Gewöhnlich und doch besonders

Von Wiebke Hüster |
Der Anfang von Jean-Claude Gallottas 2006 uraufgeführtem Stück „Des gens qui dansent“, das jetzt beim Berliner Festival „Tanz im August“ an zwei Abend im Haus der Berliner Festspiele zu sehen war, kann keinen Zuschauer überraschen, der an Tanztheaterszenen gewöhnt ist: Gallottas zehn Tänzer bauen sich in einer Reihe an der Rampe auf und sprechen zum Publikum über ihre Motive zu tanzen.
Aber wie sie das tun, ist eben doch besonders: Hier werden nicht etwa echte, intime autobiographische Bekenntnisse abgelegt, hier werden Witze über eine Profession gerissen, die in etwas besteht, das im Prinzip jeder kann. Sie tanze mit hundertprozentigem Einsatz, sagt die alte Frau in der Compagnie, und nach einer kleinen Pause fährt sie fort: meistens jedenfalls. Er tanze, um beim Trinken Pausen einlegen zu müssen, sagt ein farbiger, nicht sehr großer Mann. Und die wunderschöne Blondine mit den langen Beinen und den hohen Absätzen sagt leicht pathetisch, sie tanze, um etwas gegen das Elend in der Welt zu tun, aber … und sie hält inne, als würde sie von der Sinnlosigkeit ihrer Bemühungen überwältigt, und wendet sich mit einem herrlich gespielten Schluchzen ab.

Soviel zu den Tänzern, den „Menschen, die tanzen“, wie der Stücktitel lapidar lautet, nun zum Choreographen. Er hat unter ihnen den komischsten und den brillantesten Auftritt. Jean-Claude Gallotta irrt im dunklen Anzug über die dunkle, leere Bühne, eine seltsame Strickmütze auf dem Kopf. Vor sich murmelnd, Zickzack und Schlangenlinien laufend, nervös mit den Händen fuchtelnd. „Vielleicht sollte man etwas machen, hier vielleicht einen kleinen Tanz!“ ruft er schließlich aus – da lacht das ausverkaufte Haus schon über den zerstreuten Professorkünstler, der gehen, laufen, murmeln muss, während er seine Ideen produziert. Und da erscheinen auch schon seine Tänzer und stellen in einer ersten, so präzise wie energiegeladen getanzten Ensemble-Szene das Talent ihres Direktors unter Beweis.

Später wird er einen seiner besten Tänzer zu einem bewegenden, von einem wilden Drang nach Befreiung, danach, sich zu nehmen, wonach es einen gelüstet, durchdrungenen Solo anfeuern. Vorne tanzt der jüngere Mann, im Hintergrund bewegt sich Gallotta und singt für sein Alter Ego einen aufregenden Rapgesang in einer Phantasiesprache. Die aufpeitschende Musik und der durch sie wie befreit auch sehr intime Regungen preisgebende Tänzer sind typisch für Gallottas Ästhetik der Gegensätze. Zwei Männer, einer alt, einer dick, tanzen ein enges Duett voll der hübschesten Stereotypen des zeitgenössischen Tanzes. Die alte Frau sieht ihre eigene Vergangenheit in den jugendlich unbekümmerten Kraftakten einer zierlichen Tänzerin gespiegelt oder spielt ihre eigene große, längst vergangene Liebesgeschichte in einem Duett symbolisch nach. Gallotta durchstreift wieder die Bühne und flüstert von kleinen Erinnerungen, die sein Gedächtnis nicht losließen. Die will er tanzen lassen, und das gelingt ihm in manchen Moment zu mehr als einhundert Prozent. Nur selten trägt er mit seiner unnachahmlich französischen Mischung aus Komödie und Kammerspiel, aus Leichtigkeit und Nachdenklichkeit, etwas zuviel Poesiekitsch auf. Aber vielleicht lieben ihn die Leute, die zuschauen, womöglich gerade dafür, dass er keine Scheu hat, die bei dieser Festivalausgabe sonst wieder so peinlich eingehaltene Grenze des modischen Zeitgeists (hier haben doch nicht etwa Leute auf der Bühne Gefühle!) zu überschreiten.