Gipfelstürmer im Sonntagsanzug
Im Juni 1802 versuchte sich der deutsche Naturforscher und Weltenbummler Alexander von Humboldt an einer Erstbesteigung des Chimborazo, ein 6000er in den Anden Ecuadors. Fast gänzlich ohne professionelle Ausrüstung schaffte es Humboldt immerhin bis auf etwa 5600 Meter. In seinem Reisetagebuch schildert von Humboldt nüchtern den fehlgeschlagenen Versuch und liefert zugleich spannende Eindrücke vom Leben in Südamerika im 19. Jahrhundert.
"Komplett verrückt ". So würde ein Profibergsteiger von heute diesen Humboldt wohl betiteln. Der hat als erster versucht, den Chimborazo zu erklettern, einen 6000er in Ecuador. Und das so ungefähr im Sonntagsanzug: "Kurze Stiefel, einfache Kleidung, keine Handschuhe", schreibt Humboldt in sein Tagebuch. Von Atemgeräten und anderem modernen Kletterluxus ganz zu schweigen. Zwei Indianer, als Bergführer engagiert, sind auf halbem Weg zum Gipfel geflüchtet, Humboldt und drei Gefährten haben durchgehalten. Geplagt von der Höhenkrankheit, mörderischen Kopfschmerzen, Schwindel, Brechreiz, die Augen blutunterlaufen - weil Humboldt das Sagen hatte. Besessene geben nicht auf.
Bis zum Gipfel sind sie nicht gekommen. Kurz vor dem Ziel tut sich eine mächtige Gletscherspalte auf: unpassierbar. Es bleibt nur die Umkehr. Humboldt beschreibt das alles ziemlich nüchtern, von einer Enttäuschung über den verpassten Gipfelsturm ist nichts zu spüren. Dies hier ist sein Tagebuch, da hätte er seinem Ärger Luft machen können. Wenn es solche Gefühle wie Wut und Enttäuschung denn gegeben hätte - aber nein, Fehlanzeige.
Wie kommt es, dass Humboldt gelassen bleibt, obwohl er gerade eine empfindliche Niederlage erlitten hat? Die beiden Herausgeber dieses Buches haben eine interessante Erklärung: Den Gipfel zu erreichen, war Humboldt nicht so wichtig. Was ihn viel mehr interessiert hat, war der Weg dorthin. Die verschiedenen Klimazonen, welche Pflanzen wachsen in welcher Höhe, wie ist der Boden beschaffen, wie das Gestein. Da hat er ausführlich Notizen gemacht und wunderbare Zeichnungen dazu, die man in diesem Buch besichtigen kann.
Humboldt war offensichtlich nicht scharf auf den Titel "Ich war der erste auf dem Chimborazo." In seinen Schriften hat er auch kaum über dieses Ereignis berichtet, nur ein paar Vorträge in Berlin gehalten, da erwähnt er die Expedition eher beiläufig. Erst später hat die Fama ihn zum "Bezwinger des Chimborazo" gekürt. Es gibt ein Gemälde von 1859 mit Humboldts Konterfei und dem Chimborazo im Hintergrund, darauf ist Humboldt genauso groß wie der Berg ...
Der Ergeiz und das öffentliche Interesse an Fragen wie "Wer steigt zuerst auf welchen Gipfel?" oder "Welche Nation hat die Nase vorn?" sind offensichtlich jüngeren Datums. Anfang des 19. Jahrhunderts war der Zeitgeist an solchen Themen noch nicht interessiert. Da bewunderte man den Weltreisenden und den Wissenschaftler weit mehr als den Weltrekordler. Und selbst wenn er es geschafft hätte: "Humboldt wäre nie auf die Idee gekommen, auf dem Gipfel des Chimborazo die preußische Flagge aufzupflanzen", so die Herausgeber.
Auch wenn die Jagd nach dem Rekord nicht Humboldts Sache war, wenn das Wort "spannend" irgendwo angebracht ist, dann für dieses Tagebuch. Der Leser darf dabei sein bei alldem, was Humboldt Tag für Tag erlebt. Da geht es nicht nur um die Bergtour selbst, sondern auch ums Drumherum. Humboldt schildert das Leben in einem Indianerdorf am Fuße des Berges. Da schuften die Eingeborenen für die weißen Kolonialherrn. Die wiederum feiern rauschende Feste mit den Kaziken: einer indianischen Adelskaste, die keine Steuern zahlt und die eigenen Leute wie Sklaven hält.
Humboldt ist kein Abenteuerschriftsteller mit blühender Phantasie. Die ist nicht nötig, wenn man den Ergeiz hat, unter den ersten europäischen Touristen in Südamerika zu sein. Auf einer solchen Tour ist nichts so erschütternd, so packend, so phantastisch wie die Realität.
Ein rundherum gelungenes Buch also? Leider nicht ganz. Die Kritik betrifft nicht Humboldt, sondern die beiden Herausgeber. Sie haben einen Kommentar geliefert zur Erläuterung dessen, was Humboldt schreibt. Ein Kommentar an sich ist natürlich sinnvoll, man muss schon ein paar Dinge wissen über Humboldt und seine Zeit, um seine Tagebücher zu verstehen.
Aber das hier sind fast 80 Seiten Kommentar. Das heißt, beinah die Hälfte des Buches ist Vorspann, bevor dann endlich mal Humboldt selbst zu Wort kommt. Ein Gutteil dieses Kommentars sind Grübeleien über Kriterien und Praxis einer gelungenen Textedition. So etwas erwartet man von einer wissenschaftlichen Ausgabe der Humboldt-Werke, in einem Buch für ein größeres Publikum (als solches hat es Eichborn angekündigt) stiftet es eher Verwirrung.
Rezensiert von Susanne Mack
Alexander von Humboldt: Über einen Versuch, den Gipfel des Chimborazo zu besteigen
Eichborn Verlag Frankfurt am Main 2006
192 Seiten. 19,90 Euro
Bis zum Gipfel sind sie nicht gekommen. Kurz vor dem Ziel tut sich eine mächtige Gletscherspalte auf: unpassierbar. Es bleibt nur die Umkehr. Humboldt beschreibt das alles ziemlich nüchtern, von einer Enttäuschung über den verpassten Gipfelsturm ist nichts zu spüren. Dies hier ist sein Tagebuch, da hätte er seinem Ärger Luft machen können. Wenn es solche Gefühle wie Wut und Enttäuschung denn gegeben hätte - aber nein, Fehlanzeige.
Wie kommt es, dass Humboldt gelassen bleibt, obwohl er gerade eine empfindliche Niederlage erlitten hat? Die beiden Herausgeber dieses Buches haben eine interessante Erklärung: Den Gipfel zu erreichen, war Humboldt nicht so wichtig. Was ihn viel mehr interessiert hat, war der Weg dorthin. Die verschiedenen Klimazonen, welche Pflanzen wachsen in welcher Höhe, wie ist der Boden beschaffen, wie das Gestein. Da hat er ausführlich Notizen gemacht und wunderbare Zeichnungen dazu, die man in diesem Buch besichtigen kann.
Humboldt war offensichtlich nicht scharf auf den Titel "Ich war der erste auf dem Chimborazo." In seinen Schriften hat er auch kaum über dieses Ereignis berichtet, nur ein paar Vorträge in Berlin gehalten, da erwähnt er die Expedition eher beiläufig. Erst später hat die Fama ihn zum "Bezwinger des Chimborazo" gekürt. Es gibt ein Gemälde von 1859 mit Humboldts Konterfei und dem Chimborazo im Hintergrund, darauf ist Humboldt genauso groß wie der Berg ...
Der Ergeiz und das öffentliche Interesse an Fragen wie "Wer steigt zuerst auf welchen Gipfel?" oder "Welche Nation hat die Nase vorn?" sind offensichtlich jüngeren Datums. Anfang des 19. Jahrhunderts war der Zeitgeist an solchen Themen noch nicht interessiert. Da bewunderte man den Weltreisenden und den Wissenschaftler weit mehr als den Weltrekordler. Und selbst wenn er es geschafft hätte: "Humboldt wäre nie auf die Idee gekommen, auf dem Gipfel des Chimborazo die preußische Flagge aufzupflanzen", so die Herausgeber.
Auch wenn die Jagd nach dem Rekord nicht Humboldts Sache war, wenn das Wort "spannend" irgendwo angebracht ist, dann für dieses Tagebuch. Der Leser darf dabei sein bei alldem, was Humboldt Tag für Tag erlebt. Da geht es nicht nur um die Bergtour selbst, sondern auch ums Drumherum. Humboldt schildert das Leben in einem Indianerdorf am Fuße des Berges. Da schuften die Eingeborenen für die weißen Kolonialherrn. Die wiederum feiern rauschende Feste mit den Kaziken: einer indianischen Adelskaste, die keine Steuern zahlt und die eigenen Leute wie Sklaven hält.
Humboldt ist kein Abenteuerschriftsteller mit blühender Phantasie. Die ist nicht nötig, wenn man den Ergeiz hat, unter den ersten europäischen Touristen in Südamerika zu sein. Auf einer solchen Tour ist nichts so erschütternd, so packend, so phantastisch wie die Realität.
Ein rundherum gelungenes Buch also? Leider nicht ganz. Die Kritik betrifft nicht Humboldt, sondern die beiden Herausgeber. Sie haben einen Kommentar geliefert zur Erläuterung dessen, was Humboldt schreibt. Ein Kommentar an sich ist natürlich sinnvoll, man muss schon ein paar Dinge wissen über Humboldt und seine Zeit, um seine Tagebücher zu verstehen.
Aber das hier sind fast 80 Seiten Kommentar. Das heißt, beinah die Hälfte des Buches ist Vorspann, bevor dann endlich mal Humboldt selbst zu Wort kommt. Ein Gutteil dieses Kommentars sind Grübeleien über Kriterien und Praxis einer gelungenen Textedition. So etwas erwartet man von einer wissenschaftlichen Ausgabe der Humboldt-Werke, in einem Buch für ein größeres Publikum (als solches hat es Eichborn angekündigt) stiftet es eher Verwirrung.
Rezensiert von Susanne Mack
Alexander von Humboldt: Über einen Versuch, den Gipfel des Chimborazo zu besteigen
Eichborn Verlag Frankfurt am Main 2006
192 Seiten. 19,90 Euro

Alexander von Humboldt (1769-1859) auf einem Gemälde von Friedrich Georg Weitsch aus dem Jahre 1806.© AP Archiv