"Gestank von Leichen in der Luft"

Bernd Göken im Gespräch mit Matthias Hanselmann · 08.07.2011
Sie werden bombadiert, gejagt, getötet. Denn ihre Region liegt in der Nähe von Erdölfeldern, die der Nordsudan kontrollieren will. Um das Volk der Nuba im Grenzgebiet zwischen muslimischem Norden und christlichen Süden zu retten, hilft nur massiver internationaler politischer Druck, sagt Bernd Göken von Cap Anamur.
Matthias Hanselmann: Wir schauen nach Afrika, genauer, in den Sudan. Morgen wird offiziell die Unabhängigkeit des Südsudans erklärt werden. Im muslimischen Norden Sudans regiert in Khartoum Präsident al-Bashir, der wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Völkermordes unter anderem in Darfour mit einem internationalen Haftbefehl gesucht wird.

Zwischen dem Norden Sudans und dem Süden existiert seit längerem ein Friedensvertrag. Trotz dieses Friedensvertrages kommt es in der Grenzregion seit Wochen immer wieder zu Ausschreitungen zwischen den Anhängern der nördlichen nationalen Regierungspartei NCP und der sudanesischen Volksbefreiungsarmee SLPA des Südsudans.

Besonders betroffen ist eine Volksgruppe, die wir von alten Fotos her als edle Wilde kennen. Für Leni Riefenstahl waren sie die schönsten Menschen der Welt. Auch Bilder des englischen Fotografen George Roger zeigen die Nuba Anfang der 50er-Jahre als von der Zivilisation unberührtes Volk in den Bergen. Aber die heutige Realität sieht völlig anders aus.

Die Nuba leben seit vielen Jahren in Angst und Schrecken zwischen dem muslimischen Norden und dem christlichen Süden. Viele von ihnen hatten in der südsudanesischen Befreiungsarmee für die Unabhängigkeit gekämpft, und jetzt werden sie vom Norden massiv terrorisiert – die Zukunft dieses Grenzlandes ist noch offen.

Ich habe vor der Sendung mit Bernd Göken gesprochen. Er ist Geschäftsführer des Notärztekomitees Cap Anamur, und hat selbst einige Jahre in den Nubabergen mitten im Sudan gearbeitet und dort aktive Hilfe geleistet. Meine erste Frage war, wie es denn zurzeit genauer um die Nuba bestellt ist.

Bernd Göken: Die Situation in den Nubabergen ist dramatisch, wir sind seit vielen Jahren dort tätig. Was im Moment passiert, das erinnert schwer an Darfour, und es werden viele Menschen getötet, viele sind auf der Flucht – das sind unhaltbare Zustände im Moment in den Nubabergen!

Hanselmann: Stimmt es, dass der Norden mit Hubschraubern, mit MiG-Maschinen über den Landstrich fliegt und schießt?

Göken: Es sind im Moment hauptsächlich MiG-Maschinen, die sie neu gekauft haben in dieser Zeit der sechsjährigen Friedenszeit, und des weiteren sind es Antonow-Maschinen – das sind Transportmaschinen. Das muss man sich so vorstellen, diese Transportmaschinen umkreisen eine Gegend, schauen das aus großer Höhe an, 6.000 Meter ungefähr, dann wird die Ladeluke geöffnet, dann hört man, wie das Flugzeug in Steigflug geht, und dann fallen die Bomben raus.

Und dabei werden dann oft durch Zufall Leute getroffen, weil das natürlich nicht besonders gezielt ist. Aber ich habe in meiner Zeit erlebt, 2001, dass einmal eine komplette Schulklasse eliminiert wurde, dass acht Arbeiter auf dem Feld komplett getötet wurden durch solche Bomben, die durch Zufall dann exakte Treffer landen.

Hanselmann: Ihre Organisation, die Notärzte von Cap Anamur, sind vor Ort. Wie sieht denn die Hilfe im Moment aus? Was können Sie in den Nubabergen leisten?

Göken: Im Moment kann man nur absolute Nothilfe leisten. Das heißt, es wird Notchirurgie gemacht, also, die Verletzen – die hauptsächlich auch Zivilisten sind – werden im Krankenhaus versorgt, soweit es geht. Wir haben keine Maximalversorgung natürlich in diesem Krankenhaus, deswegen werden die nur chirurgisch versorgt, und da muss man halt hoffen, dass man sie irgendwie durchbringt.

Hanselmann: Morgen wird Südsudan seine Unabhängigkeit erklären. Ich habe es gesagt, viele Nuba haben mit für diese Unabhängigkeit gekämpft in der SPLA, der südsudanesischen Befreiungsarmee. War dieser Einsatz aus Ihrer Sicht vergeblich?

Göken: Wenn man die Lage im Moment sieht, dann auf jeden Fall. Aber man muss wissen, als damals dafür gekämpft wurde, für die Unabhängigkeit, war John Garang der Führer der SPLA. Und es war immer klar, er geht für eine Einheit. Er wird dafür kämpfen, dass es einen geeinten Sudan gibt. Als sich abzeichnete, dass unter der neuen Führung es nicht mehr so ist – dass eben halt ein geteilter Sudan angestrebt wird –, haben die Nuba erhofft, dass sie eine gewisse Teilautonomie bekommen, die ihnen auch versprochen wurde. Und nun wird nichts gehalten. Und das scheint jetzt in weite, weite Ferne gerückt zu sein.

Hanselmann: Sie haben vor zehn Jahren selbst drei Jahre lang unter den Nuba gelebt, eine Krankenstation aufgebaut und geleitet. Unter welchen Bedingungen hat dies seinerzeit stattgefunden?

Göken: Damals waren wir noch mitten im Krieg. Ich bin 1999 in die Nubaberge reingeflogen. Damals mussten wir alles zu Fuß machen. Erst mal war der Weg von der Landepiste – das war eine einfache Buschpiste – bis zum Krankenhaus – das waren 60 Kilometer –, in mehreren Tagen sind wir das marschiert mit fünf Tonnen Medikamenten.

Ich habe dann in der Zeit viele verschiedene Gesundheitsstationen aufgebaut, bin teilweise bis zu 100 Kilometer durch die Nubaberge gelaufen, weil damals war es mit Autofahren nicht möglich, weil noch gekämpft wurde. Und Autos hätte man jederzeit gehört.

Und ich habe immer sehr herzliche, sehr warme Menschen erlebt, die überall einen willkommen geheißen haben, die gemeinsam für ihre Sache gekämpft haben – da war es egal ob Christen oder Muslime. Ich habe immer gesagt, von den Nuba können wir so viel lernen, das ist einfach wunderbar, wie die zusammenleben. Und deswegen habe ich eigentlich eine sehr, sehr schöne Zeit dort in den drei Jahren verlebt.

Hanselmann: Beschreiben Sie uns doch bitte dieses Zusammenleben genauer. Was sind die Nuba für Menschen?

Göken: Die Nuba sind sehr traditionsbewusst, was es zum Beispiel angeht, gegenseitige Unterstützung. Wir haben es zum Beispiel so gemacht, die Gesundheitsstationen haben wir eröffnet und haben ihnen gesagt: Ihr müsst uns die Gebäude dafür liefern. Dann hat die ganze Dorfgemeinschaft sich zusammengetan, sie haben die vier Gebäude gebaut, die wir brauchten für die Gesundheitsstation, sie haben die Leute, die dann in dieser Station gearbeitet haben, die von uns ausgebildet wurden, unterstützt bei der Feldarbeit und haben somit für alle eben halt eine medizinische Versorgung gewährleistet, und jeder hat seinen Teil dazu beigetragen – was natürlich dann eine hohe Identifikation war. Oder bei der Feldarbeit haben sie sich immer gegenseitig unterstützt. Das war schon sehr schön zu sehen.

Hanselmann: Welche Kultur pflegen die Nuba, welche Art Gesang, Tanz, Malerei oder so betreiben sie? Oder muss man vielleicht sogar sagen: Betrieben sie?

Göken: Die Kultur … vieles ist verlorengegangen. Ich verfolge die Nuba jetzt seit 1999, bin jedes Jahr mindestens einmal da – und früher wurde sehr viel getanzt, sie hatten sehr viele traditionelle Tänze. Gerade wenn Vollmond war, dann wurde getanzt, wo wir auch immer mitgemacht haben. Das passiert heute gar nicht mehr, das ist verloren gegangen.

Der Ringkampf, eine sehr wichtige Tradition in den Nubabergen, wird nur noch oberflächlich am Leben gehalten. Das ganze Traditionelle, das ein komplettes Dorf unterwegs ist, wenn es gegen ein anderes Dorf diese Kämpfe macht, das ist alles verloren gegangen, viele Traditionen, Tänze, Gesänge, finden heute nicht mehr statt. Heute geht es nur noch darum, zu überleben und zu schauen, wie sie jetzt in eine Zukunft kommen, die es vielleicht gar nicht gibt für die Nuba.

Hanselmann: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton". Wir sprechen mit dem Geschäftsführer der deutschen Notärzteorganisation Cap Anamur, Bernd Göken, über die Volksgruppe der Nuba, die heute, einen Tag vor der Unabhängigkeitserklärung Südsudans, in einer extrem schwierigen Lage ist und deren Zukunft wohl ungewiss ist. Herr Göken, ganz einfache Frage: Warum lässt man die Nuba nicht einfach in Ruhe? Was macht ihre Region so interessant für andere?

Göken: Sie liegt halt sehr nahe an den Erdölfeldern, es ist halt die Grenzregion zum Süden. Und deshalb ist es halt für den Norden immer wichtig gewesen, dort die Oberhand zu behalten.

Hanselmann: Der amerikanische Kriegsfotograf Tyler Hicks ist vor kurzem heimlich in die Nubaberge gereist und hat die grausame Realität der heutigen Verhältnisse fotografiert. Teilweise war es in deutschen Zeitungen zu sehen: heruntergekommene Kinder in zerfetzter Kleidung, völlig verängstigte Gesichter, die in die Kamera starren, Opfer des Krieges – welche Bilder haben Sie gesehen?

Göken: Ich habe auch Bilder gesehen von Getöteten, von Bombardements – gerade ein Dorf in der Nähe von unserem Krankenhaus knapp zwei Kilometer entfernt - da ist ein großer Marktplatz, wo ich auch oft samstags war und Einkäufe getätigt habe, viel mit den Leuten dort unterwegs war –, habe fürchterliche Bilder gesehen von zerfetzten Leichen, von Leichenteilen, die umherlagen.

Dort ist auch eine Bombe genau in eine Menschenmenge hineingefallen, und es wurden über 20 Menschen getötet, darunter Frauen und Kinder. Es war auch ein kleiner Säugling dabei von drei Monaten. Das sind sehr traurige Bilder, und das erinnert mich sehr viel an die Geschichten, die ich auch selber erlebt habe, besonders 2001, als die letzte große Offensive vor dem Waffenstillstandsabkommen durch die Regierung aus Khartoum geführt wurde, wo wir durch Dörfer gelaufen sind, die einfach menschenleer waren, und wo man nur noch den Gestank von Leichen in der Luft hatte.

Und wenn ich die Bilder sehe, dann kann man eigentlich nur weinen und sagen: Es hat sich nichts geändert! Wir haben acht Jahre Frieden, wir haben viel Hoffnung reingepackt, und jetzt sind wir genau da, wo wir am Anfang auch waren. Und das ist schlimm für die Nuba, weil auch die Nuba haben halt gehofft, dass sie davon profitieren, das sie eine neue Zukunft haben ab 2011.

Hanselmann: Schon im Dezember 1999 sind hochrangige Politiker – Heiner Geißler und Norbert Blüm – mit dem Gründer ihres Notärztekomitees Cap Anamur, also mit Robert Neudeck, zu den Nuba gereist und haben bei ihrer Rückkehr einen vergessenen Völkermord angeprangert. Was ist denn aus diesem Appell geworden?

Göken: Ja, leider ist er ungehört verhallt. Ich war damals dabei, als Herr Blüm und Herr Geißler dort waren. Es hat viel Hoffnung, viel Hoffnung in die Nubaberge gebracht. Die Menschen sind zahlreich gekommen, teilweise sind sie zehn Tage gelaufen. Die wussten gar nicht genau, welche deutschen Politiker, welche wichtigen Leute da kommen. Aber sie wussten, dass da jemand ist, und eine Organisation ist, die für ihre Rechte kämpft. Und deswegen sind alle gekommen.

Und dann sind sie auch nach Khartoum gegangen, Herr Blüm und Herr Geißler, genau zu dem Zeitpunkt wurden dann Kinder getötet durch Bomben in der Nähe von dem Krankenhaus, wo wir arbeiten. Dann gab es andere Themen in Khartoum, die wichtiger waren, und es ist einfach verhallt.

Gerade Herr Geißler hat auch immer wieder noch mal auf diese Thematik hingewiesen, hat immer wieder für die Nuba was getan, aber eigentlich hört keiner drauf. Und das ist das Schlimme, dass wir auch jetzt erleben, dass die Menschen dort sterben, fliehen, und keiner tut irgendwas.

Hanselmann: Ich verstehe das als Appell Ihrerseits auch an die Politik, dass etwas getan werden muss, oder? Was glauben Sie, was hilft in der Situation überhaupt noch?

Göken: Es hilft Druck! Ich meine, wir haben erlebt, dass damals, als die Regierung von Bush extremen Druck auf den Sudan ausgeübt hat, kam es sofort zum Waffenstillstandsabkommen, Ende 2001, der dann Anfang 2002 startete. Es kam danach zu den Friedensverhandlungen. Es geht nur mit massivem Druck auf diese Regierung im Khartoum. Und da kann es nicht sein, dass man nur hinreist und mit ihnen lockere Gespräche führt, während die Menschen dort sterben, dann darf man diese Gespräche erst gar nicht führen. Da muss Druck ausgeübt werden, damit das Regime in Khartoum ihre Politik gegen die Nuba oder auch in Darfour ändert.

Hanselmann: Sie haben das Volk der Nuba beschrieben als solidarisch, als friedlich, als eine Art urchristliche Gemeinschaft. Ich habe noch vor Augen diese Bilder von unter anderem auch Leni Riefenstahl – waren denn die Nuba wirklich jemals diese "edlen Wilden", als die sie uns früher von westlichen Fotografen präsentiert wurden?

Göken: Ich kenne natürlich auch die Bilder von Frau Riefenstahl. Ich habe das so nicht erlebt. Ich habe sie als sehr stolze, sehr traditionsbewusste Menschen erlebt, aber nicht diesen Körperkult, der zum Beispiel von Frau Riefenstahl dort gezeigt wurde. Sie sind da dann doch schon deutlich westlicher orientiert.

Aber was geblieben ist, ist zum Beispiel eben dieses Zusammenleben, dass Christen, Muslime, Animisten immer gemeinsam was machen. Wenn eine offizielle Veranstaltung ist, wird aus der Bibel gelesen, es wird aus dem Koran zitiert, und auch die Animisten führen was vor. Und da ist einfach ein großer Zusammenhalt! Und das ist, was die Nubaberge besonders auszeichnet.

Hanselmann: Herr Göken, können Sie heute einen Blick in die Zukunft für die Nuba und auch für Ihre Hilfsorganisation dort wagen, einen Tag vor der Unabhängigkeitserklärung des Südens?

Göken: Wir machen uns natürlich große Sorgen, was morgen passieren wird oder in den nächsten Tagen. Es will schon keiner mehr hinfliegen in die Nubaberge, wir werden unser Team natürlich evakuieren müssen, weil die Regierung hat Panzer in Stellung gebracht um Kadugli.

Es besteht die große Gefahr, dass sie komplett angreifen werden, dass es dann keine Möglichkeit mehr für uns gibt, rauszukommen, dass vielleicht auch unsere Mitarbeiter Opfer werden, und das kann man natürlich nicht verantworten. Deswegen müssen wir uns zurückziehen und können nur hoffen, dass es nicht so schlimm kommt, wie es sich im Moment darstellt.

Hanselmann: Das Schicksal des Volkes der Nuba im Sudan hat uns Bernd Göken vom Notärztekomitee Cap Anamur geschildert, vielen Dank dafür!