Wenn die Ohren wackeln, fährt der Rollstuhl
Mit den Ohren wackeln? Schön, wenn es klappt - völlig egal, wenn es nicht funktioniert. Von wegen, für Querschnittsgelähmte könnte das eine Möglichkeit sein, ihren Rollstuhl zu lenken. Göttinger Forscher arbeiten daran.
"Also wir hören jetzt meine Ohren. Wie ich quasi mit den Ohren wackele. Und das wird von einem Computer in ein Audiosignal umgewandelt. Und dann hört man das, wie ich mit den Ohren wackele."
Elektroden hinter dem Ohr registrieren jede Bewegung. Ein Sender an der Brille überträgt das Signal an den Computer, der mit Tonsignalen reagiert. Gleich soll es noch ein wenig komplizierter werden. "Tetris" – ein digitales Puzzle - steht auf dem Programm. Gesteuert werden die virtuellen Bausteine auch in diesem Fall allein mit den Ohren.
Wie von Geisterhand gesteuert fügen sich die Puzzlesteine auf dem Bildschirm zusammen. Was andere Spieler mit der Tastatur bewältigen, erledigt Willi Duttenhöfer allein mit der Steuerung seiner Ohren. Er kann nebenbei sogar sprechen, in den Apfel beißen oder einfach nur lächeln, weil sich die Ohren unabhängig von der Mund- und Gesichtsmuskulatur bewegen, erklärt Leonie Schmalfuss vom Universitätsklinikum Göttingen.
"Das Besondere an der Ohrmuskulatur ist eben, dass sie keine weitere Funktion hat. Die restliche Gesichtsmuskulatur ist für die Mimik zuständig. Und die Ohrmuskulatur hat mittlerweile keine Funktion mehr, von der wir wissen. Deswegen kann sie auch nicht interferieren mit anderen Tätigkeiten. Oder eben dabei stören. Und das ist sozusagen das Besondere, dass es die einzige Muskulatur im Körper ist, die so keine Funktion hat und dem entsprechend ein völlig ungenutztes Potential bietet, was gerade für querschnittsgelähmte Leute Möglichkeiten birgt, die wir gerne nutzen wollen."
Sicher haben die Vorfahren unserer Vorfahren in grauer Vorzeit die Ohren noch drehen können, wie wilde Tiere, um Geräusche im Wald noch besser zu orten. Gefahren zu lokalisieren. Doch das muss sicher schon lange her sein.
Schlaffe Ohren signalisieren übrigens "Stopp"
Dass unser Ohrmuskel heute immer noch existiert, obwohl seit Ewigkeiten nicht mehr gebraucht, kann durchaus als Trägheit der Evolution durchgehen. Im Zeitalter des Computers hingegen ergeben sich völlig neue Möglichkeiten. Mit dem elektrischen Signal beim Ohrwackeln lässt sich damit zum Beispiel ein Motor getriebener Rollstuhl steuern.
"Jetzt befestige ich einmal den Computer, wo die Software eben läuft, hinten am Rollstuhl dran, und wenn wir den jetzt starten, dann kann Willi gleich losfahren."
Nur fünf Tage musste Willi Duttenhöfer – vorab – mit dem Computerprogramm üben, bis er seine Ohren kontrolliert bewegen konnte. Nun folgt ein Parcour – auf dem Gang des Uniklinikums in Göttingen.
Nur fünf Tage musste Willi Duttenhöfer – vorab – mit dem Computerprogramm üben, bis er seine Ohren kontrolliert bewegen konnte. Nun folgt ein Parcour – auf dem Gang des Uniklinikums in Göttingen.
"Also ich habe jetzt den Rollstuhl auf die Aussteuerung umgeschaltet. Und fahre jetzt hoffentlich geradeaus. Ja, genau. Ich möchte jetzt nach links und spanne mein linkes Ohr an. Und man sieht, der Rollstuhl fährt nach links. Und jetzt geht’s nach rechts, jetzt spanne ich rechts an. Und das Schöne an dem System ist eben, dass man nebenbei reden kann, wenn man es übt. Also das geht nicht von jetzt auf gleich. Aber im Prinzip funktioniert es."
Schlaffe Ohren signalisieren übrigens "Stopp". Doch ganz so einfach geht es manchmal dann doch nicht. Beinahe hätte es gekracht. Doch es gibt ja immer noch den roten Knopf, der die Irrfahrt beendet. Der Rollstuhl, der mit den Ohren gesteuert werden soll, befindet sich noch in der Entwicklung, entschuldigt sich die Psychologin Leonie Schmalfuss, gedacht für Patienten, die aufgrund einer Querschnittslähmung ihre Arme nicht mehr bewegen können. Prof. David Liebetanz von der Klinik für Neurophysiologie hatte die Idee dazu.
"Wir haben herausgefunden, dass das Hirnareal, welches die Ohrenmuskeln ansteuert, in direkter Nachbarschaft zu dem Hirnareal liegt, was die Hand und den Arm ansteuert. Und gerade Patienten, die jetzt nicht mehr ihre Arme bewegen können aufgrund eines hohen Querschnittes oder bei einer beidseitigen Armamputation, liegt das Hirnareal, das für die Hand zuständig ist, brach und hat keine Funktion mehr. Und wir erwarten, dass dieses Ohrmuskelareal das verwaiste Handareal mitbenutzen kann, so dass die Patienten noch viel besser in der Lage sein werden, einen Rollstuhl mit ihren Ohren zu steuern – weil sie einfach viel mehr Hirnkapazität zur Verfügung haben."
Manche können nicht mal mehr die Arme bewegen
Ein Rollstuhl – allein nur mit Hilfe der Ohrmuskulatur gesteuert! Für Querschnittsgelähmte mit einem Bruch im Bereich der oberen Halswirbel wäre das ein großer Fortschritt. Denn die Betroffenen können nicht mal mehr die Arme bewegen. Bis es soweit ist mit der Ohrmuskelsteuerung, werden allerdings noch ein paar Jahre ins Land gehen, prognostiziert Leonie Schmalfuss, die sich im Rahmen einer Doktorarbeit mit dem sonderbaren Gefährt beschäftigt.
"Wir gehen eigentlich davon aus, dass dieses Steuerungssystem in drei bis vier Jahren auch von Patienten genutzt werden kann. Natürlich ist es auch unser Ziel, dass es auf lange Sicht wirklich nur ein Chip ist hinter dem Ohr, der diese Signale dann auch gleich sendet, so dass man nicht jedes Mal neu verkabeln muss, was Querschnittsgelähmte selber gar nicht leisten können. Und dass man sich über diesen Chip in verschiedene Systeme einwählen kann, den Fernseher ein- und ausschalten oder den Computer auch bedienen, was auch wichtig ist für Querschnittsgelähmte.
E-Mails schreiben oder so etwas, das geht alles mit diesen drei Signalen, die wir als Rohsignale haben, auch wunderbar. Das ist dann eine Programmierungsfrage und wer weiß, was man mit dem unscheinbaren Muskel noch in Bewegung versetzen kann. In Zukunft. Geld abheben, Fotos machen, Autos einparken – offenbar alles nur eine Frage der Programmierung in unserer elektronischen Welt."