Glasgower Juden

Mit dem Infostand für den Frieden

Ein israelischer Soldat an einem Checkpoint im Ort Yatta im Westjordanland am 9.6.2016.
Ein israelischer Soldat an einem Checkpoint im Ort Yatta im Westjordanland. © afp / Hazem Bader
Von Robert Fishman · 17.06.2016
"Leave" oder "Stay": Der Brexit ist auch bei den Juden im Königreich ein heiß diskutiertes Thema. Die meisten wollen in der EU bleiben, darunter auch Samy Stein aus Glasgow. Doch er hat noch eine andere Mission: Frieden im Nahen Osten.
Samstag Nachmittag in Schottlands größter Einkaufszone, der Buchanan Street in Glasgow. Beladen mit vollen Einkaufstüten schlendern Menschen jeden Alters durch die Frühlingssonne.
Die alte Frau, die auf einem Akkordeon Roma-Lieder spielt, findet im Trubel kaum Beachtung. Auch an dem Stand, der für die Rechte der Palästinenser wirbt, bleibt kaum jemand stehen. Ein paar Schritte weiter verteilt eine junge Frau Flugblätter. Sie möchte, dass Großbritannien in der Europäischen Union bleibt. Das Interesse der Einkaufsbummler: gering. Auch die Konkurrenz von der "Leave"-Kampagne für den EU-Austritt tut sich schwer. Die roten Kugelschreiber mit dem "Leave"-Aufdruck bleiben liegen, ebenso die meisten Infoblätter der Bewegung für den Brexit.

"Die Leute denken, Israel sei ein riesiges Land wie die USA"

Zwischen Palästinensern, Straßenmusikern, EU-Befürwortern und -Gegnern wehen eine israelische und eine palästinensische Fahne an einem weiteren Info-Stand. Eine tapeziertischbreite Landkarte zeigt Nordafrika und Vorderasien von der marokkanischen Atlantikküste bis an den Indischen Ozean. Die arabischen Länder sind grün gefärbt. Mitten drin ein winziger weißer Punkt. "Israel in der arabischen Welt" steht über der Karte. "Wenn die Leute das sehen, wundern sie sich", erklärt Samy Stein.
Stein: "Wenn sie das sehen, glauben sie es nicht. Sie denken, Israel sei ein riesiges Land wie die USA. Wer die Landkarte vor Augen hat versteht nicht, wie es möglich ist, dass ein so kleines Land so viele Diskussionen verursacht. Mit dieser Karte kann man Israel sehr gut erklären."
Samy ist einer von noch etwa 5000 Juden, die in Glasgow leben. Früher, sagt der Sohn einer polnisch-ungarischen Familie, waren wir viel mehr. Als zehnjähriger kam Samy in den Fünfzigerjahren mit seinen Eltern aus Israel nach Glasgow. Damals gab es noch vier koschere Metzger in der Stadt.

Debatten mit Freunden Palästinas

Stein: "Jetzt gibt es hier keinen koscheren Metzger mehr. Koscheres Fleisch muss man sich in Manchester oder London besorgen. Als ich nach Glasgow kam gab es hier sieben oder acht Synagogen. Jetzt sind es noch drei bis vier orthodoxe und eine reformierte. Viele junge Leute ziehen in die großen Städte. Ihre Eltern und Großeltern wollen dann dort leben, wo ihre Kinder sind und ziehen nach. Viele Juden heiraten Nichtjuden und deren Kinder sind dann oft keine Juden mehr."
In Glasgow fühlt sich der Mittsechziger wohl.
Stein: "Die Menschen hier sind sehr freundlich. Religion spielt da keine Rolle. Wir haben eine jüdische Gemeinde. Selbst die Reformierten und die Orthodoxen versammeln sich unter einem gemeinsamen Dach."
Immer wieder staunt Samy, wie wenig die Leute in der Stadt über den Nahen Osten wissen.
"Manchmal kommen Leute an unseren Infostand, die von der palästinensischen Sache sehr überzeugt sind. Die ärgern sich, dass wir mitten in Glasgow mit einer israelischen Fahne stehen. Gut so, wir freuen uns, wenn Menschen am Weltgeschehen Anteil nehmen. Manche sind allerdings so engagiert, dass sie nicht mehr für Argumente der Gegenseite offen sind. Einer, kein Muslim, ein ganz normaler Schotte, fragte, was Israel denn mit den illegalen Siedlungen machen werde, wenn ein Friedensvertrag geschlossen würde. Ich habe ihm erklärt, dass man darüber mit den Palästinensern verhandeln müsse. Daraufhin war er sich ganz sicher, dass Israel niemals Land freiwillig aufgeben würde. Ich erzählte ihm dann vom Friedensvertrag mit Ägypten, für den Menachem Begin Ägypten den ganzen Sinai zurückgegeben hat und sogar eine ganze Siedlerstadt, nämlich Yammit, geräumt hat."
Das wollte der Streiter für die palästinensische Sache nicht glauben.

Die meisten Juden sind gegen den Brexit

"Dann meinte ich noch, schauen sie im Internet nach und kommen sie nächste Woche wieder. dann können wir darüber reden. Und eine Woche wieder da, ein kräftiger Kerl mit einer großen palästinensischen Fahne über der Schulter, um sich tatsächlich bei mir zu entschuldigen. Er ist weiterhin für die Palästinenser aber nicht mehr so anti-israel."
Über Samys freundliches Gesicht huscht ein Lächeln. So ganz umsonst ist sein Engagement nicht. So eindeutig wie er für Israel wirbt, so kritisch sieht er die derzeitige Regierung in Jerusalem, die immer weiter nach rechts driftet. Dennoch traut er Benjamin Netanjahu zu, dass er wie der nicht minder nationalistische Menachem Begin eines Tages einen Friedensvertrag unterschreiben wird. Näher als derlei Utopien ist der 23. Juni, an dem die Briten über den EU-Austritt abstimmen werden. Die meisten Glasgower Juden seien, so Samy Stein, für die Europäische Union.
Stein: "Viele sind Geschäftsleute. Wenn wir die EU verlassen, wird es für die Wirtschaft kompliziert. Da müssen wir eine Menge an Regeln übernehmen, um weiterhin freien Handel mit den EU-Ländern treiben zu können. Ich denke, die meisten sehen die Vorteile, wenn wir Teil des Ganzen bleiben statt uns abseits zu stellen."
Der gläubige Optimist erinnert angesichts der oft niveaulosen und aggressiven Debatte über den Brexit an den Streit über die schottische Unabhängigkeit vor zwei Jahren.
"Damals haben die Befürworter der schottischen Unabhängigkeit den meisten Wirbel gemacht. Deshalb nahmen alle an, die Schotten würden für die Trennung vom Vereinigten Königreich stimmen. Der Volksentscheid hat gezeigt, dass die Schotten sich nicht abspalten wollen. Ich denke, das wird jetzt beim EU-Referendum ebenso ausgehen. Ich denke, dass es uns als Teil der EU besser gehen wird und so hoffe und vermute ich, dass die Mehrheit ebenso entscheidet."
Mal sehen, ob Samy recht behält.
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