Glaube

Das Recht zur Nicht-Religion

Zeitgenössisches Porträt des Reformators Johannes Calvin
Zeitgenössisches Porträt des Reformers Johannes Calvin © picture alliance / dpa
Heinz Schilling im Gespräch mit Susanne Führer · 27.05.2014
Askese, die Disziplin, das Streben nach Leistung und Erfolg, dafür steht Johannes Calvin, der Begründer des Calvinismus. Vor 450 Jahren wurde Calvin geboren. Der Historiker Heinz Schilling sagt, bis heute sind seine Lehren wichtig und aktuell.
Susanne Führer: Johannes oder auch Jean Calvin wird auch "der französische Luther" genannt, denn er wurde 1509 in Frankreich geboren. Heute vor 450 Jahren starb Calvin in Genf. Und auf ihn berufen sich die reformierten Kirchen, die weltweit rund 80 Millionen Mitglieder haben. Calvin gehört ja mit Luther zu den großen Kirchenreformatoren seiner Zeit – welche Bedeutung Calvin für die Reformation damals und vielleicht für uns alle heute hat, das ist nun mein Thema mit dem Historiker Professor Heinz Schilling. Guten Morgen, Herr Schilling!
Heinz Schilling: Guten Morgen!
Führer: Calvinismus – das steht ja heute so im Alltagsverständnis für Strenge, für Askese, für Disziplin. Calvin wurde 26 Jahre nach Luther geboren – was unterscheidet die beiden Reformatoren? Vielleicht die Strenge, mit der diese evangelischen Moralnormen durchgesetzt wurden?
Schilling: Nein. Also, als Erstes unterscheidet die beiden Reformationen genau das, was Sie schon erwähnt haben, Calvin ist eine andere Generation. Calvin ist ein Nachfolger, bei aller Leistung und Eigengeprägtheit, die ihm zuzubilligen ist. Luther hat einen Dominostein umgestoßen, und dann sind die Folgen gekommen, und zu denen zählt Calvin. Und, ein ganz wichtiger Unterschied, von der Ausbildung her ist Calvin Jurist, Luther ist bekannterweise Theologe. Bei Calvin ist eine weit stärkere Rationalität anzusetzen, auch seine Ausbildung an den Universitäten ist stärker humanistisch geprägt als bei Luther. Das hat auch das zur Folge, was Sie unter stärkerer Rigidität verzeichnet haben, auch in moralischer Hinsicht.
Führer: Er soll ja in seiner Zeit in Genf, wie soll ich sagen, ein recht strenges Regime geführt haben.
Schilling: Na ja, das hat Luther in Wittenberg auch versucht, allerdings hat er nicht dieses Instrumentarium aufgebaut. Das ist auch wieder typisch für den Juristen Calvin, der ja einen Kirchenrat aufgebaut hat, der die Gemeinden vertritt und der die Gemeinde kontrolliert, die Ältesten im Calvinismus. All dies hat Luther nicht aufgebaut. Luther hat stärker die Pastorenschaft in den Vordergrund gestellt, die die Gemeinde leitet und entsprechend nicht ein Disziplinierungsinstrumentarium entwickelt wie Calvin. Heute ist das natürlich wesentlich moderater. Gleichwohl, der große Bruch ist zwischen der vorigen Generation und der jetzigen Generation – gerade auch im reformiert-calvinistischen Bereich, etwa in den Niederlanden sehen Sie sehr deutlich, wie einerseits etwa bestimmte Autoren in ihren Romanen, wie sie geprägt sind vom Calvinismus, wie sie sich aber gerade wegen dieser Kontrolle doch jetzt entschieden vom Calvinismus, ja, von der Religion generell abgewendet haben.
Liebt Gott die Erfolgreichen?
Führer: Dazu passt ja ganz gut, dass Calvin, der über 20 Jahre in Genf gelebt hat, zugeschrieben wird, die dortige Entwicklung der Uhrenindustrie wie auch des Bankgewerbes stark befördert zu haben. Der Soziologe Max Weber hat ja in seiner berühmten Abhandlung "Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus" dem Calvinismus zugeschrieben, dass er eben sowohl dieses protestantische Leistungsethos befördere und damit eben auch den Kapitalismus. Und ich finde, aus heutiger Warte wirkt ja so erschreckend, wenn man liest, dass Calvins Lehre von der Vorherbestimmung besagt, an dem wirtschaftlichen Erfolg erkenne man das Ansehen eines Menschen bei Gott.
Schilling: Zunächst einmal, Weber hat davon gesprochen, dass der so die Spiritualität des Reformiertentums – aber nicht nur des Reformiertentums, sondern auch bestimmter protestantischer Sekten, insbesondere im angelsächsischen Bereich – den Geist des Kapitalismus gefördert hätte. Das ist eine äußerst komplizierte, historisch nicht mehr nachvollziehbare Argumentation. Die Prädestinationslehre – gerade in den Gebieten, wo der Kapitalismus aufbricht, ist nun dummerweise genau diese Prädestinationslehre nicht vertreten. Also, die Weber-These ist wissenschaftsgeschichtlich berühmt und hat dort ihre großen Verdienste, dass sie eben methodisch und heuristisch auf die Bedeutung von religiösen Einstellungen zur Welt hingewiesen hat. Allerdings, in der verkürzten Form, wie sie immer wieder dargestellt wird, wird sie heute kein Historiker mehr vertreten. Man muss berücksichtigen, dass es gerade die fortgeschrittenen Länder Europas waren, wo dann der Kapitalismus aufbrach. Und es ist eben eine Kombination zwischen Minderheitensituation, zwischen religiöser Spiritualität und bereits vorgängiger Rationalisierung der Wirtschaft und geografischer Lage an den aufbrechenden westeuropäischen Küstenzonen, die nach Amerika Ausschau halten, die die Entstehung des Kapitalismus ausmachen.
Führer: Heute ist der 450. Todestag von Johannes Calvin, und deswegen spreche ich über den Reformator mit dem Historiker Heinz Schilling. Aber, Herr Schilling, noch mal zurück zu dem Punkt der Vorherbestimmung, der Prädestination, wie Sie gesagt haben, von Calvin. Wenn man am wirtschaftlichen Erfolg eines Menschen dessen Ansehen bei Gott erkennen kann – hat Calvin das so formuliert?
Reformiertentum verbreitet sich in maritimen Räumen
Schilling: Nein, das hat Calvin in dieser Weise nicht vertreten. Bei Calvin selbst ist das theologisch wesentlich komplizierter, da geht es auch noch um die Erwählung vor dem Sündenfall und die Erwählung nach dem Sündenfall. Also diese Vereinfachungen finden Sie bei Calvin nicht, aber sehr wohl in dem Bereich, der bereits aufgebrochen war hin zur kapitalistischen Denkstruktur.
Führer: Aber all diese Dinge, die Calvin beziehungsweise dem Calvinismus zugeschrieben werden, sind dann doch nicht vollkommen falsch. Also die Askese, die Disziplin, das Streben nach Leistung und Erfolg?
Schilling: Na ja, dieses finden Sie auch im Luthertum. Das ganz Entscheidende etwa beim Luthertum und in einer wesentlich breiteren Weise als das Calvin zugeschrieben wird, ist das In-die-Welt-Hineintreten der Religion. Das ist deutlich bei Luther. Die höchste Realisierung des Glaubens erfolgt nicht mehr, wie im mittelalterlichen System, im Kloster, durch Wallfahrten und so weiter, sondern das geschieht mitten in der Welt. Das Christentum wird mit Luther in die Welt hineingenommen, der Mensch hat sich zu bewähren im Beruf. Nur: Das Luthertum realisiert sich in den Binnenräumen Deutschlands, das Reformiertentum in den maritimen Räumen der Niederlande, Nordwestdeutschlands, Englands, und diese Kombination macht die Dynamik aus, die im Luthertum nicht in gleicher Weise aufbrechen kann. Nicht wegen einer anderen Theologie, sondern wegen der anderen geografischen Verbreitung.
Führer: Ich hätte jetzt so gedacht, es gibt vielleicht einen wesentlichen Unterschied zwischen Luther und Calvin, nämlich das Verhältnis zur Obrigkeit. Die lutherische Reformation hat sich ja mit der Obrigkeit recht schnell arrangiert. Calvin hingegen, der ja ein Flüchtling war – er musste aus Frankreich eben fliehen und ist dann in die Schweiz gegangen –, gilt als kritischer der weltlichen Macht gegenüber.
Schilling: Das ist auch wieder dieselbe Situation. Die Theologie Luthers ist genauso wenig obrigkeitsfromm wie die Calvins. Nur Luther hat letztlich – es wird immer gesagt, er sei unpolitisch, das ist auch völlig falsch –, in politisch richtiger Entscheidung hat er gesagt, die Einzigen, die meine Reformation durchführen können und sie schützen können, sind die Landesherren. Der Territorialstaat oder der Nationalstaat war die zukunftsprägende Kraft im 16. Jahrhundert. Calvin und der Calvinismus können nicht mit der Obrigkeit, sondern sie müssen gegen die Obrigkeit, gegen den Staat ihren Glauben behaupten und durchsetzen. Und von daher ergibt sich dann auf der Basis einer durchaus ähnlichen Theologie unterschiedliche Entwicklungen in der Rezeptionsgeschichte. Es ist ganz wichtig für Luther. Diese Obrigkeitsgläubigkeit des Luthertums ist ja erst ein Phänomen des 19. Jahrhunderts. Thron und Altar, das ist preußisch und im Übrigen kaum lutherisch, sondern – und jetzt wird es ganz kompliziert – reformiert. Denn die Hohenzollern waren reformiert. Und da sehen Sie, wie kompliziert die Geschichte ist.
Führer: Herr Schilling, hat Ihrer Ansicht nach Calvin heute eigentlich auch den Nichtgläubigen noch etwas zu sagen?
Ohne Calvin gäbe es keine säkulare Zivilgesellschaft
Schilling: Ja. Calvin und überhaupt das ganze Problem auch 2017, wie man die Reformation feiert, ist dahingehend für die Zivilgesellschaft, auch für diejenigen, die nicht einer Kirche angehören, von außerordentlicher Wichtigkeit. Es ist völlig klar, wir stünden heute nicht da, wo wir heute stehen und es gäbe nicht die säkulare Zivilgesellschaft, die wir heute haben und hinter der wir ja voll und ganz stehen. Am Ende steht die Situation, um es abgekürzt zu sagen, in der wir ein Recht zur Religion haben, aber eben auch ein Recht zur Nicht-Religion.
Führer: Daraus schließe ich aber, dass sie mit der Kapitalismuskritik, in der sich ja die Kirchen in den letzten Jahren üben, also Papst Franziskus sehr stark, aber auch in dem Sozialwort der katholischen und der evangelischen Kirche Deutschlands, dass sie sich auf Calvin dann nicht berufen können?
Schilling: Die Welt des 16. Jahrhunderts, auch das Wirtschaftssystem des 16. Jahrhunderts ist eine völlig andere Situation als diejenige Anfang des 21. Jahrhunderts. Der Kapitalismus hat durchaus außerordentlich positive Züge. Denken Sie daran, die Ernährung der Weltbevölkerung, die ja ohne dieses System kaum möglich wäre. Aber er hat eben auch Auswüchse, und gegen diese Auswüchse muss man sich wenden und wendet man sich, und kann man durchaus, und das ist ja auch der Fall, aus religiös-theologischen Positionen heraus tun, sodass ich durchaus mir vorstellen könnte, dass man sowohl aus der calvinistischen als auch aus der lutherischen Sozialethik heraus durchaus Kritik an den Auswüchsen des heutigen Kapitalismus üben kann.
Führer: Das sagt Heinz Schilling. Er ist emeritierter Professor für Geschichte der Humboldt-Universität Berlin, und Heinz Schillings Luther-Biografie mit dem Titel "Martin Luther – Rebell in einer Zeit des Umbruchs" ist vor Kurzem bei C.H.Beck erschienen. Und ich danke sehr für das Gespräch, Herr Schilling!
Schilling: Ja, danke schön. Ihnen auch!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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