Glanz und Elend der Europa-Skeptiker
Politik wurde im Lauf des 20. Jahrhunderts immer einfacher. Der Kommunismus und der Nationalsozialismus hatten gezeigt, wie angenehm Komplexitäts-Reduktion sein kann, und auch für die Gegner des Kommunismus und des Nationalsozialismus waren die Dinge relativ klar: Mit der Devise "Nie wieder Faschismus" wurde noch jahrzehntelang nach dessen Ende Politik gemacht, und die Auseinandersetzung mit dem Kommunismus war das prägende Paradigma der Bundesrepublik.
In den Siebzigerjahren erreichte die politische Simplizität ihren Höchstpegel, denn Linkssein wurde eine intellektuelle Selbstverständlichkeit, während auf der anderen Seite die reaktionären Kräfte des Kapitalismus ihr Unwesen trieben.
Für die Wähler war diese Links-Rechts-Dichotomie äußerst komfortabel. Eine Möglichkeit von zweien ankreuzen – das ist für wohlstandssatte Demokraten ungefähr das Äußerste, was sie der politischen Materie an Konzentration und Aufmerksamkeit entgegenzubringen imstande sind. Schon die FDP hat für Viele etwas Irritierendes, und die Grünen wirbelten schließlich alles durcheinander. Wenn hingegen 88 Zentimeter lange Wahlzettel mit 31 Parteien wie bei der Europawahl ausgeteilt werden, dann muss man den ganzen Vorgang neu durchdenken.
Aus der Perspektive dieser letzten Wahl betrachtet, hat Europa etwas Nahöstliches: Ein unübersehbarer Fleckenteppich von Partikularinteressen, die zu absurd und unmotiviert erscheinenden Koalitionen oder Feindschaften führen können, bestimmt das Bild. Politik ist auf einmal wieder so kompliziert, wie sie es immer war, bevor die großen Ideologien alles bündelten. Selbst das Bekenntnis zur Europäischen Union ist nicht ohne weiteres anschlussfähig, solange man nicht weiß, wer es aus welchen Motiven jeweils ablegt.
Das gilt erst recht für die sogenannten Europagegner, denen die journalistischen Adjektiv-Automaten gern das Beiwort "rechtspopulistisch" anhängen. Es liegt ja in der Natur der Sache, dass sich Rechtspopulisten aller Länder eben nicht vereinigen können, weil sie ihre nationalen Horizonte als letztgültige Maßstäbe hochhalten. Die polnischen Europagegner haben ihren Wahlkampf beispielsweise mit derart antideutschen Parolen geführt, dass sie schwerlich mit deutschen Europagegnern irgendwie kooperieren können.
Aber abgesehen davon ist die Europaidee so weich und vage, dass auch die Ablehnung sehr unterschiedliche Formen und Facetten haben kann. Die Einen wenden sich gegen den Brüsseler Bürokratismus, den Anderen geht es darum, die Türkei draußen zu halten, und wieder Andere träumen im Zusammenhang mit der Verfassungsdiskussion von der Einführung plebiszitärer Elemente. So ergibt sich ein ähnliches Strukturdilemma wie bei den nationalistischen Europagegnern: Man kann zwar mit allgemeinen EU-Schmähungen fast immer Erfolg haben, aber je konkreter die Ablehnung artikuliert wird, desto kleiner wird der Bezugsrahmen, in dem sich der Erfolg einstellt.
Denn generell genießen und bejahen die Menschen mehrheitlich die durch die Europäische Union geschaffenen Erleichterungen des Reise- und Warenverkehrs, die Kompatibilität der Arbeitsmärkte und Sozialsysteme und die Möglichkeit, sich problemlos anderswo niederzulassen. Sie betrachten das aber nicht als politisches Projekt, sondern als einen Verwaltungsfortschritt, so wie es ja auch technische Verbesserungen im normalen Behördenverkehr gibt. Zu einem politischen Projekt gehören einfach mehr philosophische Tiefe, gesellschaftliche Spannung und repräsentativer Glanz.
Weil das fehlt, haben die Wähler sich fast überall innenpolitisch orientiert und schon dadurch, egal wo sie ihr Kreuz gemacht haben, gegen Europa gestimmt – von denen, die nicht oder ungültig gestimmt haben, ganz zu schweigen. Der Triumph der Europagegner ist insofern ein riesiger Selbstwiderspruch, der allerdings gewissermaßen aus den falschen Motiven zum richtigen Ergebnis führt. Dieselbe Logik steckt freilich auch hinter dem Scheitern der Anti-EU-Kampagne der irischen Libertas-Partei: Man könnte sagen, dass der Europagedanke nicht einmal als Negation zu einer politischen Kraft geworden ist.
Letztlich beruht das Strukturdilemma des parlamentarischen Europa-Skeptizismus auf dem alten Witz von Groucho Marx, der sagte, er würde nicht gern einem Club beitreten, der Leute wie ihn als Mitglieder aufnimmt.
Burkhard Müller-Ullrich, geboren 1956 in Frankfurt am Main, studierte Philosophie, Geschichte und Soziologie. Schreibt für alle deutschsprachigen Rundfunkanstalten und viele Zeitungen und Zeitschriften in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Er war Redakteur beim Abendstudio des Schweizer Radios, beim Schweizer Buchmagazin "Bücherpick" und Leiter der Redaktion "Kultur heute" beim Deutschlandfunk.
Für die Wähler war diese Links-Rechts-Dichotomie äußerst komfortabel. Eine Möglichkeit von zweien ankreuzen – das ist für wohlstandssatte Demokraten ungefähr das Äußerste, was sie der politischen Materie an Konzentration und Aufmerksamkeit entgegenzubringen imstande sind. Schon die FDP hat für Viele etwas Irritierendes, und die Grünen wirbelten schließlich alles durcheinander. Wenn hingegen 88 Zentimeter lange Wahlzettel mit 31 Parteien wie bei der Europawahl ausgeteilt werden, dann muss man den ganzen Vorgang neu durchdenken.
Aus der Perspektive dieser letzten Wahl betrachtet, hat Europa etwas Nahöstliches: Ein unübersehbarer Fleckenteppich von Partikularinteressen, die zu absurd und unmotiviert erscheinenden Koalitionen oder Feindschaften führen können, bestimmt das Bild. Politik ist auf einmal wieder so kompliziert, wie sie es immer war, bevor die großen Ideologien alles bündelten. Selbst das Bekenntnis zur Europäischen Union ist nicht ohne weiteres anschlussfähig, solange man nicht weiß, wer es aus welchen Motiven jeweils ablegt.
Das gilt erst recht für die sogenannten Europagegner, denen die journalistischen Adjektiv-Automaten gern das Beiwort "rechtspopulistisch" anhängen. Es liegt ja in der Natur der Sache, dass sich Rechtspopulisten aller Länder eben nicht vereinigen können, weil sie ihre nationalen Horizonte als letztgültige Maßstäbe hochhalten. Die polnischen Europagegner haben ihren Wahlkampf beispielsweise mit derart antideutschen Parolen geführt, dass sie schwerlich mit deutschen Europagegnern irgendwie kooperieren können.
Aber abgesehen davon ist die Europaidee so weich und vage, dass auch die Ablehnung sehr unterschiedliche Formen und Facetten haben kann. Die Einen wenden sich gegen den Brüsseler Bürokratismus, den Anderen geht es darum, die Türkei draußen zu halten, und wieder Andere träumen im Zusammenhang mit der Verfassungsdiskussion von der Einführung plebiszitärer Elemente. So ergibt sich ein ähnliches Strukturdilemma wie bei den nationalistischen Europagegnern: Man kann zwar mit allgemeinen EU-Schmähungen fast immer Erfolg haben, aber je konkreter die Ablehnung artikuliert wird, desto kleiner wird der Bezugsrahmen, in dem sich der Erfolg einstellt.
Denn generell genießen und bejahen die Menschen mehrheitlich die durch die Europäische Union geschaffenen Erleichterungen des Reise- und Warenverkehrs, die Kompatibilität der Arbeitsmärkte und Sozialsysteme und die Möglichkeit, sich problemlos anderswo niederzulassen. Sie betrachten das aber nicht als politisches Projekt, sondern als einen Verwaltungsfortschritt, so wie es ja auch technische Verbesserungen im normalen Behördenverkehr gibt. Zu einem politischen Projekt gehören einfach mehr philosophische Tiefe, gesellschaftliche Spannung und repräsentativer Glanz.
Weil das fehlt, haben die Wähler sich fast überall innenpolitisch orientiert und schon dadurch, egal wo sie ihr Kreuz gemacht haben, gegen Europa gestimmt – von denen, die nicht oder ungültig gestimmt haben, ganz zu schweigen. Der Triumph der Europagegner ist insofern ein riesiger Selbstwiderspruch, der allerdings gewissermaßen aus den falschen Motiven zum richtigen Ergebnis führt. Dieselbe Logik steckt freilich auch hinter dem Scheitern der Anti-EU-Kampagne der irischen Libertas-Partei: Man könnte sagen, dass der Europagedanke nicht einmal als Negation zu einer politischen Kraft geworden ist.
Letztlich beruht das Strukturdilemma des parlamentarischen Europa-Skeptizismus auf dem alten Witz von Groucho Marx, der sagte, er würde nicht gern einem Club beitreten, der Leute wie ihn als Mitglieder aufnimmt.
Burkhard Müller-Ullrich, geboren 1956 in Frankfurt am Main, studierte Philosophie, Geschichte und Soziologie. Schreibt für alle deutschsprachigen Rundfunkanstalten und viele Zeitungen und Zeitschriften in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Er war Redakteur beim Abendstudio des Schweizer Radios, beim Schweizer Buchmagazin "Bücherpick" und Leiter der Redaktion "Kultur heute" beim Deutschlandfunk.

Burkhard Müller-Ullrich© privat