Gestochen scharf

Alte Menschen, Schwarze und Behinderte: Außenseiter stehen im Zentrum der Erzählungen von Eudora Welty. Die Autorin beschreibt sie in ihrem Alltag - oft als Momentaufnahme, dafür mit der Schärfe einer Fotografie.
Die Farm gehört Jason und Sara längst nicht mehr: Doch wenn die Sirene ertönt, müssen sie für ihren neuen Chef hinaus auf die Felder - um die Pflanzen mit Decken gegen Kälte und Frost zu schützen. Die beiden sind Anfang 50, aber früh gealtert, und selbst vor der Kälte ungeschützt. Aus Not verbrennen sie in dieser Nacht ihre letzten Möbel, um zu überleben. Und gehen wieder hinaus in die Kälte, als die Sirene erneut dröhnt.

"Die Sirene" heißt diese Erzählung aus dem Erzählband "Ein Vorhang aus Grün". Zu Weltys 100. Geburtstag in diesem Jahr ist das Buch wieder veröffentlicht worden – im Original erschien es 1941 als "A curtain of Green". Ergänzt wurde die jetzt vorliegenden neue Ausgabe um sechs weitere Erzählungen aus späteren Bänden, zwei davon sind deutsche Erstveröffentlichungen.

"Die Sirene" ist exemplarisch für die Erzählungen von Eudora Welty. Arme oder alte Menschen, Schwarze, Behinderte, Außenseiter stehen in ihrem Zentrum. Welty beschreibt sie in ihrem Alltag, oft als Momentaufnahme, dafür mit der Schärfe einer Fotografie. Mit unbestechlichem Blick, plastisch und genau hält sie Armut und Trostlosigkeit fest, ganz ohne Larmoyanz. Eudora Welty formulierte als These: Ein guter Erzähler sollte eine Art "Hindernis" sein, der seinen Leser zu Imagination, Interaktion, Mitdenken animiert. Deshalb ist der plot von Weltys Geschichten nicht immer eindeutig zu lesen. Inhalte wird eher beiläufig erzählt, im Zentrum steht der Stil. Ein gutes Beispiel hierfür ist Weltys Meistererzählung "Der versteinerte Mann" – eine Geschichte über Klatsch und Neid und seine Folgen.

Die Figuren, allesamt Damen in einem Frisiersalon, entlarven ihre Scheinheiligkeit und Einfalt in haarsträubenden Dialogen, die im Original im Südstaaten-Idiom verfasst sind und deren Witz auch in der deutschen Übersetzung ein besonderes Lesevergnügen bereitet. Und dieses Lesevergnügen bieten viele der hier versammelten Erzählungen. Es sind meisterhaft komponierte Miniaturen, die die scheinbar kleinen Dinge des Lebens in einem "großen" und besonderen Licht zeigen.

Besprochen von Olga Hochweis

Eudora Welty, Ein Vorhang aus Grün
aus dem Amerikanischen von Katrine von Hutten und Almuth Carstens, Kein&Aber, Zürich 2009, 368 Seiten