Gipfel in Wales

"Ukraine kann nicht NATO-Mitglied werden"

Harald Kujat, ehemaliger Generalinspekteur der Bundeswehr
Harald Kujat, ehemaliger Generalinspekteur der Bundeswehr © picture alliance / ZB
Moderation: André Hatting · 04.09.2014
Der Konflikt in der Ukraine lässt sich nicht entschärfen. Putin wolle die NATO mit seinem Sieben-Punkte-Papier spalten, meint Harald Kujat, der ehemalige Vorsitzende des Militärausschusses der NATO. Er plädiert für einen international überwachten Waffenstillstand.
André Hatting: Ach ja, wie schnell sich die Zeiten doch ändern! Als die NATO 2010 in Lissabon zusammenkam, da freute sich Generalsekretär Rasmussen über eines der wichtigsten Treffen in der Geschichte, wie er sagte. Denn in ihrer neuen Strategie für das 21. Jahrhundert spielte Russland eine große Rolle, es sollte mitmachen bei der gemeinsamen Raketenabwehr gegen Schurkenstaaten. Verteidigungssystem von Vancouver bis Wladiwostok, so der Traum! Vier Jahre später ist der ausgeträumt und Russland gehört plötzlich selbst zu diesen Schurkenstaaten! Das NATO-Treffen in Wales heute könnte wieder in die Geschichte eingehen, und das hat diesmal mit dem Prinzip "Einer für alle" zu tun."
Und so steht es geschrieben. Was das für die Praxis bedeutet, das frage ich jetzt einen Praktiker, den ehemaligen Vorsitzenden des Militärausschusses der NATO, General a. D. Harald Kujat. Guten Morgen, Herr Kujat!
Harald Kujat: Ich grüße Sie, guten Morgen!
Hatting: Ich frage Sie jetzt mal ganz direkt: Was muss laut Vertrag oder wann muss laut Vertrag die NATO Russland eigentlich den Krieg erklären, was muss da genau passieren?
Kujat: Die NATO wird gar nicht Russland den Krieg erklären, sondern wenn ein Land angegriffen wird, ein NATO-Mitgliedsland angegriffen wird, dann tritt der NATO-Rat zusammen und jeder einzelne Mitgliedsstaat entscheidet, wie er diesem angegriffenen Land hilft und in welchem Umfang er das tut. Das kann also, hat mal jemand gesagt, von einer Postkarte reichen, in der das Mitgefühl ausgedrückt wird, bis hin zu substanziellen militärischen Kräften, die in diesem Land die Verteidigung mit übernehmen.
Hatting: Jetzt haben wir ja gerade gehört in dem Beitrag von Rolf Clement, dass möglicherweise nicht einmal eine dauerhafte Stationierung möglich ist, es hat was zu tun mit einem speziellen Abkommen mit Russland, sondern ein rotierendes Verfahren. Denken Sie, dass das nicht auch schon als Provokation reichen würde gegenüber Russland?
Die geostrategischen Vorteile liegen auf Russlands Seite
Kujat: In der gegenwärtigen Situation, in dieser Krise, in diesem Konflikt wird natürlich das kleinste Signal – von beiden Seiten übrigens – als Provokation und möglicherweise sogar als Eskalation gesehen. Man muss also in Ruhe eigentlich mit dem Gegenüber darüber reden, wie ich ja schon seit Langem fordere, dass man miteinander spricht und nicht übereinander. Aber was geplant ist, ist ja im Grunde eine Kompromisslösung: Die baltischen Staaten und Polen verlangen eine permanente Stationierung, ähnlich wie das während des Kalten Krieges in Deutschland der Fall war. Das hätte nämlich den Vorteil für diese Länder, dass bei einem Angriff auf sie oder dem Versuch einer Besetzung die Mitgliedsstaaten sozusagen automatisch den Beistand leisten müssten, weil sie automatisch im Konflikt mit dem Aggressor wären. Das war die Idee auch in Deutschland. Das stößt offensichtlich auf Widerstand bei einigen Mitgliedsstaaten, und mit Recht, meine ich, weil man andernfalls diesen Grundlagenvertrag mit Russland aushebeln würde. Deshalb will man jetzt diese Lösung, diese Kompromisslösung, dass man das Material und Waffen in diesen Ländern stationiert, denn das dauert sehr, sehr lange, dieses Material nach vorne zu verlegen, und dass man dann die Streitkräfte, die Truppen, das Personal jeweils einfliegt. Denn das geht relativ schnell. Das eigentliche Problem ist nämlich die Fähigkeit, die mangelnde Fähigkeit, muss man sagen, der NATO, diesen Staaten schnell zur Hilfe zu kommen. Nicht grundsätzlich zur Hilfe zu kommen, sondern schnell zur Hilfe zu kommen. Denn die geostrategischen Vorteile, also gemeinsame Grenzen mit Russland beispielsweise, liegen auf der Seite Russlands.
Hatting: Sie haben gerade das angesprochen, Schnelligkeit, Tempo ist ein großes Problem im Augenblick, deswegen will die NATO ja auch diese schnelle Eingreiftruppe beschließen und das Material verlagern, wie Sie es gerade erklärt haben. Und wir alle haben wahrscheinlich noch diesen Satz von Putin im Ohr, der gesagt hat: Wenn ich will, nehme ich Kiew in zwei Wochen ein. Wäre die NATO eigentlich in der Lage im Augenblick, das zu verhindern? Jetzt mal abgesehen davon, dass die Ukraine nicht zum Bündnis gehört?
Kujat: Ich weiß nicht, ob Putin das so gesagt hat, aber in der Sache ist das völlig richtig. Er wäre tatsächlich in der Lage, innerhalb kürzester Zeit die Ukraine zu besetzen. Die ukrainische Armee ist praktisch nicht verteidigungsfähig. Und wir haben ja gesehen, dass es ihm gelingt, relativ kurzfristig 40.000 Mann an der Grenze zur Ukraine zusammenzuziehen, das würde schon ausreichen. Nein, die NATO wäre in einem solchen Fall nicht in der Lage, die Ukraine zu verteidigen.
Hatting: Sie haben das, Herr Kujat, schon mehrfach gefordert, Sie haben es auch vorhin in unserem Gespräch schon angesprochen, das Problem sei aus Ihrer Sicht eben auch, dass nicht mit Russland gesprochen werde, sondern über Russland. Andererseits, wenn man sich das anschaut, was im Augenblick passiert, dass Putin offensichtlich immer dann, wenn der Westen den Druck erhöht, zu Kompromissen und zu Gesprächen bereit ist, haben Sie nicht das Gefühl, dass das in so eine ewige Taktiererei verfällt? Glauben Sie da wirklich an konkrete Folgen?
"Lass uns doch mit Putin reden"
Kujat: Es ist in der Tat Taktiererei, natürlich ist das Ziel, dieser Vorschlag von Putin auf dem NATO-Gipfel, er soll natürlich die NATO spalten. Denn es wird immer Staaten geben, die sagen, na ja, lass uns doch mit Putin reden, lass uns das Angebot annehmen, lasst uns ihn beim Wort nehmen, ob er wirklich dazu bereit ist, das zu tun, was er sagt. Und es wird andere geben, die sagen, das sind eigentlich nur taktische Winkelzüge wieder einmal, es macht überhaupt keinen Sinn. Nein, ich denke, man muss beides tun: Man muss mit einem konkreten Vorschlag auf Putin zugehen und man muss natürlich ihn dann auch beim Wort nehmen. Die erste Voraussetzung, um überhaupt diesen Konflikt beizulegen, ist natürlich ein Waffenstillstand, und zwar ein Waffenstillstand, der von unabhängigen Beobachtern, von einer internationalen Gruppe oder Truppe überwacht wird. Dieses hat Putin ja angeboten. Also, ich meine schon, wir können nicht auf Dauer diesen Konflikt weiter schwelen lassen, zumal es ja auch so aussieht, als sei Putin selbst mit seinem Latein am Ende. Er kann keinen entscheidenden Gewinn verzeichnen mit den Separatisten. Und auch die ukrainische Regierung ist am Ende. Und wenn sich beide in einer Sackgasse finden, dann ist es Zeit, sich einmal zurückzulehnen und wirklich ernsthaft über eine Lösung nachzudenken.
Hatting: Sie haben gerade gesagt, auch Putin sei am Ende. Aber nach allem, was wir hören aus dem Osten der Ukraine, scheint es ja so zu sein, dass die Separatisten wieder Boden gutmachen?
Kujat: Im Augenblick ja, das ist richtig. Aber er ist nach meiner Einschätzung nicht in der Lage, auf Dauer sozusagen seine ursprünglichen Ziele in der Ukraine zu erreichen. Das wird ihm nicht gelingen, denn dazu ist der Widerstand des Westens doch relativ stark. Und aber die Ukraine selbst ist auch im Grunde genommen am Ende, die ukrainische Armee ist überhaupt nicht leistungsfähig und die wirtschaftliche Situation ist katastrophal. Und wenn jetzt der Winter kommt, dann wird das alles eine Riesenkatastrophe werden.
Hatting: Sie haben gerade gesagt, man müsse jetzt auf Putin mit einem ganz konkreten Vorschlag zugehen. Wie soll der aussehen?
Kujat: Nun, ich habe dazu ganz konkrete Vorschläge gemacht, die können wir hier nicht erörtern. Aber ...
Hatting: Schade!
Kujat: Vielleicht in Stichworten nur: Das Erste ist natürlich ein Waffenstillstand, der international überwacht wird. Dazu gehören vertrauensbildende militärische Maßnahmen, sodass nicht beide Seiten uns ständig mit irgendwelchen Tatarenmeldungen überziehen können, wie das ja bisher der Fall ist, Dinge, die wir gar nicht glauben können. Aber dass auch zwischen den Parteien dort eine gewisse Stabilität erreicht wird. Und dann müssen zwei Dinge geschehen: Dann muss man darüber reden, wie die innere Verfasstheit der Ukraine aussehen soll, und dazu gehört nach meiner Meinung, dass die Minderheitenrechte der ethnischen Russen dort, aber auch der Polen und anderer Minderheiten garantiert werden in der Form einer föderalen Struktur. Und dazu gehört die äußere Verfasstheit. Und da muss eindeutig klar gestellt werden, dass die Ukraine nicht NATO-Mitglied werden kann und auch nicht NATO-Mitglied wird, und zwar aufgrund ihrer inneren Verfasstheit und aufgrund der Tatsache, dass die NATO niemals ihre Verpflichtung nach Artikel fünf einlösen könnte.
Hatting: Der ehemalige Vorsitzende des NATO-Militärausschusses, Bundeswehrgeneral a. D. Harald Kujat. Danke für das Gespräch!
Kujat: Ich danke Ihnen!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.