Geteilte Erinnerung: Der 8. Mai aus polnischer Sicht

Von Adam Krzemiński |
Für Polen war der 8. Mai 1945 kein Siegestag. Den brutalen Beleg dafür lieferte die Siegesparade in London, von der die Polen auf Forderung Stalins ausgeschlossen wurden. Die 1940 von Churchill hoch gelobten polnischen Jagdflieger durften am Londoner VE-Day nicht teilnehmen.
Zu Beginn des Krieges war Polen noch ein souveränes Land, das – anders als die Tschechen 1938 – eine souveräne Entscheidung über den Krieg und Frieden getroffen hatte. Angegriffen am 1. September 1939 setzte es sich nämlich zur Wehr und zwang damit seine Alliierten, Briten und Franzosen, dem Dritten Reich formal den Krieg zu erklären. 1945 war Polen nicht mehr souverän, obwohl es mehr Soldaten unter Waffen hatte als Frankreich und obwohl es vom ersten Kriegstag an als Staat nie eine Kapitulationserklärung unterzeichnet hatte.

Polen verlor seine Souveränität nicht, weil sein Territorium 1939 von Hitler und Stalin gemeinschaftlich besetzt wurde, sondern weil die Westmächte der polnischen Exilregierung in London und damit dem polnischen Untergrundstaat nach 1943 stufenweise ihre Anerkennung entzogen, um Stalins Sowjetunion bei der Stange zu halten. Das war der Preis, mit dem Stalin ab 1943 von einem Separatfrieden mit Hitler abgehalten werden sollte. Die Etappen dieses Souveränitätsverlustes waren entsetzlich: der Abbruch der diplomatischen Beziehungen durch Stalin nach der Entdeckung der Gräber in Katyń, der mysteriöse Unfalltod des polnischen Ministerpräsidenten General Sikorski in Gibraltar, die Billigung der 1939 noch zusammen mit der Wehrmacht vollzogenen sowjetischen Annexion Ostpolens auf der Konferenz in Teheran, dann die Passivität Stalins und die Hilflosigkeit der westlichen Alliierten während des Warschauer Aufstandes 1944 und schließlich die Akzeptanz der stalinistischen Unterdrückung Polens.
Die Polen können somit mit dem Jahr 1945 kein Datum ihres Sieges assoziieren, dafür einige Daten einer Befreiung – wenn auch nur einer bedingten. Am 17. Januar gab es den gespenstischen Einmarsch der polnisch-kommunistischen Truppen in die menschenleeren Ruinen von Warschau, am 27. Januar die Befreiung von Auschwitz – während zur selben Zeit im ehemaligen KZ Majdanek schon Soldaten der polnischen Untergrundarmee von den Sowjets eingesperrt waren. 1945 war kein Siegesjahr für Polen, auch wenn polnische Soldaten der kommunistisch geführten Armee am 8. Mai in Berlin präsent waren und sogar ihre Fahne auf der Siegessäule hissten. Doch die wurde auf Geheiß der Sowjets schnell wieder eingewickelt.

Als Zeichen für einen polnischen Sieg im Zweiten Weltkrieg wurde in Volkspolen dann von offizieller Seite die Oder-Neiße-Grenze gefeiert. Aber die kommunistischen Vertreter Polens waren in Potsdam als Bittsteller aufgetreten. Ausgerechnet Stalin hatte ihr Anliegen – die Lausitzer Neiße als polnische Staatsgrenze im Westen – unterstützt. Damit war einer der beiden Aggressoren von 1939 zum Garanten der neuen polnischen Westgrenze geworden und zum politischen Hegemon, der dann dem Land eine Sowjetisierung und Stalinisierung aufzwang.

Der Streit um die Moskauer Feierlichkeiten ist weniger ein Streit um den Krieg selbst als um das heutige Russland. Ein Russland mit einem russischen Willy Brandt an der Spitze wäre kein Problem. Putins Russland allerdings – mit seiner stalinistischen Lesart des Zweiten Weltkrieges, mit seiner gegängelten Wirtschaft und Demokratie, mit seiner nationalistischen Geschichtsphilosophie und den vielerorts sprießenden neuen Stalin-Denkmälern – ist kein geeigneter Standort für Siegesfeiern über den Totalitarismus.

Dieses Jahr ist eine Zäsur. In zwei Monaten – nach den Jahrestagen von Potsdam und Hiroshima – werden sich die Europäer wieder mehr der Gegenwart und der Zukunft zuwenden. Denn der Zweite Weltkrieg ist zwar überall in Europa ein nationaler Gründungsmythos, doch eine gemeinsame europäische Gesinnung lässt sich aus dieser schrecklichen Kriegserfahrung nur bedingt ableiten. Nicht in der Normandie, nicht in Warschau, nicht in Berlin und schon gar nicht in Moskau. Es ist allerdings gut, dass wir uns dessen bewusst geworden sind.


Adam Krzeminski, 1945 in Westgalizien geboren, gilt als einer der führenden Publizisten Polens. Er ist stellvertretender Vorsitzender der deutsch-polnischen Gesellschaft. Seit 1973 ist er Redakteur des Nachrichtenmagazins „Polityka“. Krzeminski hat in Warschau und Leipzig Germanistik studiert und war ein Jahr lang Gastredakteur der Hamburger Wochenzeitung „Die Zeit“.