Geteiltes Leid ist halbes Leid

Der vor zehn Jahren verstorbene Soziologe Niklas Luhmann kommentiert in seinem Band "Liebe" die Entwicklung zur individuellen Passion als Grundlage von Paarbeziehungen. Die Probleme liegen seiner Meinung nach in den hohen Anforderungen autonomer Liebe und damit in ihrer gesteigerten Anfälligkeit für Enttäuschungen.
Wird davon gesprochen, dass wir in einer modernen Gesellschaft leben, dann sind meist Errungenschaften der Demokratie, des Rechtsstaates, der industriell geprägten Marktwirtschaft oder des wissenschaftlich-technischen Weltzugriffs gemeint. Die moderne Gesellschaft erscheint darum "entzaubert", von Kalkulationen, von Rationalität und von Massenerscheinungen bestimmt.

Als der Soziologe Niklas Luhmann 1969 eines seiner ersten Seminare an der damals gerade gegründeten Universität Bielefeld hielt, galt es einem Phänomen, das quer zu solchen Trends steht: der modernen Liebe. Luhmanns Thema war die Privatisierung der Intimbeziehungen. Seit mehr als einhundert Jahren gründet sich Liebe nicht mehr auf Heirat, sondern Heirat – oder wie man später sagt: "Partnerwahl" - auf Liebe. Eine ganze Sozialstruktur wurde damit auf den Kopf gestellt.

Die Familiengründung stützt sich seitdem nicht mehr auf Besitz, auf Herkunft und auf die Entscheidung von Erwachsenen, sondern auf Gefühle, Freiheit und die Entscheidung von mehr oder weniger Jugendlichen. In Angelegenheiten der Liebe, so Luhmann, erlaubt sich der Mensch seitdem eine ganz offene Rücksichtslosigkeit gegenüber moralischer und gesellschaftlicher Verantwortung. Es sollen nur Leidenschaft, Attraktion, Seelenverwandtschaft und also romantische Kriterien gelten.

Mit bezwingend lakonischer Sachlichkeit geht der Soziologe der Frage nach, was die Menschen denn von so einer unwahrscheinlichen, sie in Vielem überfordernden Einrichtung ihres Privatlebens haben. Luhmanns Antwort: Als Individuum kommt der moderne Mensch in allen anderen gesellschaftlichen Bereichen nicht mehr vor, sondern mal als Wähler, mal als Konsument oder Produzent, dann wieder als Patient, als Tourist oder als Museumsbesucher. Ganz aber, in allen seinen Ansichten, Eigenwilligkeiten und Sondermerkmalen, wird das Individuum nur dort sozial akzeptiert, wo es geliebt wird.

Liebe ist die mitgeteilte Bereitschaft, eine Weltsicht komplett zu übernehmen, oder mindestens so tun. Und darum wird die Liebe selber geliebt: Weil sie eine Art Ausgleichsinstanz für Abstraktionen ist, die moderne Gesellschaften an ihren Mitglieder vornehmen.

So weit, so schön. Aber Luhmann bilanziert auch, was schwierig bleibt, an dieser Entwicklung hin zur individuellen Passion als Grundlage von Paarbildung. Die Probleme liegen in den hohen Anforderungen autonomer Liebe, in ihrer gesteigerten Anfälligkeit für Enttäuschungen. Es wird so getan, als brauche die Liebe keine soziale Unterstützung außer derjenigen durch den Partner. Es wird so getan, als liebe man andauernd. Es wird so getan, als liebe man schlechterdings alles an der betreffenden Person. Ein Liebender, zitiert Luhmann eine Definition George Bernard Shaws, ist jemand, der den Unterschied zwischen einer Frau und anderen Frauen übertreibt.

An solchen Beschreibungen merkt man, dass 1969 der heute oft übliche Umgang mit solchen Übertreibungen noch nicht durchgesetzt war. Der "one night stand", der seinerseits so tut, als könne man Liebe und Sexualität komplett auseinanderziehen, war noch nicht en vogue. Die Skala der zeitlich, örtlich und in Bezug auf Kinder begrenzten Paarmodelle war eng. Die Familientherapie hatte noch nicht den Betrieb aufgenommen. Scheidung galt als verwerflich.

Aber auch, wenn das alles überwunden ist und die Einzelnen mehr Freiheit im Umgang mit Liebe genießen, bleibt deren Zumutung: Wie kann die Liebe lernfähig bleiben, wenn sie doch von Projektionen bestimmt ist? Wie können die Paare, in den Worten Luhmanns, "Leidenschaft in Geschichte" umwandeln, ohne diese nur als Verlustgeschichte, als Entsagung gegenüber den Anfängen zu erleben? Die trockene Antwort des Soziologen: durch gemeinsame Freizeitaktivitäten, die sich nur dadurch begründen lassen, dass auch der Partner mitmacht. Das klingt, wie vieles in diesem Buch, nicht sehr trostreich. Luhmann sieht die Aufgabe einer Soziologie der Liebe nicht im Lob der Illusionen, die sich die Liebe macht. Aber einen Trost hält gerade die Soziologie als Disziplin bereit: Geteiltes Leid ist halbes Leid.

Rezensiert von Jürgen Kaube

Niklas Luhmann, Liebe. Eine Übung,
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2008, 95 S., 8 EUR