Gitta Trauernicht: Kinder werden häufig als Last empfunden

Moderation: Birgit Kolkmann |
Die schleswig-holsteinische Sozialministerin Gitta Trauernicht hat eine stärkere Verzahnung der Kinderschutzangebote gefordert. Die SPD-Politikerin schlug vor, soziale und gesundheitliche Frühwarnsysteme zu entwickeln und die Vorsorgeuntersuchungen für alle verbindlich zu machen. In manchen Fällen bräuchten Familien außerdem mehr Hilfe, um den Alltag zu bewältigen.
Birgit Kolkmann: Die großen Kinder suchten Pizza und fanden die Leichen von drei neugeborenen Geschwistern in der Kühltruhe im Keller. Die Familientragödie im Sauerland erschüttert nicht nur die Menschen in Wenden, es ist doch so eine nette Familie, sagen die Nachbarn. Auch im österreichischen Amtstetten wollen die Nachbarn nichts bemerkt haben von der Gefangenschaft einer Mutter mit drei Kindern im Verlies unterm Elternhaus. Und in Potsdam stürzte sich gestern eine 36-jährige Frau mit ihrer dreijährigen Tochter von einem Hochhaus. Es war bereits der zweite Selbstmordversuch in einem Jahr. Noch im August war die Frau von der Polizei in letzter Sekunde gerettet worden. Hätte man ihren Tod gestern verhindern können? Hat wieder mal die Familienhilfe versagt, so wie im Fall der kleinen verhungerten Lea-Sophie, deren Tod jetzt in Schwerin vor Gericht verhandelt wird? Zum Interview in Deutschlandradio Kultur begrüße ich die schleswig-holsteinische Sozialministerin und Sozialdemokratin Gitte Trauernicht. Schönen guten Morgen!

Gitta Trauernicht: Guten Morgen, Frau Kolkmann!

Kolkmann: Frau Trauernicht, wenn Kinderleichen in Kühltruhen landen, dann haben ja wohl Eltern, Staat und auch die Gesellschaft versagt. Diese Fälle scheinen sich zu häufen. Warum?

Trauernicht: Das scheint so. Die offiziellen Statistiken, die polizeiliche Kriminalstatistik, zeigt ein anderes Bild. Die Zahl der Kindstötungen in den letzten 25 Jahren hat mehr als die Hälfte abgenommen. Allerdings, und das muss man dazu sagen, ist das Risiko für die sehr kleinen Kinder, nämlich Kinder unter einem Jahr, sehr groß. Die Hälfte aller Kindstötungen betrifft diese kleinen Kinder. Und eine zweite Relativierung dieser Statistiken: Diese Statistik steht und fällt ja mit den Angaben von Kinderärzten. Wir haben ja auch den plötzlichen Kindstot. Und offen ist die Frage, ob immer auch erkannt wird, dass es sich um eine Kindstötung handelt.

Kolkmann: Genau hinschauen, Dinge erkennen, auch die Gefährdung von Kindern erkennen, das ist ja die Aufgabe vor allen Dingen auch der Familienhilfe, der Jugendämter. Wir haben eine neues Kinder- und Jugendhilfegesetz, und das soll ja die Gefährdungen von Kindern und Jugendlichen möglichst abwehren. Sind denn die Jugendämter da eigentlich schon in der Lage, dieses auch umzusetzen?

Trauernicht: Da liegen Licht und Schatten sehr dicht beieinander. Einerseits haben wir deutliche Fortschritte im Kinderschutz in den letzten 20 Jahren gemacht. Auf der anderen Seite kennen wir die Schwächen des Systems nur zu genau und arbeiten zurzeit daran, diese zu beseitigen. Ich will das mal etwas konkreter machen. Wir haben Anfang der 90er Jahre mit dem Kinder- und Jugendhilfegesetz auch die Diskussion über die gewaltfreie Erziehung gehabt, über die Umsetzung der UN-Kinderrechtskonvention. Es hat eine deutliche Sensibilität gegeben. Es hat einen Ausbau spezieller Angebote gegeben. Ich nenne die Angebote des Kinderschutzbundes, aber auch die gesetzliche Vorgabe, die Schwangerschaftskonfliktberatung auszubauen, gerade um Frauen in Notsituationen, in Konflikten während der Schwangerschaft schon beraten zu können. Wir haben Angebote, die gesetzlich gar nicht abgesichert sind. Ich nenne die 70 Babyklappen oder auch die anonymen Geburten, 30 Kliniken gibt es in Deutschland. Es gibt auf der einen Seite Angebote und auch eine höhere Sensibilität, denn die Anzeigen wegen Misshandlung, Vernachlässigung, sexuellen Missbrauchs sind in dieser Zeit ebenfalls sehr angestiegen, sodass man sagen kann, es gibt eher Fortschritt als Rückschritt. Aber, muss man wirklich sagen, wir haben in der Tat erkannt, dass wir erstens unsere Angebote für die Allerkleinsten noch verbessern müssen und dass die speziellen Kinderschutzangebote viel besser miteinander verzahnt werden müssen. Deswegen gibt es jetzt in vielen Ländern neue Kinderschutzgesetze. Schleswig-Holstein hat auch ein solches Kinderschutzgesetz aktuell auf den Weg gebracht, um das Netz dichter zu knüpfen, um soziale und gesundheitliche Frühwarnsysteme zu entwickeln, um Vorsorgeuntersuchungen für alle verlässlich und verbindlich zu machen, um insbesondere auch die Jugendhilfe und das Gesundheitswesen über Hebammen zu verzahnen. Wir versuchen, das Netz einfach dichter zu knüpfen, damit kein Kind durchfällt.

Kolkmann: Sie sind ja seit Langem im Bereich der Sozialarbeit tätig, wissenschaftlich, praktisch. Sie sagen über sich selber, auch auf Ihrer Website, dass Sie sich sehr für die Abfederung von Notlagen immer eingesetzt haben und dass Sie möchten, dass die soziale Infrastruktur den Menschen auch wirklich nützt. Nun haben wir Jugendämter. Wir haben das Jugendhilfegesetz, der Kinderschutz ist großgeschrieben. Trotzdem passieren immer wieder Dinge, weil die Jugendämter sich nicht wirklich so engagieren, wie sie es müssten. Warum ist das in Deutschland so schwierig? Warum wird Kinderschutz immer so sehr als Privatsache angesehen und Einmischung ja im Grunde als Tabu gesehen?

Trauernicht: Nun, ob das wirklich so ist, da hab ich durchaus meinen Zweifel. Einerseits ist es sicherlich richtig, dass wir nicht gerade ein sehr kinderfreundliches Land sind und dass viele, und gerade auch in den letzten Jahrzehnten mehr mit sich zu tun hatten, als sich um andere zu kümmern. Aber auf der anderen Seite gibt es auch ein ganz anderes Bild. Es gibt eine unglaublich engagierte ehrenamtliche Szene, ob über Wellcome-Projekte, im Pflegekinderwesen. Es gibt viele Menschen, die sich kümmern, und es gibt auch gut ausgebaute Jugendämter. Allerdings die Probleme sind auch immer größer geworden. Denken Sie an die Arbeitslosigkeit, an die hohe Scheidungsquote, an die Zunahme psychischer Erkrankungen bis hin zur Zukunftsangst der breiten Mittelschicht. Es gibt schon ein Klima in unserem Land, in dem Kinder häufig als Last empfunden werden. Und viele Kinder eben erst recht als Last empfunden werden. Das heißt schon, dass wir noch ein ganzes Stück davon weg sind, eine kinder- und familienfreundliche Gesellschaft zu sein, bei Nöten hinzugucken, und vor allen Dingen fehlen uns auch ganz niedrigschwellige Entlastungsangebote. Wir haben Pädagogen, wir haben Psychologen, wir haben Sozialarbeiter. Aber manchmal ist es einfach auch erforderlich, an der Seite einer Frau, einer Familie zu stehen und mit dafür zu sorgen, dass der Alltag überhaupt bewältigt wird, dass die Angebote, die es gibt von der Kindertagesbetreuung über die Erziehungsberatung, die frühen Hilfen überhaupt genutzt werden.

Kolkmann: Auch das Zivilengagement von Verwandten, Freunden, Nachbarn steht ja da sicher mit zur Debatte. Wird all dieses, was Sie auch ansprechen, auch das ehrenamtliche Engagement, zu wenig miteinander verzahnt? Müsste es eine stärkere Kooperation der Ämter, der Schulen und anderer Einrichtungen geben?

Trauernicht: Ja, ich glaube, das ist tatsächlich das Problem. Wenn wir die schrecklichen Einzelfälle analysieren, dann stellen wir immer fest, im Prinzip ist schon jemand dran gewesen, hat es jemand wahrgenommen, es hat eine Hilfe gegeben und doch hat es nicht funktioniert. Nun kann man nicht in jedem Einzelfall helfen. Es wird immer wieder auch zu diesen schrecklichen Einzelfällen kommen. Aber dennoch gibt es aktuell eine ganz intensive Diskussion darüber, wie wird das Netzwerk dichter knüpfen können. Und da kommen eben ganz neue Angebote zum Einsatz. Die Familienhebammen sind es, die Babyklappen sind es, die anonymen Geburten sind es. Aber die Schwangerschaftskonfliktberatungen macht schon eine gute Arbeit und verhindert auch viele Kindstötungen. Ich denke dennoch, dass es gut ist, dass wir diese öffentliche Diskussion zurzeit haben, damit viele Frauen, auch Frauen in Notsituationen merken, es gibt Hilfen, es gibt Alternativen für das Kind. Man wird nicht stigmatisiert, wenn man sein Kind zur Welt bringt und weggibt. Es gibt viele Menschen, die sich unglaublich drüber freuen würden, wenn sie ein Kind in Pflege nehmen können, adoptieren können. Es gibt Menschen, die das organisieren. Man braucht nur diese eine Situation, und das ist ja nicht während der Geburt, man ist ja neun Monate schwanger in der Regel. Und das heißt, in diesen neuen Monaten müssen diese Informationen, diese Signale, diese Frauen in Not auch tatsächlich erreichen, und sie müssen sich auch nutzen wollen.

Kolkmann: Vielen Dank! Das war die schleswig-holsteinische Sozialministerin und Sozialdemokratin Gitta Trauernicht. Ich bedanke mich für das Interview in Deutschlandradio Kultur!

Trauernicht: Bitte schön! Auf Wiederhören!