Glauben und Verstehen als Maxime

Von Thomas Kroll · 15.08.2009
Am 20. August 2009 jährt sich zum 125. Mal der Geburtstag von Rudolf Bultmann. Er war einer der bedeutendsten Denker der christlichen Theologie des 20. Jahrhunderts, eine Epochengestalt und zu seiner Zeit der wichtigste Ausleger des Neuen Testaments.
"Entmythologisierung" und "Existentiale Interpretation" – diese Begriffe sind ebenso untrennbar mit dem Namen Bultmann verbunden wie etwa das neutestamentliche Standardwerk "Die Geschichte der synoptischen Tradition" aus dem Jahre 1921.

"Und wenn wir zum Beispiel an das Jesus-Buch von Joseph Ratzinger denken, wird offensichtlich, dass diese Generation sich auch heute noch an Bultmann abarbeitet."

Das sagt Rainer Kampling. Der katholische Theologe ist Professor für Biblische Theologie und Neues Testament an der Freien Universität Berlin.

Rudolf Karl Bultmann kommt 1884 in Wiefelstede bei Oldenburg zur Welt. Nach dem Studium der Theologie und Philosophie, nach Promotion und Habilitation wird er Professor für Neues Testament zunächst in Breslau, dann in Gießen und schließlich in Marburg. Dort lehrt und lebt Rudolf Bultmann bis zu seinem Tod im Jahre 1976.

"Die Kernfrage, mit der sich Bultmann zeitlebens beschäftigt hat, war die: Ob sich und wie sich der christliche Glaube, die Tradition des christlichen Glaubens und das neuzeitliche von der Aufklärung her geprägte Wirklichkeitsverständnis miteinander vereinbaren lassen."

Konrad Hammann. Der protestantische Theologe ist Professor für Systematische sowie Historische Theologie und ihre Didaktik in Münster. Vor wenigen Wochen erschien sein Buch "Rudolf Bultmann. Eine Biographie". Darin zeichnet Hammann den Lebens- und Denkweg des Jahrhunderttheologen nach.

Hammann: "Für mich war immer wichtig, dass man bei Bultmann beides lernen kann, dass man das Neue Testament, auch die biblischen Texte als Ganze als historische Dokumente interpretieren und rekonstruieren kann, aber zugleich auch als Quelle des eigenen Glaubens in der Gegenwart aufnehmen kann."

Glauben und Verstehen erfordert historische Rekonstruktion und zeitgemäße Interpretation. Darum geht es Bultmann.

Besonders deutlich wird dieses Programm in Bultmanns ebenso berühmt wie berüchtigt gewordenem Vortrag "Neues Testament und Mythologie". Den hält Bultmann 1941 in Alpirsbach. Darin erörtert er – so der Untertitel – "Das Problem der Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung":

"Man kann nicht elektrisches Licht und Radioapparat benutzen, in Krankheitsfällen moderne medizinische und klinische Mittel in Anspruch nehmen und gleichzeitig an die Geister- und Wunderwelt des Neuen Testaments glauben."

Kampling: "Bultmann hat den Satz mit dem Radio zu einer Zeit geschrieben, als Hitler im Radio sprach. Und man kann durchaus mal erwägen, ob Dämonen so ausgestorben sind, wie Bultmann geglaubt hat."

Hammann: "Das Zitat bringt deutlich zum Ausdruck, dass Bultmann hier doch einen tiefen Gegensatz sieht zwischen dem modernen Verständnis von Wirklichkeit, wie es durch den naturwissenschaftlichen Determinismus geprägt ist, Kausalzusammenhänge, und auf der anderen Seite eben die Welt des Neuen Testamentes, in der jedenfalls in den Wundergeschichten, in den Dämonenaustreibungen dauernd davon die Rede ist, dass Gott diese Welt, die durch natürliche Gesetze bestimmt sei, dass Gott diese Welt dauernd durchbreche."

Bultmanns Lösungsweg lautet Entmythologisierung, besser: Entmythisierung. Das erfordert zweierlei: Kritik am Weltbild des Mythos und das Bemühen, die eigentliche Absicht und Aussage des Mythos deutlich zu machen. Bultmann will weder den Mythos abschaffen noch die mythologische Rede aus den Texten des Neuen Testamentes entfernen. Er will sie vielmehr interpretieren.

Hammann: "Und zwar unter der Frage: Welches Verständnis vom Sein, welches Verständnis vom Menschen in seiner Beziehung zu Gott und von der Beziehung Gottes zum Menschen gibt der Mythos zu erkennen?"

Diese Art der Interpretation nennt Bultmann existentiale Interpretation.

Ein Beispiel: Die Wundergeschichte von der Seestillung im Markus-Evangelium. Dort wird erzählt: Jesus besteigt mit seinen Jüngern ein Boot und fährt hinaus auf den See Gennesaret. Ein Sturm kommt auf; das Boot droht zu kentern. Doch Jesus schläft, bis ihn die Jünger wecken.

"Da stand er auf, drohte dem Wind und sagte zu dem See: Schweig, sei still! Und der Wind legte sich und es trat völlige Stille ein. […] Da ergriff […] [die Jünger] große Furcht und sie sagten zueinander: Was ist das für ein Mensch, dass ihm sogar der Wind und der See gehorchen?" (Mk 4,39.41)

Hammann: "Wenn man das Wunder darin sehen würde, dass hier die natürlichen Kausalzusammenhänge durchbrochen werden, dann würde es sich nach Bultmanns Meinung um ein bloßes Mirakel handeln – und das wäre für den Menschen des 20. Jahrhunderts nicht einfach akzeptabel."

Interpretiert man die Bibelverse existential, dann verdeutlicht die Geschichte von der Stillung des Sturms auf dem See:

Hammann: "Die Gegenwart Christi in der Welt schenkt dem Menschen Zuversicht, gerade auch in Situationen der absoluten Bedrohung und der Angst, auf Gott vertrauen zu können und seine verborgene Gegenwart in dieser Situation wahrnehmen zu können."

Erst nach dem Zweiten Weltkrieg beginnt die heftige Debatte um Bultmanns Programm. Es gibt mehrere Synodenbeschlüsse und eine Kanzelabkündigung lutherischer Bischöfe gegen die Entmythologisierung, jedoch keine direkte Lehrverurteilung Bultmanns.

Manche Kritiker werfen ihm vor, er gebe die Fundamente des christlichen Glaubens preis, er leugne historische Heilstatsachen – etwa die leibliche Auferstehung Christi.

Hammann: "Bultmann sagt: Dem historischen Jesus – der ist als Gestalt der Vergangenheit dahin –, ihm kann ich nicht mehr begegnen, aber ich kann Jesus Christus begegnen, sofern er mir im Wort der Verkündigung begegnet in der Gegenwart."

Dort der historische Jesus, hier der kerygmatische Christus. Extrem formuliert Bultmann: Jesus ist ins Kerygma auferstanden.

Hammann: "Kerygma, ein griechisches Wort, das meint, wenn man’s übersetzt, einfach die Verkündigung, die Botschaft, die Heilsbotschaft von Jesus Christus im Neuen Testament."

Im Alpirsbacher Vortrag "Neues Testament und Mythologie" erklärt Bultmann:

"Christus, der Gekreuzigte und Auferstandene begegnet uns im Worte der Verkündigung, nirgends anders. Eben der Glaube an dieses Wort ist in Wahrheit der Osterglaube."

Kampling: "Geschichte hat keine Wahrheit. Also die Wahrheit ereignet sich nicht, weil etwas geschehen ist, sondern die Wahrheit ereignet sich – und das, denke ich, ist wirklich bei Bultmann ganz hervorragend herausgearbeitet – in der Annahme des Kerygmas als Wahrheit. Dass Jesus Christus von den Toten auferstanden ist, ist keine historische Frage, sondern eine Frage des Glaubens."

Bei aller Zustimmung – nie verstummt die Kritik an Bultmann. Dorothee Sölle etwa vermisst bei ihm das Wort "Auschwitz" ebenso wie den Blick auf konkrete politische Herausforderungen der Gegenwart.

Dennoch ist und bleibt Bultmann ein Meilenstein der Theologiegeschichte. Denn sein Grundanliegen "Glauben und Verstehen" ist nach wie vor aktuell.