Getupfte Flaneure
Erst malte Georges Seurat in flächiger Manier Bauern und Steinklopfer aus der Umgebung von Paris. Doch bald fand er die Figuren, mit denen er berühmt werden sollte: Freizeitmenschen, die flanieren und in der Seine baden, zusammengesetzt aus flirrenden bunten Punkten.
Eines der schönsten Bilder Seurats ist Blickfang gleich zu Beginn: der Eiffelturm aus Konfetti, zusammengesetzt aus flirrenden bunten Punkten, wie sie für den "Pointillisten” Seurat typisch waren. Dass dieses später zur Ikone gewordene Bauwerk auf dem Gemälde merkwürdig abbricht, ist den Zeitumständen geschuldet: Der Eiffeltum war damals erst zu vier Fünfteln errichtet. Seurat, ein Pionier auch mit diesem Motiv.
Hatte er in seinem kurzen Künstlerleben anfangs noch in flächiger Manier Bauern und Steinklopfer aus der Umgebung von Paris gemalt, so fand er bald die Figuren, mit denen er berühmt werden sollte: Freizeitmenschen, die am Ufer der Seine und auf der Seine-Insel hocken, die flanieren und baden, jeder für sich. So sehr fühlte er sich seiner neuen akribischen Malweise verpflichtet, dass mancher heute noch meint, Seurat habe sich vor allem für seine Methode interessiert, die Motive selbst seien austauschbar gewesen. Max Hollein, Direktor der Schirn:
"Natürlich spielt die Figur bei ihm eine besondere Rolle. Ich glaube auch, dass er sich für die Figuren an sich, die Menschen, interessiert. Man muss allerdings feststellen, dass Seurat in seiner Komposition zur Isolierung und Einzelidentifikation des Menschen strebt. Das auch macht den besonderen Reiz, diese Kühle und Starre seiner Kompositionen, aus."
Isoliert sind diese Figuren in ihrer Freizeit, scheinen einander entfremdet, schauen sich nicht an, starren vor sich hin, wirken statuarisch. Katharina Dohm, Kuratorin an der Schirn:
"Ich glaube, die Figuren, die Menschen bleiben uns fremd, weil sie keinen Blickkontakt mit uns, den Betrachtern, aufnehmen. Aber es sind keine kühlen Kompositionen. Im Gegenteil: Die Farben leuchten aus dem Bild heraus, und gerade an den Figuren kann man es sehr gut nachvollziehen: Diese Farben, die nebeneinander gesetzt werden, die Komplementärfarben, die dann noch viel stärker wirken."
Mit den Menschen auf den Bildern Seurats hat sich für seinen Katalogaufsatz der Schriftsteller (und Büchner-Preisträger) Wilhelm Genazino befasst. Von trügerischen Idyllen schreibt er, denn diese teilnahmslos wirkenden Menschen seien Figuren in einem entfremdeten Großstadtleben, Statisten eines schwer durchschaubaren Alltags. Sind sie also Opfer der Moderne? Genazino:
"Soweit würde ich nicht gehen. Opfer werden sie erst in der Spätmoderne. Die Leute merken gerade eben, was los ist und was auf sie zukommt. Das wird am Rande der Bilder durch die Fabrikschlote sichtbar. Aber im Moment der Lebenszeit von Seurat sind sie noch in Abrahams Schoß. Das Unglück der Fabrikarbeit und all diese Dinge werden in großem Stil erst noch kommen. Aber man sieht sie nahen, und das ist die Leistung von Seurat."
"Figur im Raum” ist diese Ausstellung überschrieben. Gegen Ende dominieren die Räume ohne menschliche Figuren - es sind großartige Küstenlandschaften in pointillistischer Manier: mit Booten, einem gewaltigen Felsen, mit Hafeneinfahrt und Leuchtturm. Man könnte bei diesen Impressionen von einer poetischen Verwandlung der Motive sprechen, würde damit aber den Künstler zum Widerspruch reizen. Schließlich formulierte er einmal: "Sie sehen Poesie in dem, was ich mache. Nein, ich wende meine Methode an, und das ist alles." Es ist das Regiment der Punkte. Eine Methode immerhin, die wissenschaftlich fundiert war – so Katharina Dohm:
"Insofern, dass Seurat die Publikationen der Zeit kannte. Er hat die Physiker gelesen, die sich wie Helmholtz mit Raumwirkung auseinandergesetzt haben. Und er hat diese Grundlagen sicherlich mit in seine Kompositionen und seine malerische Tätigkeit einfließen lassen. Er hat aber nicht versucht, wissenschaftliche Thesen in seinen Bildern zu zeigen. Da kommt die künstlerische Freiheit hinzu."
Max Hollein:
"Man darf nicht vergessen, dass Seurat in einem Zeitalter gelebt hat, in dem Künstler vielfältig mit wissenschaftlichen Erkenntnissen gearbeitet haben. Die Form, die er gefunden hat, basiert auf dem neuen Interesse an der Wahrnehmungsprinzipien und an der Kraft des Künstlers, seinen Werkzeugen, hier spezifisch der Farbe."
Zuletzt belebt sich mit einer turbulenten Zirkusszene die Bildwelt Seurats noch einmal auf fulminante Weise. Artisten, aber auch Tänzerinnen und Tänzer rückten zunehmend in sein Blickfeld. Das großformatige Zirkusbild von 1890 / 91 ist wohl das einzige der sogenannten Hauptwerke, das noch reisen darf. Manches andere, vielfach reproduzierte Kabinettstück wie "Ein Sonntagnachmittag auf der Insel La Grande Jatte” vermisst man, aber die in Frankfurt präsentierten, vorausgegangenen Ölstudien auf Holztafeln sind höchst aufschlussreich. Mit ihrer Hilfe konnte Seurat in der Nachfolge der Freilichtmaler seine Eindrücke vor Ort festhalten und sich anschließend seiner präzisen Atelierarbeit widmen, auf die es ihm eigentlich ankam.
Die vielen eigenständigen Zeichnungen in dieser Ausstellung sind ebenso wenig als "Füllstoff" zu sehen, sie sind sogar ein Ereignis: Mit weichem Kohlestift brachte er seine Motive auf raues Büttenpapier - Felder und Wälder, häusliche Eindrücke, großstädtische Szenen, Männer mit Zylinder, Frauen mit Muff und Schirm und andere bürgerliche Figuren, die in ihrer Körperlichkeit bis an den Rand der Karikatur gerieten. Und immer traumhafte Hell-Dunkel-Kontraste: weiße Flächen mit schwarzen Spuren und schwarze Flächen mit weißen Pigmenten, mit Punkten, könnte man analog zu seiner Malerei sagen.
Die Frankfurter Schau ist eine vorzügliche Gelegenheit, sich mit Seurat, diesem kühlen Klassiker der Moderne, erneut zu befassen: dem im Alter von 31 Jahren verstorbenen Maler, der sich von den vorübergehenden Umständen des Augenblicks wie dem momentanen Licht, löste und stattdessen eine eigene Welt aus Farbtupfern erfand. So gesehen war er weniger ein Sonderfall des Impressionismus als vielmehr einer von dessen Überwindern.
Hatte er in seinem kurzen Künstlerleben anfangs noch in flächiger Manier Bauern und Steinklopfer aus der Umgebung von Paris gemalt, so fand er bald die Figuren, mit denen er berühmt werden sollte: Freizeitmenschen, die am Ufer der Seine und auf der Seine-Insel hocken, die flanieren und baden, jeder für sich. So sehr fühlte er sich seiner neuen akribischen Malweise verpflichtet, dass mancher heute noch meint, Seurat habe sich vor allem für seine Methode interessiert, die Motive selbst seien austauschbar gewesen. Max Hollein, Direktor der Schirn:
"Natürlich spielt die Figur bei ihm eine besondere Rolle. Ich glaube auch, dass er sich für die Figuren an sich, die Menschen, interessiert. Man muss allerdings feststellen, dass Seurat in seiner Komposition zur Isolierung und Einzelidentifikation des Menschen strebt. Das auch macht den besonderen Reiz, diese Kühle und Starre seiner Kompositionen, aus."
Isoliert sind diese Figuren in ihrer Freizeit, scheinen einander entfremdet, schauen sich nicht an, starren vor sich hin, wirken statuarisch. Katharina Dohm, Kuratorin an der Schirn:
"Ich glaube, die Figuren, die Menschen bleiben uns fremd, weil sie keinen Blickkontakt mit uns, den Betrachtern, aufnehmen. Aber es sind keine kühlen Kompositionen. Im Gegenteil: Die Farben leuchten aus dem Bild heraus, und gerade an den Figuren kann man es sehr gut nachvollziehen: Diese Farben, die nebeneinander gesetzt werden, die Komplementärfarben, die dann noch viel stärker wirken."
Mit den Menschen auf den Bildern Seurats hat sich für seinen Katalogaufsatz der Schriftsteller (und Büchner-Preisträger) Wilhelm Genazino befasst. Von trügerischen Idyllen schreibt er, denn diese teilnahmslos wirkenden Menschen seien Figuren in einem entfremdeten Großstadtleben, Statisten eines schwer durchschaubaren Alltags. Sind sie also Opfer der Moderne? Genazino:
"Soweit würde ich nicht gehen. Opfer werden sie erst in der Spätmoderne. Die Leute merken gerade eben, was los ist und was auf sie zukommt. Das wird am Rande der Bilder durch die Fabrikschlote sichtbar. Aber im Moment der Lebenszeit von Seurat sind sie noch in Abrahams Schoß. Das Unglück der Fabrikarbeit und all diese Dinge werden in großem Stil erst noch kommen. Aber man sieht sie nahen, und das ist die Leistung von Seurat."
"Figur im Raum” ist diese Ausstellung überschrieben. Gegen Ende dominieren die Räume ohne menschliche Figuren - es sind großartige Küstenlandschaften in pointillistischer Manier: mit Booten, einem gewaltigen Felsen, mit Hafeneinfahrt und Leuchtturm. Man könnte bei diesen Impressionen von einer poetischen Verwandlung der Motive sprechen, würde damit aber den Künstler zum Widerspruch reizen. Schließlich formulierte er einmal: "Sie sehen Poesie in dem, was ich mache. Nein, ich wende meine Methode an, und das ist alles." Es ist das Regiment der Punkte. Eine Methode immerhin, die wissenschaftlich fundiert war – so Katharina Dohm:
"Insofern, dass Seurat die Publikationen der Zeit kannte. Er hat die Physiker gelesen, die sich wie Helmholtz mit Raumwirkung auseinandergesetzt haben. Und er hat diese Grundlagen sicherlich mit in seine Kompositionen und seine malerische Tätigkeit einfließen lassen. Er hat aber nicht versucht, wissenschaftliche Thesen in seinen Bildern zu zeigen. Da kommt die künstlerische Freiheit hinzu."
Max Hollein:
"Man darf nicht vergessen, dass Seurat in einem Zeitalter gelebt hat, in dem Künstler vielfältig mit wissenschaftlichen Erkenntnissen gearbeitet haben. Die Form, die er gefunden hat, basiert auf dem neuen Interesse an der Wahrnehmungsprinzipien und an der Kraft des Künstlers, seinen Werkzeugen, hier spezifisch der Farbe."
Zuletzt belebt sich mit einer turbulenten Zirkusszene die Bildwelt Seurats noch einmal auf fulminante Weise. Artisten, aber auch Tänzerinnen und Tänzer rückten zunehmend in sein Blickfeld. Das großformatige Zirkusbild von 1890 / 91 ist wohl das einzige der sogenannten Hauptwerke, das noch reisen darf. Manches andere, vielfach reproduzierte Kabinettstück wie "Ein Sonntagnachmittag auf der Insel La Grande Jatte” vermisst man, aber die in Frankfurt präsentierten, vorausgegangenen Ölstudien auf Holztafeln sind höchst aufschlussreich. Mit ihrer Hilfe konnte Seurat in der Nachfolge der Freilichtmaler seine Eindrücke vor Ort festhalten und sich anschließend seiner präzisen Atelierarbeit widmen, auf die es ihm eigentlich ankam.
Die vielen eigenständigen Zeichnungen in dieser Ausstellung sind ebenso wenig als "Füllstoff" zu sehen, sie sind sogar ein Ereignis: Mit weichem Kohlestift brachte er seine Motive auf raues Büttenpapier - Felder und Wälder, häusliche Eindrücke, großstädtische Szenen, Männer mit Zylinder, Frauen mit Muff und Schirm und andere bürgerliche Figuren, die in ihrer Körperlichkeit bis an den Rand der Karikatur gerieten. Und immer traumhafte Hell-Dunkel-Kontraste: weiße Flächen mit schwarzen Spuren und schwarze Flächen mit weißen Pigmenten, mit Punkten, könnte man analog zu seiner Malerei sagen.
Die Frankfurter Schau ist eine vorzügliche Gelegenheit, sich mit Seurat, diesem kühlen Klassiker der Moderne, erneut zu befassen: dem im Alter von 31 Jahren verstorbenen Maler, der sich von den vorübergehenden Umständen des Augenblicks wie dem momentanen Licht, löste und stattdessen eine eigene Welt aus Farbtupfern erfand. So gesehen war er weniger ein Sonderfall des Impressionismus als vielmehr einer von dessen Überwindern.