschiedlichen Charaktere sind in all ihrer Ambivalenz selten einfach nur gut oder böse. Auch die Gärtner, die Hoffnungsträger des Romans, sind nicht immer sympathisch oder gar moralisch vollkommen. Indem sie sich auf die Perspektive einiger Figuren konzentriert, vermag Atwood ihre globale Schreckensvision glaubhaft zu beschwören. Dennoch: Am Ende geht nicht alles zugrunde. Der Roman endet mit der Hoffnung, dass das Leben weitergehen kann.

Besprochen von Gertrud Lehnert

Margaret Atwood: Das Jahr der Flut
Roman
Deutsch von Monika Schmalz
Berlin Verlag, Berlin 2009
478 Seiten, 22 Euro