Gestresste Gesellschaft

Entschleunigung als politischer Prozess

Auf einem Fahrradweg fährt ein Fahrrad, das Vorderrad fährt über das Fahrradsymbol.
Autor Matt Aufderhorst hat sich extra ein langsames Fahrrad gekauft, um dem Stress zu entkommen. (Symbolbild) © picture alliance / Maximilian Koch / Maximilian Koch
Ein Einwurf von Matt Aufderhorst · 11.08.2023
Deutschland leidet unter Stress. Matt Aufderhorst bremst sich in seiner kapitalistischen Konditionierung deshalb selbst aus - und kauft sich ein lahmes Fahrrad. Für ihn auch ein politisches Signal gegen den Raubbau an der gesellschaftlichen Natur.
Es klingt widersinnig, aber beim Kauf meines Fahrrads habe ich vor allen Dingen auf eins geachtet: Langsamkeit. Mein Rad wiegt gefühlt soviel wie vier volle Wasserkisten, hat zwei magere Gänge, die auch noch ohne mich schalten. Ich kann mich abstrampeln, wie ich will – „richtig“ schnell bin ich niemals. Warum ich das gemacht habe? Selbsterkenntnis. Eigentlich hasse ich es aus tiefstem Herzen, überholt zu werden. Von früh an wurde mir – wie den meisten von uns – eingebläut, dass ich vorne liegen muss, um mich richtig wohlzufühlen. Bloß alle Erwartungen zu erfüllen. Mein Potential ganz auszuschöpfen. Darum ging es in der Schule, im Job und eben auf dem Rennrad, das ich einst besaß. Also raste ich.

Kapitalistische Konditionierung des Schneller-Höher-Weiter


Ich hatte, gewissermaßen, die Wahl: entweder als Rüpel die Ellbogen ausfahren und dabei von allen anderen, die wie ich schnell, schneller, am schnellsten ans vermeintliche Ziel kommen wollten, angerempelt und angeschrien zu werden oder – jetzt kommt das Zauberwort – die Kunst der Entschleunigung einzuüben. Besser gesagt: mich zur Entschleunigung wenn nicht zu zwingen, so doch Rahmen-Bedingungen zu schaffen, die meine kapitalistische Konditionierung des Schneller-Höher-Weiter einfangen. 

Das langsame Fahrrad war, versteht sich, nur der Anfang. Ich habe mich von meinem Brot-und-Butter-Beruf als Nachrichtenredakteur verabschiedet. Breaking News bricht das Dasein blitzartig in Fragmente, die mehr verklären als erklären. Schnelligkeit wird zum Zwang. Als verstünde ich irgendetwas besser, wenn ich einen Ausschnitt davon früher wüsste. Für mich – nun benutze ich einen Begriff des Experten für Erinnerungskultur Michael Rothberg – für mich als implicated subject, mit-beteiligtes Individuum, bleiben allein die Einsicht in und gleichzeitige Abkehr vom System der drängelnden Ungeduld und den scheinbar zwingenden Notwendigkeiten. Wir werden in eine Welt hineingeboren, die auf sinnlose Beschleunigung, Ungleichheit und Ausbeutung setzt. 
Entschleunigung gibt mir die Kraft, mich diesen Zwängen zu widersetzen. Was wichtig ist: Entschleunigung ist mehr als Selbstoptimierung, sie ist ein politischer Prozess. Den rasenden Raubbau an der im doppelten Sinne gesellschaftlichen Natur können wir nur gemeinsam stoppen. Aber wie soll das mit der Entschleunigung gehen, in einer implicated society, einer mit-beteiligten Gesellschaft? Fangen wir sachte an. Trotzdem entschlossen. Verkürzen wir die Wochenarbeitszeit auf vier Tage, bei vollem Lohnausgleich. Oder folgen wenigstens gleich mal Frankreichs 35-Stunden-Woche. Falls Sie Bedenken haben, die ich übrigens teile, dass dann Dienstleistungen eingeschränkt sein könnten: Erlauben wir mehr Menschen auch von außerhalb der EU mit uns zu leben und mit uns weniger zu arbeiten. 

In der Entschleunigung erhöht sich die Sinnlichkeit der Welt

Neben dem Weniger-Arbeiten hilft die Enthaltsamkeit vom Digitalen. Genau: Oft gehört, noch öfter vorgenommen, niemals durchgehalten. Mir bekommt es ungemein, beantworte ich erst am Abend E-Mails. Falls Sie das Glück haben, bald in die Ferien zu fahren, hilft es, Handys ausversehen nicht aufzuladen. 
Meine Erfahrung mit der Entschleunigung ist, dass ich nicht nur besser auf mich selbst achte, sondern auch meiner Umwelt gegenüber aufmerksamer bin. Da ich langsamer bin, habe ich mehr Möglichkeiten, auf andere einzugehen und das Leben als Miteinander zu feiern. 
Zeit lässt sich nicht zurückdrehen, aber sie lässt sich dehnen. In der Entschleunigung erhöht sich die Sinnlichkeit der Welt.
In einer Sache hätte ich übrigens nichts gegen etwas Eile: Im Autoland schlechthin wäre wenig aussagekräftiger als eine Entschleunigung auf den Straßen. Ein Tempolimit auf der Autobahn täte Geist und Seele sofort wohl. 


Matt Aufderhorst ist 1965 in Hamburg geboren. Er ist Radio- und Fernsehjournalist und Mitbegründer von „Authors for Peace“. Er studierte Kunstgeschichte und Deutsche Literatur. Seine Essays über Architektur und Erinnerung sind unter anderem in „Lettre International“ und „WOZ“ erschienen. 

Porträtaufnahme des Journalisten Matt Aufderhorst
© Ali Ghandtschi
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