Gibt es das Verschwinden des Penis?
Das Buch "Weltreise eines Sexualforschers" erzählt die Reise des skandalumwitterten Sexologen Magnus Hirschfeld von Deutschland nach Amerika und die 500-tägige Rückkehr durch Asien. Herausgeber Hans Christoph Buch zeigt Hirschfeld als fortschrittlichen Sozialisten und vehementen Anwalt demokratischer Ziele. Besonders die Gleichstellung der Frauen und die Rechte Homosexueller lagen Hirschfeld am Herzen.
Am 15. November 1930 reiste Magnus Hirschfeld, der skandalumwitterte Sexologe, Arzt und Publizist, einer der Pioniere der Schwulenbewegung, nach New York, um dort "Über den gegenwärtigen Stand der Sexualpathologie" vor der "deutsch-amerikanischen Ärzteschaft" zu sprechen. Sein Vortrag wurde begeistert aufgenommen. Weitere Einladungen führten ihn bis nach Kalifornien.
Offensichtlich hatte er in Berlin keine bindenden Verpflichtungen. In San Francisco fasste er spontan den Entschluss, "statt über den Atlantik, über den Stillen Ozean durch Asien nach Europa zurückzukehren."
"Ich hatte nämlich während meines Aufenthaltes in Amerika von Professor K. Dohi aus Tokio die Aufforderung empfangen, auf einem japanischen Ärztekongress über mein Spezialgebiet zu sprechen. Zugleich erinnerte ich mich, dass ich bereits vor Jahren wiederholt eingeladen worden war, an chinesischen Universitäten Lehrkurse zu geben."
Genau fünfhundert Tage dauert Hirschfelds Reise, die ihn nach Hawai, China, Japan, Indonesien, Indien, Ägypten und Palästina, und von dort aus zurück nach Bremerhaven führen wird. Diese Grande Tour erweist sich dabei als genaue Umkehrung jener legendären Reise, die Jules Verne in seinem Welterfolg In 80 Tagen um die Welt beschrieben hat.
Während Vernes Held, der reiche Müßiggänger Phileas Fogg in Rekordzeit fortzukommen trachtet, (jeder Schritt ist nach einem ausgeklügelten Zeitplan berechnet) nimmt sich der jüdische Wissenschaftler Magnus Hirschfeld viel Zeit und zögert seine Rückkehr hinaus. Vielleicht erlag er ja der schönen Illusion, der dramatisch anwachsende Antisemitismus in Europa würde während seiner Abwesenheit wieder abklingen und so an ihm vorüberziehen.
Seine Reise sei "weder beabsichtigt noch geplant". 176 Vorträge hält er über Fragen, die zu stellen ein Phileas Fogg als äußerst geschmacklos, als schlimmen Verstoß gegen die guten Manieren empfunden hätte: Über "Polygamie, Monogamie und Mutterrecht", über "sexuelle Zwischenstufen, Tanzknaben, Intersexuelle, Transvestiten, Androgyne und Eunuchen". Wir hören von der "furchtbaren Sitte der Kopfjägerei", wir erleben ihn auf der Suche nach Phallussteinen und nach der richtigen Antwort auf die Frage, ob es das "Verschwinden des Penis" tatsächlich gibt:
"Die Furcht, dass der Penis mehr und mehr zusammenschrumpfen und eines Tages völlig in die Bauchdecke einschlüpfen könne, scheint seit alters her unter den Chinesen weit verbreitet zu sein."
Hirschfelds Reisebeobachtungen klingen da unfreiwillig komisch - ja fast wie Parodien von Loriot -, wo er wilhelminisch-professoral mit seinen Kenntnissen auftrumpft:
"Ich sprach Menschen, die zwanzig Jahre in China und niemals in Peking waren. Alle diese Menschen behaupten, lange in China gewesen zu sein, und waren es scheinbar auch. In Wirklichkeit haben sie kaum eine Schwelle betreten. Ein guter Film hätte ihnen mehr vom Lande erzählt. Ich darf wohl sagen, dass ich mir genauere und gewissenhaftere Kenntnisse verschaffen konnte, namentlich was das sexual-ethnologische Gebiet betrifft."
Doch andererseits war Hirschfeld ein fortschrittlicher Sozialist, ein vehementer Anwalt demokratischer Ziele, besonders wenn es um die Gleichstellung der Frauen oder um die Rechte Homosexueller geht. Auch seine politischen Anmerkungen zur "Unterdrückung der Philippinos" oder "zum arabischen Anspruch" in Palästina zeigen ihn als hellsichtigen Beobachter. In seinem eigenen Fachgebiet äußert er sich jedoch oft summarisch, oder er wird anekdotisch, wobei er sich auf die problematischen Erzählungen einheimischer "Gewährsleute" stützt. Dabei wollte Hirschfeld vermutlich gerade mit seinem Reisebuch für seinen jungen von reaktionären Wissenschaftlern angefeindeten Forschungszweig werben.
Um das weltweite Interesse, selbst in den abgelegensten Winkeln noch "am gegenwärtigen Stand der Sexualpathologie" zu dokumentieren, hält er den Leser mit der Aufzählung angeblich wichtiger Persönlichkeiten und Kollegen auf. Hier hätte der kundige Herausgeber Hans Christoph Buch, durchaus einiges streichen können.
Dass er sich für die Homosexualität international offen einsetzte, er "die Freigabe der Sodomie wie eine Sache des Volkeswohles" betrieb, so der Simplizissimus-Autor Ludwig Thoma ironisch, wurde Hirschfeld von den Nazis besonders übel genommen. Es reizte ihn nicht, schrieb er nach seiner Rückkehr 1932, "im gegenwärtigen Deutschland unter 13 Millionen Hitlerianern zu arbeiten".
Nicht ohne Grund erschien dieses "sexualkundliche" Reisebuch nicht mehr in Berlin, sondern in Zürich. Das legendäre Institut für Sexualwissenschaft, das Hirschfeld 1919 gegründet hatte, wurde 1933 von den Nazis geplündert und zerstört. 1934 übersiedelte er nach Nizza, wo er 1935, wahrscheinlich an den Folgen einer Malariainfektion, die er sich auf seiner Weltreise in Indien zugezogen hatte, gestorben ist.
Magnus Hirschfeld: Weltreise eines Sexualforschers
Mit einem Vorwort von Hans Christoph Buch.
Die Andere Bibliothek im Eichborn Verlag, Frankfurt/Main 2006, 444 Seiten
Offensichtlich hatte er in Berlin keine bindenden Verpflichtungen. In San Francisco fasste er spontan den Entschluss, "statt über den Atlantik, über den Stillen Ozean durch Asien nach Europa zurückzukehren."
"Ich hatte nämlich während meines Aufenthaltes in Amerika von Professor K. Dohi aus Tokio die Aufforderung empfangen, auf einem japanischen Ärztekongress über mein Spezialgebiet zu sprechen. Zugleich erinnerte ich mich, dass ich bereits vor Jahren wiederholt eingeladen worden war, an chinesischen Universitäten Lehrkurse zu geben."
Genau fünfhundert Tage dauert Hirschfelds Reise, die ihn nach Hawai, China, Japan, Indonesien, Indien, Ägypten und Palästina, und von dort aus zurück nach Bremerhaven führen wird. Diese Grande Tour erweist sich dabei als genaue Umkehrung jener legendären Reise, die Jules Verne in seinem Welterfolg In 80 Tagen um die Welt beschrieben hat.
Während Vernes Held, der reiche Müßiggänger Phileas Fogg in Rekordzeit fortzukommen trachtet, (jeder Schritt ist nach einem ausgeklügelten Zeitplan berechnet) nimmt sich der jüdische Wissenschaftler Magnus Hirschfeld viel Zeit und zögert seine Rückkehr hinaus. Vielleicht erlag er ja der schönen Illusion, der dramatisch anwachsende Antisemitismus in Europa würde während seiner Abwesenheit wieder abklingen und so an ihm vorüberziehen.
Seine Reise sei "weder beabsichtigt noch geplant". 176 Vorträge hält er über Fragen, die zu stellen ein Phileas Fogg als äußerst geschmacklos, als schlimmen Verstoß gegen die guten Manieren empfunden hätte: Über "Polygamie, Monogamie und Mutterrecht", über "sexuelle Zwischenstufen, Tanzknaben, Intersexuelle, Transvestiten, Androgyne und Eunuchen". Wir hören von der "furchtbaren Sitte der Kopfjägerei", wir erleben ihn auf der Suche nach Phallussteinen und nach der richtigen Antwort auf die Frage, ob es das "Verschwinden des Penis" tatsächlich gibt:
"Die Furcht, dass der Penis mehr und mehr zusammenschrumpfen und eines Tages völlig in die Bauchdecke einschlüpfen könne, scheint seit alters her unter den Chinesen weit verbreitet zu sein."
Hirschfelds Reisebeobachtungen klingen da unfreiwillig komisch - ja fast wie Parodien von Loriot -, wo er wilhelminisch-professoral mit seinen Kenntnissen auftrumpft:
"Ich sprach Menschen, die zwanzig Jahre in China und niemals in Peking waren. Alle diese Menschen behaupten, lange in China gewesen zu sein, und waren es scheinbar auch. In Wirklichkeit haben sie kaum eine Schwelle betreten. Ein guter Film hätte ihnen mehr vom Lande erzählt. Ich darf wohl sagen, dass ich mir genauere und gewissenhaftere Kenntnisse verschaffen konnte, namentlich was das sexual-ethnologische Gebiet betrifft."
Doch andererseits war Hirschfeld ein fortschrittlicher Sozialist, ein vehementer Anwalt demokratischer Ziele, besonders wenn es um die Gleichstellung der Frauen oder um die Rechte Homosexueller geht. Auch seine politischen Anmerkungen zur "Unterdrückung der Philippinos" oder "zum arabischen Anspruch" in Palästina zeigen ihn als hellsichtigen Beobachter. In seinem eigenen Fachgebiet äußert er sich jedoch oft summarisch, oder er wird anekdotisch, wobei er sich auf die problematischen Erzählungen einheimischer "Gewährsleute" stützt. Dabei wollte Hirschfeld vermutlich gerade mit seinem Reisebuch für seinen jungen von reaktionären Wissenschaftlern angefeindeten Forschungszweig werben.
Um das weltweite Interesse, selbst in den abgelegensten Winkeln noch "am gegenwärtigen Stand der Sexualpathologie" zu dokumentieren, hält er den Leser mit der Aufzählung angeblich wichtiger Persönlichkeiten und Kollegen auf. Hier hätte der kundige Herausgeber Hans Christoph Buch, durchaus einiges streichen können.
Dass er sich für die Homosexualität international offen einsetzte, er "die Freigabe der Sodomie wie eine Sache des Volkeswohles" betrieb, so der Simplizissimus-Autor Ludwig Thoma ironisch, wurde Hirschfeld von den Nazis besonders übel genommen. Es reizte ihn nicht, schrieb er nach seiner Rückkehr 1932, "im gegenwärtigen Deutschland unter 13 Millionen Hitlerianern zu arbeiten".
Nicht ohne Grund erschien dieses "sexualkundliche" Reisebuch nicht mehr in Berlin, sondern in Zürich. Das legendäre Institut für Sexualwissenschaft, das Hirschfeld 1919 gegründet hatte, wurde 1933 von den Nazis geplündert und zerstört. 1934 übersiedelte er nach Nizza, wo er 1935, wahrscheinlich an den Folgen einer Malariainfektion, die er sich auf seiner Weltreise in Indien zugezogen hatte, gestorben ist.
Magnus Hirschfeld: Weltreise eines Sexualforschers
Mit einem Vorwort von Hans Christoph Buch.
Die Andere Bibliothek im Eichborn Verlag, Frankfurt/Main 2006, 444 Seiten