Gibt es sie noch, die Mauer in den Köpfen?

"Warum hat man im Westen 13 Schuljahre? 12 Jahre Schulunterricht, ein Jahr Schauspielunterricht." Dieser "Wessi-Witz" ist Peter Stawowy noch bestens in Erinnerung. Als der Journalist 2003 aus Nordrhein-Westfalen nach Dresden umzog, wurde er von den Redaktionskollegen bei der ostdeutschen Jugendzeitschrift "Spiesser" noch beäugt:
"Ich war für sie der 'Wessi', der weiß, wie alles geht", erinnert sich der heute 35-jährige. "Ich war aber auch ein emotionaler Krüppel für sie", sagt er lachend. Der begeisterte Wahl-Dresdener hat längst sein "Ossi-Diplom" bestanden und fühlt sich – auch im Kreis seiner hinzugewonnenen ostdeutschen Familie - pudelwohl.

Er ist allerdings immer noch erstaunt, welche Vorurteile seine ehemaligen Mitstudenten aus den alten Bundesländern gegenüber dem Osten Deutschlands haben. "Einer meiner Freunde aus Münster hatte Angst, dass er hier in Plattenbauten rumhängen muss und abends nichts los ist. Und dann war er total begeistert, wie schön es hier ist! Ich habe auch Kollegen aus Heidelberg, die fahren eher nach Hamburg oder München, aber nie nach Dresden - das ist emotional total weit weg."

Und wie sieht es die jüngere Generation, Schüler, Studenten, also auch die Leser des "Spiesser"? Um herauszufinden, wie die Jugendlichen in Ost und West übereinander denken, widmete die Zeitschrift, die ab September auch in den alten Bundesländern Fuß fassen will, dem Thema ein "Spiesser Spezial": "Meckerossi-Besserwessi". Stawowys Erfahrung: "Im ersten Moment sagen alle, 'Ich habe doch keine Vorurteile'. Beim zweiten Nachfragen kommen dann die Geschichten." … Und damit die Erfahrungen, zunächst als "karrieregeiler Wessi" zu gelten oder als "verklemmtes Plattenkind". Einer der Befragten, der "Ossi" Florian, brachte es auf den Punkt: "Vorurteile hat man nur, solange etwas unbekannt ist."

Wie steht es um die Deutschen in Ost und West? Dieser Frage ist der Bevölkerungsforscher Dr. Reiner Klingholz schon in mehreren Studien nachgegangen. Mit der letzten Erhebung sorgte der Direktor des Berlin-Instituts für Bevölkerung und Entwicklung für Schlagzeilen. Ihr Titel: "Not am Mann".

Ihr Tenor: Unter den 1,5 Millionen Menschen, die seit dem Fall der Mauer den Osten Deutschlands verlassen haben, sind überproportional gut gebildete Frauen, zurück bleibt eine Unterschicht schlecht gebildeter Männer. "Dieser Frauenmangel ist europaweit einzigartig", mahnt Reiner Klingholz. Und er warnt vor den mittelfristigen Folgen: "Die Frauen wandern ab, weil sie sich eine bessere Ausbildung und Arbeit versprechen, aber mit 20 - 30 sind sie auch auf Partnersuche. Und da sich Frauen erfahrungsgemäß auf gleicher Augenhöhe orientieren oder höher, suchen sie sich auch ihren Partner im Westen und bleiben da. Und ich frage mich: Was wird aus den schlecht gebildeten arbeitslosen Männer, die im Osten zurückbleiben? Was passiert, wenn die älter sind, partnerlos? Da wird die Abwanderung noch größer sein, das ist eine soziale Einbahnstraße. Diese Regionen sind sozial unattraktiv."

Neben dieser wissenschaftlichen Arbeit stellt Reiner Klingholz aber auch – ähnlich wie Peter Stawowy – fest, dass bei vielen Westdeutschen eine große Unkenntnis über die neuen Bundesländer vorherrscht: "Eine Unkenntnis gepaart mit Ignoranz. Viele Westdeutsche wissen doch gar nicht, wo Görlitz oder Chemnitz liegen. Für viele Westler gibt es keinen Anlass, in den Osten zu reisen. Die kennen sich viel besser auf Mallorca aus." Bei den Ostdeutschen sei es eher umgekehrt, sie seien nach der Wende eher in den Westen gereist.

"Gibt es sie noch, die Mauer in den Köpfen?"
Darüber diskutiert Gisela Steinhauer heute gemeinsam mit dem Bevölkerungsforscher Reiner Klingholz und dem Journalisten Peter Stawowy. Hörerinnen und Hörer können sich beteiligen unter der kostenlosen Telefonnummer 00800/22542254 oder per E-Mail unter gespraech@dradio.de.

Informationen im Internet unter:
www.berlin-institut.org
www.spiesser.de