Glauben und Denken

"Die Theologie selbst ist Aufklärung"

Milad Karimi im Gespräch mit Ulrich Ziegler · 04.01.2014
"Ich kann mir mein Leben als Muslim nicht ohne Humboldt und Rilke vorstellen", sagt Milad Karimi, Professor für Islamische Philosophie. Er sieht den Koran als Aufforderung zum eigenständigen Denken und verbindet die Islamlehre mit westlicher Philosophie.
Ulrich Ziegler: Milad Karimi ist Professor für islamische Philosophie und Mystik an der Universität Münster. Herr Karimi, ich freue mich sehr, dass Sie da sind. Guten Tag.
Milad Karimi: Vielen Dank für die Einladung.
Ziegler: Bevor wir über islamische Philosophie und über Islamunterricht in Deutschland und an deutschen Schulen reden, möchte ich Sie kurz vorstellen, und zwar nicht nur, weil Ihr Leben äußert spannend verlaufen ist, sondern weil – ich wage mal die These – die Erfahrung, die Sie in Ihrer Kindheit und Jugend gemacht haben, Ihr Denken doch stark mitgeprägt haben. Ist das richtig?
Karimi: Ja.
Ziegler: Sie sind 1979 in der afghanischen Hauptstadt Kabul zur Welt gekommen und genau in dem Jahr, in dem die sowjetische Armee nach Afghanistan einmarschiert ist. Sie haben 13 Jahre in Kabul verbracht, in einer Stadt inmitten von Chaos und Zerstörung. Würden Sie sich eigentlich als Kriegskind bezeichnen?
Karimi: Ja, mit aller Entschiedenheit. Meine ganze Kindheit habe ich im Krieg verbracht. Kabul ist für mich, wenn ich meine Augen schließe und an meine frühere Heimat denke, Krieg. Es sind Leichen. Es ist ein Geruch von verbrannten Körpern. Es sind Raketen. Es ist Lärm. Es ist Angst und Furcht.
Ziegler: Das sind die Kindheitserinnerungen. Sind Sie jemals nochmal in Afghanistan gewesen?
Karimi: Seitdem nicht mehr. Ich würde es auch emotional, glaube ich, nicht packen, einfach nach Afghanistan zu gehen.
Ziegler: Wie verfolgen Sie dann die Debatte, dass deutsche Soldaten, die über Jahre in Afghanistan waren, jetzt wieder zurückkommen? Ist das sehr stark emotional geprägt bei Ihnen?
Karimi: Ja, es ist natürlich emotional. Ich beobachte immer schon sehr intensiv, was in Afghanistan vor sich geht, und betrachte auch die ganze Entwicklung und bin aber leider gar nicht optimistisch. Ich finde nicht, dass die Sache so verlaufen ist, wie man sich das gewünscht hätte. Und wenn sie auch wieder zurückkommen, die Soldaten, gerade über sie kann man noch extra sprechen, ob das Sinn gemacht hat und was für einen Sinn sie dort überhaupt erfüllen.
Ziegler: Sie finden es nicht?
Karimi: Ich finde es nicht. Und ich weiß auch nicht, was danach kommen wird. Sich einfach zurückzuziehen, das wäre schön, aber wir hätten doch da was machen können. Denken Sie an Opiumfelder, die weiterhin florieren. Ich weiß nicht, was man dort macht.
Ziegler: Also, nicht mission accomplished, nicht gut gelaufen?
Karimi: Nein.
Eine Kindheit im Krieg
Ziegler: Sie waren in den ersten 13 Lebensjahren in Kabul, damals, als die Sowjets dort waren. Sie haben die Raketeneinschläge erlebt, das ganze Chaos, schreiben aber in ihrer Biographie, die Sie veröffentlicht haben, dass es für Sie auch einen Ort der Stille und des Friedens gab. Und das war die Koranschule in einer kleinen Moschee. Dort hätten Sie sich in etwas verliebt, nämlich in den Koran. In was kann man sich im Koran verlieben?
Karimi: Ja, kaum zu glauben, nicht wahr? Sie müssen sich vorstellen, der Koran ist ein äußerst sensibles Buch, etwas, was es zu hören gilt. Der Koran ist das Gehörte. Ich habe den Koran hören lernen dürfen als Kind und auch singen lernen dürfen. Und diese Gegenwart Gottes, die der Koran verspricht einem zu leisten, das hat mich als Kind sehr geprägt. Das waren die schönsten Stunden, die ich damals für schön empfunden habe. Aber im Laufe der Jahre während der Flucht, Angst, was auch immer uns betroffen hat, war der Koran immer ein Zufluchtsort.
Ziegler: Also, das Singen der Suren, das Singen des Korans auch ein Stück Heimat in einer Welt, die sehr fremd ist?
Karimi: Ja, so ist es.
Ziegler: Was machen Sie dann aber mit Leuten, die kein Arabisch können? Wie finden die den Zugang zu dem Koran, wenn Sie sagen, das er ein Gesamtkunstwerk ist?
Karimi: Interessant ist, als ich mich – wie Sie sagen – in den Koran verliebt habe, selbst auch nicht wirklich Arabisch konnte. Die meisten Menschen auf dieser Welt, die sich als Muslime betrachten, können kein Arabisch, weil der Zugang zum Koran nicht durch die arabische Sprache bestimmt ist. Der Koran ist kein Gebrauchswerkzeug, indem man die Fragen des Alltags dort zu lösen versucht, indem man den Koran aufschlägt und fragt, wie soll ich heute mein Leben gestalten, sondern der Koran schafft es, und darin liegt wohl der Zauber in diesem Buch, auch in seiner Unverständlichkeit einem etwas zu vermitteln. Der Koran ist melodisch. Der Koran ist rhythmisch. Der Koran ist durch und durch gereimt. Es ist so, als würden Sie etwas von Homer vorgetragen bekommen. Ob Sie Altgriechisch können oder nicht, das sagt Ihnen etwas. Oder eine Oper, man muss nicht unbedingt Italienisch können, um fasziniert zu sein von einem Opernstück.
Ziegler: Warum haben Sie dann den Koran ins Deutsche übersetzt, wenn Sie sagen, die Ästhetik liegt im Ursprung? Das Deutsche wird ihn ja immer verstümmeln, weil diese Sprache einfach eine andere Melodie hat.
Karimi: Weil ich mit meiner Übersetzung eine ganz andere Intention hatte. Die Übersetzung ist im Übrigen auch eine der wenigen Übersetzungen in deutscher Sprache, die versucht, gerade die Ästhetik des Arabischen ins Deutsche zu vermitteln.
Ziegler: Andere sagen, sie ist schwer zu verstehen, weil Sie so dicht am Text sind, dass man eigentlich die Ästhetik gar nicht übersetzt mitbekommen kann.
Karimi: In der Tat, darüber kann man streiten. Aber gerade dieses Nicht-Verständlich-Sein ist was Koranisches. Es ist nicht so, dass die Araber, die muttersprachlich arabisch sind, einfach den Koran lesen und verstehen. Der Koran ist versperrt. Der Koran ist fragmentarisch, ist lückenhaft. Es gibt Sprünge in dem Text. Aber in der Übersetzung, Sie fragen, warum ich das überhaupt übersetzt habe, weil ich das Ziel verfolgte, auch etwas zu vermitteln, was die Muslime erleben. Für Muslime ist der Koran nicht in Beamtensprache verfasst, wie die berühmteste Übersetzung von Rudi Paret uns das vermitteln will. Da ist die Seele des Textes verloren gegangen.
Der ehemalige Papst Benedikt in Berlin beim Zusammentreffen mit Ali Dere, Professor für für islamische Theologie.
Milad Karimi wünscht sich mehr Begegnungen zwischen den Religionen, so wie bei einem Besuch des ehemaligen Papstes Benedikt in Berlin.© picture alliance / dpa /Wolfgang Radtke
Ziegler: Können Sie uns vielleicht erklären, warum es dann auf der einen Seite diejenigen gibt, wie Sie, die sagen, man kann sich in den Koran verlieben. Es ist ein Zugang mit dem Herzen. Es ist ein Gesamtkunstwerk, eine Ästhetik. Und dann gibt es andere, die sagen: Im Namen Allahs sind wir Gotteskrieger – zwei unterschiedliche Welten, die sich auf die gleiche Quelle beziehen.
Karimi: Diese Problematik haben die Hindus genauso, die sich auf die Upanishaden beziehen, und auch die Evangelikalen und die Christen. Bei den Juden gibt es dasselbe. Ich glaube, und das ist das Fatale bei dem Ganzen, dass man jede Religion, jede Weltanschauung, jeden Text, jeden Denker pervertieren kann.
Schauen Sie, wie Hitler mit Wagner oder mit Nietzsche damals umgegangen ist. Das heißt aber nicht, dass Nietzsche nur so zu lesen sei. Der Koran ist kein Eigentum von irgendwelchen Fundamentalisten oder Islamisten. Und es ist mir auch nicht alles egal, wissen Sie. Ich tue nicht so, ich bin verliebt in den Koran, der Islam ist so schön. Und alles, was im Namen des Islam seit 1.400 Jahren passiert, interessiert mich nicht, sondern ich finde ja den Koran so schön, sondern ich sehe meine Aufgabe gerade darin, weil der Islam mir mehr ist als einfach irgendeine Religion. Der Islam ist meine Religion, also habe ich auch die Verantwortung zu vermitteln, wie man auch den Islam verstehen kann.
Ziegler: Sie sind mit 13 Jahren nach Deutschland gekommen mit Ihrer Familie, sprechen kein Deutsch und fangen dann an, sich durch dieses deutsche Schulsystem zu arbeiten. Und am Schluss studieren Sie Philosophie und Islamwissenschaft und schreiben eine Doktorarbeit über Friedrich Hegel, einen Vertreter des deutschen Idealismus, und über den Philosophen Martin Heidegger.
Gibt es da irgendwelche Verbindungen zwischen dem, was Ihre Geschichte vorher war, und dem, was Sie dann in Deutschland studieren?
Karimi: Ja, eine zutiefst innige Verbindung. Denn man kann sich ja fragen, auch als ein junger Mensch, und ich habe mir diese Frage gestellt als Hauptschüler: Warum eigentlich?
Ziegler: Was, warum eigentlich?
Karimi: Warum passiert mir das alles? Warum Krieg? Warum hab ich alles verloren? Ich habe keinen Namen, keine Identität, keine Herkunft. Ich bin einfach ein Mensch dritter Klasse, lebe in einem Flüchtlingsheim, bin ein Asylant, wie man uns auch so bezeichnet hat, wie ich mich auch bis heute wahrnehme. Aber warum? Was hab ich denn falsch gemacht? Warum gibt es eine Welt, in der Menschen so eine Erfahrung machen dürfen, die keine Kindheit mehr haben? Und ich bin nichts Besonderes.
Wenn ich mit 34 Jahren ein autobiographisches Buch schreibe, heißt das nicht, dass ich mich für so toll erachte, dass mein Leben zu erzählen wäre, sondern weil ich einer von vielen bin. Und wenn ich die Möglichkeit habe, die Geschichte von den anderen zu erzählen, die nie die Möglichkeit selbst in Deutschland bekommen können, so etwas zu erzählen, dann ist das eine Frage, die mich seit meiner Jugend und Kindheit bewegte. Daher der Weg zur Philosophie, zu einer Wissenschaft, die letztlich nichts anderes ist als zu fragen: Warum? Der Koran ist genauso, wenn Sie so wollen, genauso herausfordernd wie die Sprache von Heidegger für die Deutschen. Also, der Koran lässt uns auch fragen, was wir eigentlich wollen. Der Koran ist fragend, herausfordernd, aber auch appellierend an den Verstand.
Ich glaube, 48 Mal kommt dies im Koran vor: "Denkt ihr nicht? Habt ihr keinen Verstand? Wollt ihr nicht begreifen?" Da heißt es nicht, ich sage dir als Gott, du hast das zu befolgen, friss oder stirb, sondern im Koran heißt es, das ist ständiger Duktus: Versuche deinen eigenen Verstand zu benutzen.
Ziegler: Aber Gleichzeitig heißt es auch, dass es das Wort Gottes ist, das 1:1 sozusagen übertragen wurde. Und das ist was anderes, als wenn Leute wie Hegel das gesamte Gedankengebäude der Zeit, in der sie gelebt haben, infrage stellen und ein neues aufbauen.
Karimi: Genau das macht der Koran – also nicht missverstehen. Der Koran hat natürlich den Anspruch, das Wort Gottes zu sein, aber das heißt ja nicht, dass das Wort Gottes für mich auch 1:1 verstehbar ist. Verstehen heißt immer Vielfältigkeit. Und kein Mensch kann behaupten, den Koran vollständig, für alle Welt die ewige Wahrheit begriffen zu haben, sondern wir müssen um den Koran ringen.
Dasselbe hat auch Hegel gemacht, wissen Sie? Hegel war auch ein Christ. Für ihn waren auch die Evangelien ja nicht gerade irgendwelche Bücher. Und Jesus Christus war der Sohn Gottes. Aber er musste auch mit so einer Entität erst einmal fertig werden. Und das versuchen wir auch mit unserem Koran.
Politische Diskussion über islamische Theologie an deutschen Hochschulen
Ziegler: Herr Karimi, Sie unterrichten islamische Theorie an der Universität Münster. Und vor kurzem hatten Sie Besuch vom Bundespräsidenten, der sich über die Arbeit vor Ort informieren wollte. Und er sagte einen Satz: "Verankerung der islamischen Theologie in deutschen Hochschulen ist ein wichtiges Kapitel deutscher Gegenwartsgeschichte." Kann man heute denn auch schon sagen, welche islamische Theologie an deutschen Hochschulen verankert wird? Ist das schon geklärt?
Karimi: Das ist noch nicht geklärt. Das ist aber eine politische Frage. Und ich bin kein Politiker. Das heißt, ich habe nicht die Aufgabe, darüber nachzudenken, was für ein Islam für die Mehrheitsgesellschaft gerade passend sein könnte. Und dann schneide ich den Islam genauso, dass er allen gefällt und lehre auch genau diesen Islam. Das kann man von mir erwarten. Das ist auch das Interesse, welches legitim ist, von der Politik. Aber ich möchte nicht die Interessen von anderen vertreten. Ich bin ja nicht fremd gesteuert, sondern als Theologe, als Philosoph islamischer Prägung an einer deutschen Universität, die dadurch bestimmt ist, freie Wissenschaft zu fördern, ist meine Aufgabe, einen authentischen Islam vorzutragen.
Ziegler: Oder geht es darum, diese unterschiedlichen Interpretationen darzustellen? Also, es gibt Reformer. Es gibt Traditionalisten. Was ist Ihre Aufgabe dann jetzt?
Karimi: Also, ich bin kein Reformer und auch kein liberaler Muslim, kein Aufklärer. Mit diesen Kampfbegriffen möchte ich mich niemals identifizieren. Weil dann würde es bedeuten, dass die anderen vier Millionen Muslime in Deutschland zurückgebliebene Schafe sind, die wir heute aufklären. Aber es geht darum, mündige Gläubige zu unterstützen, in ihrer Mündigkeit weiterzugehen.
Ich habe Studenten, das sind junge Menschen. Die tragen Kopftuch. Die tragen kein Kopftuch. Die haben einen Bart. Die haben keinen Bart. Sie sind da und sie wollen was über ihre Religion erfahren. Sie wollen nicht nur glauben, was sehr schön ist, sie wollen auch Verantwortung für den Glauben übernehmen. Und wenn es mir gelingen würde, ihnen gerade den Glauben ein stückweit durchsichtig zu machen, ihnen zu zeigen, es gibt unterschiedliche Lesarten eines bestimmten Verses. Es gab eine reiche Tradition im Islam. Man kann nicht nur einseitig eine Sache sehen. Man kann es auch im Kontext der Zeit sehen. Man muss heute den Koran anders verstehen als vor 1.400 Jahren. Das ist etwas Organisches, was es in der Tradition gegeben hat. Und das beflügelt die Studenten in Deutschland.
Ziegler: Die Auslegung eines Islam muss in Europa anders sein als beispielsweise in Saudi Arabien, im Irak?
Karimi: Das ist selbstverständlich. Überall. Wir sind auch in Kontakt mit anderen islamischen Gelehrten aus der islamischen Welt. Und das ist wunderbar. Sie merken, dass ich zwar auch ein Muslim bin, aber ich funktioniere anders. Mit mir muss man anders reden. Ich bin nicht mehr mit Fragen konfrontiert, ob der Islam aufgeklärt ist oder nicht. Die Fragen wurden für mich im 18. Jahrhundert entschieden.
Ziegler: Nämlich wie? Dass er aufgeklärt ist?
Karimi: Ja natürlich. Wissen Sie, es gibt auch Gelehrte in der islamischen Welt, einer der größten ist Hassan Hanafi. Der fordert, wir brauchen einen muslimischen Descartes. Ich lächele, weil ich denke: Warum nochmal einen muslimischen Descartes? Ich habe ja nicht zwei Parallelwelten. Es gab einen Descartes, der eine bestimmte Denkstruktur hatte, die ich verstanden habe. Ich kann ja nicht sagen, auf der einen Seite bin ich aufgeklärt, auf der anderen Seite bin ich Muslim. Sondern der Islam muss sich genauso wie das Christentum mit den Fragen der heutigen Zeit beschäftigen. Wir haben genug Probleme heute. Schauen Sie, bioethische Fragen, Umweltfragen, ethische Fragen, anthropologische Fragen, zu diesen Fragen sollte so eine Religion wie der Islam auch eine eigene Position formulieren können, um die Mehrheit der Gesellschaft zu bereichern.
Ziegler: Und das ist immer schwierig, wenn Glaube und Wissenschaft aufeinandertreffen – egal in welcher Religion.
Karimi: Genau. Das Problem ist immer dann, wenn eine Seite sich für absolut erklärt, also wenn wir so tun, als wäre der Glaube die letzte Wahrheit oder das Wissen wäre die letzte Wahrheit, und nicht einsehen, dass sie miteinander verflochten sind, dass wir nicht glauben, dass der Glaube auf das Wissen verweist und das Wissen letztlich auch ohne Glaube nicht auskommt.
Ziegler: Wenn Sie Studenten unterrichten, die dann später an Schulen unterrichten sollen, und zwar Schüler, dann geht es ja um ganz praktische Dinge. Es geht auch um den Versuch, diesen Kindern auf Deutsch islamische Glaubenslehre zu vermitteln und sozusagen auch zu sagen, wir holen diese Kinder raus aus den – ich sage es mal zugespitzt – Koranschulen, wo wir nicht genau wissen, was unterrichtet wird. – Ist das auch ein Ziel?
Karimi: Nein. Ich will sie niemals aus diesen Koranschulen rausholen, weil, diese Koranschulen sind unglaublich wichtig. Ich selbst wurde ja in den Koranschulen, wie soll ich sagen, sozialisiert. Aber ich möchte nicht sagen, dass das der einzige Weg einer religiösen Erziehung ist. Die Schule kann niemals Glauben vermitteln. Die Lehrer haben die Aufgabe, das, was – wenn Sie so wollen – geglaubt wird den Kindern näher zu bringen.
Ich gebe Ihnen ein sehr leichtes kleines Beispiel, die fünf Säulen des Islam. Jeder Mensch kennt das, steht in jedem blöden Religionsbuch in der Schule im deutschen System. Aber warum? Warum gibt es fünf Säulen im Islam? Warum gibt es diese Reihenfolge? Was für einen Sinn hat das, an die fünf Säulen des Islams zu glauben? So etwas müssen meine Studenten, die später Lehrer werden, hundert Prozent erklären können. Das erwarte ich von ihnen. Aber in der Moschee lernen die Kinder, es gibt fünf Säulen des Islams und wie laufen die. Wie soll ich meine rituelle Waschung vollführen? Wie soll ich fasten? Wie geht das rituelle Gebet? Das muss man nicht in der Schule lernen. Aber in der Schule lerne ich, warum ich glaube.
Und wenn die Lehrer und die Moscheen, Religionsgemeinschaften gemeinsam arbeiten, dann haben wir eine fruchtbare Gemeinsamkeit und Ergänzungspotenziale, die einen religiösen Menschen ausmachen.
Ziegler: Es geht nicht nur um Religiosität in einer Gesellschaft, die eben nicht islamisch geprägt ist, sondern es geht auch darum, diese Menschen hier zu integrieren, damit wir nicht in Parallelgesellschaften nebeneinander leben.
Karimi: Ich halte nicht viel von Parallelgesellschaften, aber ich halte auch nicht viel davon, wenn die Integrationspolitik den Mittelpunkt dieser Sache in Anspruch nimmt. Ich finde, dass so etwas wie eine adäquate Integration ein Nebeneffekt dieser Sache ist. Wenn Kinder in Deutschland Muslime sind, mit der Religion was anfangen können, wir Religion vermitteln können, mit ihnen diskutieren können, warum sie das tun, was sie tun, dann sind sie schon auf dem Weg, mündige Bürger dieses Staates zu sein.
Wissen Sie, die Theologie selbst ist Aufklärung. Ich muss nicht eine aufgeklärte Theologie noch bringen. Theologie ist einfach, wenn man über die Religion redet.
Ziegler: Wenn Theologie Aufklärung ist, wie Sie sagen, dann hätten wir ja überhaupt kein Problem mit irgendwelchen Fanatikern – haben wir aber.
Karimi: Weil es bis jetzt keine Theologie gegeben hat in deutschen Universitäten. Das hat gerade jetzt angefangen. Letztes Jahr wurde unser Zentrum gegründet. Wir sind die allererste Generation, die neu anfangen an den deutschen Universitäten, so was wie Theologen auszubilden. Was erwarten die von uns?
Ziegler: Kriegen wir das dann irgendwie zusammen, dass wir sagen, ja, wir verbinden das. Und deshalb werden wir auch hier den Islam weiterentwickeln können, also Sie, der weitergeht als das, was wir möglicherweise in Kernländern, wo der Islam gelebt wird, erleben?
Karimi: Ja, sicherlich.
Ziegler: Also eine Reformbewegung aus Europa heraus wieder zurück in die Ursprungsländer, kann das sein?
Karimi: Genau, nur ich will mich weiterhin nicht als Reformer bezeichnen lassen, weil dann, um Reformer zu sein, muss man die Tradition kennen, um sie zu reformieren. Ich bin am Anfang. Aber ich glaube, ich weiß, worauf Sie hinaus wollen. Ich bin Ihrer Meinung. Genau das geschieht. Und dass das die Wahrheit ist, dafür stehe ich als Person da.
Ich kann mir mein Leben als Muslim nicht ohne Humboldt und Rilke vorstellen. Und ich will das auch genauso leben dürfen. Und Sie werden sehen, dass ein Islam, der nicht nur auf Aristoteles und Plotin basiert, wie im ganzen Mittelalter und Blütezeit des Islams bis heute in den islamischen Wissenschaften Eingang hat.
Im Iran, die größten Denker im iranischen Denken, Dekane der Fakultäten, sind immer noch Neuplatoniker. Aber ich kann nicht mehr Neuplatoniker sein hier in Deutschland, weil ich einfach eine ganz andere Sozialisation im Denken erfahren habe. Das wird mit dem Islam eine ganz neue Symbiose hervorbringen, die mit Kant arbeitet, die mit Hegel arbeitet, die mit Schelling arbeitet, die mit Heidegger und Adorno arbeitet. Wir haben mit Dialektik der Aufklärung zu tun. Und dies mit dem Islam in Verbindung zu bringen, was ich alltäglich im Unterricht tue, das ist was ganz Neues in der Tat.
Ziegler: Gehören Sie da zu einer kleinen radikalen, sehr sympathischen Minderheit innerhalb Ihrer Glaubensgemeinschaft? Oder ist das schon so langsam etwas, was man auch als Mainstream, zumindest innerhalb Europas, bezeichnen könnte?
Karimi: Wir sind auf dem Weg, das zum Mainstream zu machen. Meine Aufgabe besteht darin, gerade glaubwürdig zu bleiben für meine Religionsgemeinschaft. Wenn ich mich in den Elfenbeinturm der Theologie zurücksetze und so tue, was ich mache, das ist Reformislam, das ist alles toll, und nicht mal weiß, was die Gemeinschaft von mir will, dann ist das ganze Projekt gescheitert. Daher bin ich immer nicht nur obligatorisch und gerne in der Moschee, sondern ich bin im Gespräch mit der Basis. Weil nur so kann ich kann ich als glaubhafter authentischer Muslim meine Gemeinschaft mittragen. Und das kann nicht von heute auf morgen passieren.
Ständige Rechtfertigung für radikalen Islamismus
Ziegler: Es leben ungefähr fünf Millionen Muslime hier in Deutschland, ungefähr eine Million schulpflichtige Kinder. Innerhalb dieser großen Gemeinschaft gibt es sicherlich auch Menschen, und wir sehen sie auch zumindest in manchen Großstädten, Muslime, die hier leben, aber uns Nichtmuslimen signalisieren, dass sie eigentlich mit dieser anderen Welt, in der wir leben, wenig oder gar nichts zu tun haben wollen. Sie wollen nach ihren eigenen Regeln leben.
Wie kommen Sie an die ran? Was machen Sie mit denen? Wie überzeugen Sie die von Ihrer Philosophie, die ja reingeht bis in humanistische Aufklärung?
Karimi: Das ist eine der größeren Herausforderungen unserer Zeit, derer ich mich annehme. Meine Aufgabe besteht darin, dieser Jugend ein Angebot zu machen, ein Angebot zu machen, das für sie authentisch und annehmbar ist. Das heißt, es hat gar keinen Sinn, wenn ich mich da hinstelle, mit irgendeinem Vogel diskutiere und versuche ihn zu überzeugen, dass ich den besseren Weg habe. Ich werde immer scheitern, weil plakative Argumente immer besser ankommen als wenn ich ansetze und ihnen erst einmal die kantische Philosophie erkläre.
Das heißt, meine Aufgabe besteht darin ein Angebot, ein attraktives Angebot zu machen, dass die Jugendlichen selbst dazu kommen zu sagen: Ach, das ist schöner, das ist authentischer, das ist unsere Tradition. Islamische Tradition auf die die Muslime sehr stolz sind, war, unter uns gesagt, niemals reduktionistisch. Sie war immer offen. Wir haben die hellenistische Tradition ja internalisiert, verinnerlicht und neu gedacht. Und genau das kann heute passieren. Gerade Deutschland ist ein Vorbild in ganz Europa mit der islamischen Theologie an den deutschen Universitäten. Und diesen Vorbildcharakter gilt es auch weiterhin zu pflegen. Wir sind gerade dabei multimedial das zu versuchen.
Und unsere Studenten, wissen Sie, innerhalb von einem Jahr haben wir 400 Studierende, die bei uns studieren, in einem Jahr! Wir haben kaum Werbung gemacht, aber über tausend Bewerber. In ein paar Jahren haben wir genauso viele wie die Katholische Fakultät in Münster und die sind seit Jahrhunderten hier am Werke.
Des heißt, es gibt das Bedürfnis. Es gibt Nachfrage. Und wir sind dabei, genau mit dieser Nachfrage, mit dieser Jugend zusammenzuarbeiten. Ich nicht, aber meine Studenten werden diese Jugend noch überzeugen können. Die sind nämlich argumentativ schon jetzt so stark, dass man ihnen nicht irgendetwas verkaufen kann, ihnen sagen kann, der Islam ist den anderen zu hassen. Juden, Christen sind Ungläubige, man muss sie töten, Ehrenmorde … – sie lächeln darüber, weil sie ihnen einfach Belegstellen geben können, warum so etwas einfach von Grund auf gegen die Prinzipien einer humanistischen Religion verstößt.
Ziegler: Jetzt haben wir einen Vor- und Nachteil zugleich. Wir leben in einem Land mit offenen Grenzen, mit Medien und Information, die wir von aller Welt bekommen können, auch Gelehrte, die aus aller Welt hier unterrichten. Wie findet der Kontakt mit diesen Menschen statt, die aus arabischen Ländern kommen, die in Gemeinden hier reingehen und sagen, das, was Prof. Karimi vorschlägt, ist ja wunderschön, hat aber mit unserer Welt nichts zu tun. Wir interpretieren den Islam anders und wollen ihn anders in Deutschland leben. Wie kommen Sie mit denen zusammen?
Karimi: Das kann nur dann Erfolg haben, wenn ich in dieser Moschee abwesend bin. Wenn er hinter meinem Rücken so was erzählt, dann hat er Erfolg. Aber wenn ich da bin – und ich muss da sein, ich muss anwesend sein, ich muss Kontakt haben, ich muss authentisch gewesen sein, damit diejenigen, die mich vor einer Woche gehört haben, dann doch auch dagegen argumentieren können, wenn ich nicht überall zugleich sein kann.
Wir können ihnen niemals den Mund verbieten. Wir haben einen säkularen Staat. Wir haben eine Demokratie. Es gibt Freiheit und auch Freiheit der Meinungsäußerung. Sie sollen doch kommen. Sie werden sehen, dass sie mit der Zeit keine Akzeptanz mehr finden.
Erwünschte Zusammenarbeit mit jüdischer Kultur
Ziegler: Aber wir brauchen keine Hassprediger. Wir brauchen keine Leute, die zu Gewalt aufrufen.
Karimi: Wir brauchen auch keine NPD. Wir brauchen auch die Neonazis, all die brauchen ich nicht. Die mag ich auch nicht. Aber ich muss sie dulden. Und Hassprediger, glauben Sie, die sind mir mehr Dorn im Auge als Ihnen, weil, ich mich ihretwegen ständig rechtfertigen muss. Nach jedem schönen Vortrag über die Ästhetik des Korans muss ich erklären, warum Muslime Christen verfolgen, warum es Ehrenmorde gibt. Und aus diesem apologetischen Duktus möchte ich auch raus.
Aber ich kann jetzt auch nicht sagen, weil sie hier sind und Hass predigen, deswegen muss ich die vernichten. Die sind auch deutsche Staatsbürger. Wo soll ich mit ihnen hin? Ich kann sie auch nicht ins Zuchthaus stecken und sagen, jetzt lerne mal und werde ein braver deutscher Bürger, sondern ich muss sie – und das ist unser Brot – argumentativ zwingen. Und dagegen gibt es nur eine Lösung: Bildung, Bildung und nochmal Bildung.
Ziegler: Die Frage vielleicht am Schluss nochmal an Sie: Was kann eigentlich der Islam einer Gesellschaft wie der unsrigen geben, die in ihrer Mehrheit gar nicht islamisch ist?
Karimi: Das kann ich Ihnen kaum so schnell beantworten. Es ist vieles. Aber schauen Sie, überhaupt der Gemeinschaftssinn ist etwas, was im Islam immer noch sehr ausgeprägt ist. Also, so etwas wie für den anderen da sein, das Verhältnis zwischen Jugendlichen und ihren Eltern. Respekt, Spiritualität. Auch so was wie eine ganz eigene ästhetische Art seine Religion zu leben.
Und das erlebe ich auch im interreligiösen Dialog, dass so etwas sehr bereichernd sein kann, weil zum Beispiel das Christentum hat einen ganz eigenen Zugang zu Gott, zu Gemeinschaft. Dies kann sehr produktiv sein, wenn wir gemeinsam arbeiten, mit der jüdischen Kultur. Ich glaube, diese Religionen, Weltanschauungen, die alle meinen, für die säkulare Gesellschaft eine Bereicherung zu sein, können nur dann Erfolg haben, wenn sie gemeinsam versuchen, auch die Defizite dieser Gesellschaft zu erkennen.
Vielleicht kann der Islam auch dazu beitragen, Ereignisse neu zu denken, neu zum Vorschein zu bringen, für diejenigen, die nichtislamisch sind, für diejenigen, die bisher dafür blind waren.
Ziegler: Also, teilweise auch Infragestellungen, die die Heideggers und Hegels in ihrer Zeit gemacht haben?
Karimi: Genau.
Ziegler: Herr Karimi, ich danke Ihnen ganz herzlich für diese Aussagen. Ihnen allen noch einen schönen Samstagnachmittag.
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