Gewalt als Bühnenstoff

Von Martina Nix |
Seit 1976 wählen die Mühlheimer Theatertage "die interessantesten Novitäten der deutschsprachigen Dramatik" aus. Bis zum 2. Juni werden die acht Stücke der Autoren gezeigt, die für den Mülheimer Dramatikerpreis nominiert sind. Mit dabei ist auch das Debütstück "Nachtblind" von Darja Stocker in der Inszenierung des Hamburger Thalia Theaters. Das Erstlingswerk der Schweizerin gewann bereits vor zwei Jahren, noch bevor es uraufgeführt wurde, den Heidelberger Stückemarkt.
Draußen auf der Straße tobt das multikulturelle Leben Kreuzbergs. Seit einem Jahr wohnt Darja Stocker jetzt hier in einer Wohngemeinschaft. Der Berliner Bezirk erinnert die 24-Jährige an den Zürcher Stadtteil, in dem sie aufgewachsen ist.

"Das kenne ich also diese Durchmischung, die es hier hat und das Bild so, die Häuser sind einfach höher, aber das Straßenbild ist mir halt vertraut und ich glaub' darum habe ich da auch keine Berührungsängste."

Sie sitzt aufrecht, in hellen Jeans und türkisfarbener Sweatshirtjacke. Ihre langen dunkelblonden Haare sind zurückgebunden. Sie wirkt sehr ernsthaft, obwohl sie sich selbst als humorvoll bezeichnet. Diesen Humor hat sie in ihrem Debütstück "Nachtblind" allerdings eher versteckt.

Die 15-jährige Leyla findet während der Pubertät weder Halt bei ihren Eltern, noch bei ihrem kleinen Bruder, der seine Aggressivität immer weniger in den Griff bekommt. Erst als sie den gleichaltrigen Moy kennen lernt, gewinnt sie wieder Boden unter den Füßen und trennt sich von ihrem älteren Freund, der sie oft verprügelte.

Auf das Thema ihres ersten Stückes kam Darja Stocker als sie für eine Gymnasial-Arbeit Jugendliche nach ihren Träumen und Wünschen befragte. Da erzählten Nachbarn oder Mitschüler nicht etwa schwärmerisch über ihre Zukunft, sondern über ganz alltägliche Probleme, und immer wieder über häusliche Gewalt. Sie fragt sich, warum gerade junge Männer, die nicht aus einem Gewaltmilieu kommen, zuschlagen.

"Das war für mich halt schon schockierend, dass es das überhaupt noch gibt. Ich dachte halt, nein, das lässt sich heute keine mehr gefallen und auch dass man davon überrascht wird, dass es diese Mechanismen noch gibt, wo einem doch gesagt wurde, die gibt's nicht mehr."

Darja Stocker wächst nach der Trennung der Eltern bei ihrer Mutter in Zürich auf. Jeden Abend liest ihr die Unterstufenlehrerin Geschichten vor. Am Wochenende verbringt sie mit ihrem Vater, einem Schwimmlehrer und ihren zwei jüngeren Halbbrüdern viel Zeit in der Natur. In der Schule wird Darja Stocker mit dem aggressiven Verhalten von Jugendlichen konfrontiert. Sie beobachtet, dass Lehrer und Eltern einfach darüber hinwegsehen und Angst davor haben, sich mit den Problemen der Schüler auseinander zusetzen. Die dagegen, so ihr Fazit, fühlten sich dadurch nicht ernst genommen.

"Und dass viele Jugendliche dann dadurch einfach immer weiter gehen, bis dann mal 'ne Grenze ist, also meistens dann leider die Polizei, das kommt in meinem Stück nicht vor, aber in der Realität ist es so, dass schlussendlich die Polizei eingreift. Das hat mich dann sehr berührt und da habe ich dann den Knackpunkt eigentlich in der Familie gesetzt, weil die ganzen gesellschaftlichen Probleme darzustellen. Das ist sehr schwierig auf der Bühne."

Gleich nach der Zürcher Uraufführung 2006 wurde das Stück als Hörspiel produziert und von vielen deutschen Theatern nachgespielt. Gewalt in Familien und gegenüber Frauen ist auch hierzulande immer noch ein brisantes Thema.

"Und darum habe ich das dann auch wirklich geschrieben, weil ich dachte, ich kann ja nicht wirklich was schreiben, was dann irgendwie nur drei Leute betrifft."

Früh schon denkt sie sich eigene Geschichten aus. Und endlich mit 11 bekommt sie den ersehnten Computer und bringt sich das Zehnfingersystem bei. Von da an schreibt sie jeden Tag nach der Schule drei oder vier Stunden. Mit 15 beginnt sie in einem Jugendclub Theater zu spielen und schreibt dann mit 20 auch ihre ersten Theatertexte für diese Laienschauspielgruppe.

"Es hat mir unheimlich gefallen und hat mir sehr viel Energie gegeben, auch zu schreiben und alles zusammenzumeistern. Diese Zeit vermisse ich manchmal, weil es so produktiv war und fast noch keine Konkurrenz, wenn man so jung ist und man noch gar nicht weiß, was man tun will. Es war unbeschwert und unheimlich intensiv."

Dabei weiß Darja Stocker eigentlich schon lange, dass sie für das Theater schreiben will. Da es in der Schweiz keinen Studiengang für Theaterautoren gibt, studiert sie zunächst zwei Jahre lang Ethnologie in Zürich. Dann erfährt sie bei einem Schreibworkshop, dass die Berliner Universität der Künste Szenisches Schreiben explizit für das Theater anbietet. Dort bewirbt sie sich dann 2006.

"Für mich ist es die Fiktion, die Geschichte, die Menschen berührt und auch über ein Thema erzählt. Ich möchte schreiben, ich wollte schon immer schreiben, ich habe schon immer geschrieben."

Dass man nicht unbedingt vom Schreiben leben kann, ist Darja Stocker durchaus bewusst. Sie weiß, dass sie später nach dem Studium wahrscheinlich jobben muss, um Geld zu verdienen. Das aber würde ihr auch die Möglichkeit geben, so lange an einem Stück zu arbeiten, wie sie eben will. An ihrem Debüt "Nachtblind" schrieb sie immerhin vier Jahre, bis es die Tiefe hatte, die ein gutes Stück, ihrer Meinung nach, nun mal benötigt.

"In der Realität ist es oft so, dass die Leute über Schichten hinweg gar nicht kommunizieren. Und im Theater habe ich die Möglichkeit, diese kommunizieren zu lassen, auch miteinander und eine Ausnahmesituation zu behaupten und dadurch können die Leute Dinge erfahren, die sie sonst nicht erfahren würden."