Gewonnene Jahre
Von Otfried Höffe · 01.09.2009
Die Altersstruktur unserer Gesellschaft hat sich so drastisch verändert, dass man von einer alternden Gesellschaft zu reden pflegt. Man denkt an eine zunehmende Vergreisung, da die Innovationen abnähmen, die Zahl der Pflegebedürftigen dagegen wachse.
Dieses Selbstbild unserer Gesellschaft hält einer näheren Prüfung nicht stand. Beispielsweise ist das Risiko, pflegebedürftig zu werden, in den letzten Jahren nicht etwa gestiegen, sondern gesunken. Vor allem bleiben die Menschen, die heute weit älter werden, auch länger frisch: sowohl körperlich als auch geistig, zusätzlich in emotionaler und sozialer Hinsicht. Nicht bei der angeblichen Überalterung liegt das Hauptproblem, sondern bei der "Unterjüngung". Schon heute leben in Europa mehr Menschen, die über sechzig, als Menschen, die unter fünfzehn Jahre alt sind.
Der mit der gestiegenen Lebenserwartung einhergehende Gewinn an Lebenszeit enthält ein noch nicht annähernd ausgeschöpftes Potential. Entgegen einer verbreiteten Legende sind die Menschen bis ins hohe Alter lernfähig. Sie lernen sogar mit den modernen Informationstechniken umzugehen. Wie wir es zunächst in Bezug auf das Radio und das Telefon, später das Fernsehen kennen, sind die modernen Informationsmittel wie der elektronische Brief (E-Mail) und das elektronische Weltnetz (Internet) sowohl ein "Tor zur Welt" als auch ein Forum für den sozialen Austausch.
Auf die lange Lernfähigkeit hat sich die Gesellschaft noch zu wenig eingestellt. Sowohl die Bilder als auch die gesellschaftlichen Institutionen sind vielfach veraltet. Deren notwendige Veränderung beginnt mit der Kritik an diskriminierenden Ausdrücken wie "alternde Gesellschaft", "Überalterung" und "Alterslast".
Der erste Ausdruck "alternde Gesellschaft" ist irreführend. Er setzt nämlich eine feste Altersgrenze voraus, die sich an einem äußeren, kalendarischen Alter, nicht aber am tatsächlich gelebten, dem biologischen, emotionalen, sozialen und geistigen Alter orientiert. Legt man deshalb wirklichkeitsnähere Kriterien zugrunde, so rücken die zahlreichen "jungen Alten" hinsichtlich ihres Erscheinungsbildes, ihrer Ansprüche und ihrer Leistungen eher in die Richtung der Lebensmitte.
Auch der beim Ausdruck "alternde Gesellschaft" mitschwingenden Befürchtung von "Überalterung" und "Alterslast" liegen falsche Ansichten zugrunde. Beispielsweise nimmt man an, dass ältere Beschäftigte weniger produktiv seien. Wahr ist, dass sie zwar weniger kräftig und weniger reaktionsschnell sind, sie verfügen aber häufig über ein Mehr an Erfahrung, an sozialen Fertigkeiten und an Alltagskompetenz. Eine erfreuliche Folge: Volkswirtschaften mit einer älteren Bevölkerung sind nicht zum Nullwachstum verdammt, vorausgesetzt dass sie die Aus- und Weiterbildung stärken.
Als empirisch falsch erweist sich auch die Ansicht, die Alten nähmen den Jungen die Arbeitsplätze weg. In Wahrheit kann die verstärkte Beschäftigung älterer Arbeitnehmer über zwei Begleitumstände, eine Senkung der Lohnnebenkosten und niedrigere Sozialversicherungsbeiträge, neue Arbeitsplätze schaffen und das wirtschaftliche Wachstum steigern helfen. Frühverrentung hingegen belastet durch höhere Sozialversicherungsbeiträge auch die jüngeren Arbeitnehmer.
Schließlich ist die Ansicht zu korrigieren, alte Menschen fielen ihren Angehörigen grundsätzlich zur Last. Tatsächlich geben sie in der Regel viele Jahre lang mehr Unterstützung, als sie empfangen. Teils durch finanzielle, teils durch praktische Hilfe im Haushalt oder bei der Betreuung der Enkelkinder tragen sie maßgeblich dazu bei, den jungen Erwachsenen die Schwierigkeiten des Berufseinstiegs und der Familiengründung zu erleichtern. Hinzu kommt, dass sich die Älteren in beträchtlichem Maße ehrenamtlich engagieren.
Auch wenn das nicht der entscheidende Gesichtspunkt ist: Die Älteren sind für uns ein Gewinn.
Otfried Höffe, Jahrgang 1943, Philosoph, Lehrstuhl an der Universität Tübingen, sowie ständiger Gastprofessor für Rechtsphilosophie an der Universität St.Gallen (Schweiz), Mitglied diverser wissenschaftlicher Akademien im In-und Ausland.
Der mit der gestiegenen Lebenserwartung einhergehende Gewinn an Lebenszeit enthält ein noch nicht annähernd ausgeschöpftes Potential. Entgegen einer verbreiteten Legende sind die Menschen bis ins hohe Alter lernfähig. Sie lernen sogar mit den modernen Informationstechniken umzugehen. Wie wir es zunächst in Bezug auf das Radio und das Telefon, später das Fernsehen kennen, sind die modernen Informationsmittel wie der elektronische Brief (E-Mail) und das elektronische Weltnetz (Internet) sowohl ein "Tor zur Welt" als auch ein Forum für den sozialen Austausch.
Auf die lange Lernfähigkeit hat sich die Gesellschaft noch zu wenig eingestellt. Sowohl die Bilder als auch die gesellschaftlichen Institutionen sind vielfach veraltet. Deren notwendige Veränderung beginnt mit der Kritik an diskriminierenden Ausdrücken wie "alternde Gesellschaft", "Überalterung" und "Alterslast".
Der erste Ausdruck "alternde Gesellschaft" ist irreführend. Er setzt nämlich eine feste Altersgrenze voraus, die sich an einem äußeren, kalendarischen Alter, nicht aber am tatsächlich gelebten, dem biologischen, emotionalen, sozialen und geistigen Alter orientiert. Legt man deshalb wirklichkeitsnähere Kriterien zugrunde, so rücken die zahlreichen "jungen Alten" hinsichtlich ihres Erscheinungsbildes, ihrer Ansprüche und ihrer Leistungen eher in die Richtung der Lebensmitte.
Auch der beim Ausdruck "alternde Gesellschaft" mitschwingenden Befürchtung von "Überalterung" und "Alterslast" liegen falsche Ansichten zugrunde. Beispielsweise nimmt man an, dass ältere Beschäftigte weniger produktiv seien. Wahr ist, dass sie zwar weniger kräftig und weniger reaktionsschnell sind, sie verfügen aber häufig über ein Mehr an Erfahrung, an sozialen Fertigkeiten und an Alltagskompetenz. Eine erfreuliche Folge: Volkswirtschaften mit einer älteren Bevölkerung sind nicht zum Nullwachstum verdammt, vorausgesetzt dass sie die Aus- und Weiterbildung stärken.
Als empirisch falsch erweist sich auch die Ansicht, die Alten nähmen den Jungen die Arbeitsplätze weg. In Wahrheit kann die verstärkte Beschäftigung älterer Arbeitnehmer über zwei Begleitumstände, eine Senkung der Lohnnebenkosten und niedrigere Sozialversicherungsbeiträge, neue Arbeitsplätze schaffen und das wirtschaftliche Wachstum steigern helfen. Frühverrentung hingegen belastet durch höhere Sozialversicherungsbeiträge auch die jüngeren Arbeitnehmer.
Schließlich ist die Ansicht zu korrigieren, alte Menschen fielen ihren Angehörigen grundsätzlich zur Last. Tatsächlich geben sie in der Regel viele Jahre lang mehr Unterstützung, als sie empfangen. Teils durch finanzielle, teils durch praktische Hilfe im Haushalt oder bei der Betreuung der Enkelkinder tragen sie maßgeblich dazu bei, den jungen Erwachsenen die Schwierigkeiten des Berufseinstiegs und der Familiengründung zu erleichtern. Hinzu kommt, dass sich die Älteren in beträchtlichem Maße ehrenamtlich engagieren.
Auch wenn das nicht der entscheidende Gesichtspunkt ist: Die Älteren sind für uns ein Gewinn.
Otfried Höffe, Jahrgang 1943, Philosoph, Lehrstuhl an der Universität Tübingen, sowie ständiger Gastprofessor für Rechtsphilosophie an der Universität St.Gallen (Schweiz), Mitglied diverser wissenschaftlicher Akademien im In-und Ausland.