Gesprächspartner gekrönter Häupter

Vorgestellt von Tilman Krause · 26.12.2006
Goethe hat ihn den fröhlichsten Mann des Jahrhunderts genannt. Überliefert von seinen vielen Bonmots ist vor allem das eine, das sich auf den Wiener Kongress nach dem Fall Napoleons bezieht: "Der Kongress tanzt", spottete der Prince de Ligne, damals schon ein alter Herr von 80 Jahren, "aber er bewegt sich nicht".
Er selbst sollte das Ende dieser Versammlung von europäischen Potentaten nicht mehr erleben. Mitten im Trubel der Ereignisse raffte es ihn dahin. Als er seinen Tod nahen fühlte, gab er die Parole aus:

"Ich bereite den Mitgliedern des Kongresses ein neues Amüsement: die Beisetzung eines österreichischen Feldmarschalls und Ritters vom Goldenen Fließ. Das wird sehr imposant."

Darauf muss man kommen: den eigenen Tod als gesellschaftliches Event anzukündigen und sich selbst noch am meisten darauf zu freuen. Aber so war er eben: der Prince Charles-Josephe de Ligne. Er lebte von 1735 bis 1814. Jetzt hat ihm der britische Historiker Philip Mansel die lange überfällige Biographie gewidmet. Sie trägt den Titel "Der Prinz Europas".

"Am Ende seines Lebens war der Prinz de Ligne ein außergewöhnlich weit gereister Mann, der so viele Identitäten erworben hatte, dass er zu Papier brachte, was kein anderer Europäer zu seiner Zeit hätte schreiben können."

Soweit Mansel. Und ein Europäer war er wirklich. Er, der im heute belgischen Hennegau zur Welt kam, das damals zu den habsburgischen Niederlanden gehörte, er, der an den großen Höfen Europas gelebt hat, in Paris so zu Hause war wie in London, in Wien wie in Brüssel, er, der Belgrad belagert, Budapest genossen und das Zarenreich unter Katharina der Großen bereist hat, so intensiv, wie kaum ein anderer Westeuropäer zu der Zeit, er reklamierte nicht weniger als sechs europäische Vaterländer für sich. Von allen seinen Tätigkeiten legte er schriftlich Zeugnis ab. Insgesamt hat er 35 Bücher geschrieben. Aber es handelte sich da nicht um Romane.

Nein, es sind so genannte "Mélanges militaires, littéraires et sentimentales", also militärgeschichtliche, literarische und autobiographische Aufzeichnungen, die auch schon mal in Reimform daherkommen können oder in aphoristischer Zuspitzung. In jedem Fall sind sie vollkommen unsystematisch, fragmentarisch – also im besten Sinne 18. Jahrhundert, weil ganz und gar orientiert am Gespräch. Dieses aber ist etwas Ephemeres, und selbst der Vielschreiber Ligne hat nur einen Bruchteil seiner Konversationskunst in Bücher überführt. Für diese Kunst der gebildeten, geistreichen, witzigen Konversation war er in seiner Epoche eine Berühmtheit. Darin sahen seine Zeitgenossen seine Begabung und Berufung. Und da der Prinz ein polyglotter Herr war und über genügend Geld verfügte, um viele weite Reisen zu machen, haben sie ihm denn auch alle gehuldigt.

Ligne war also Freund und Gesprächspartner von gekrönten Häuptern wie Marie Antoinette und Friedrich II. von Preußen. Er verkehrte in seiner Jugend schwärmerisch-freundschaftlich mit Rousseau, in seinen reifen Jahren mit Casanova und später mit dem Chefideologen der Metternich-Zeit, Friedrich von Gentz. Die vielen Adelsfamilien, in deren Pariser, Brüssler oder Wiener Palais er ein und aus ging, weil er mit ihnen verwandt, versippt oder verschwägert war, all diese Liechtensteins, Palffys, Rasumovskys oder Clarys, Contis, Polignacs, kann man gar nicht alle aufzählen.

Wer sich also das mühevolle Geschäft aufbürdet, die Biographie eines Mannes zu schreiben, der wahrlich kein Kerngeschäft betrieb, wie wir heute sagen, der vielmehr aus Fluidum bestand, aus Atmosphäre, Impression und Gerücht, weshalb er als vollendeter Repräsentant seiner Epoche angesehen werden kann, wer also über so jemanden schreibt, kommt nicht umhin, beim Leser einiges vorauszusetzen und mit Namen um sich zu werfen. Dies gilt auch für die vorliegende Studie. Aber zum Lobe ihres Autors kann man vor allem anführen, dass es dank seiner Bemühungen nun endlich eine Darstellung dieses überaus farbigen Prinzenlebens gibt. Bisher hatte sich nämlich niemand getraut, weil sich niemand recht zuständig fühlte: den Literaturhistorikern war der Prince de Ligne zu wenig literarisch, den Militärhistorikern hat er nicht genügend Schlachten geschlagen.

Philip Mansel, der Verfasser dieses Buches, hält sich mit Deutung und Spekulation über die Antriebe des Prinzen wohltuend zurück. Er lässt vor allem den Prinzen zu Wort kommen. Dieser kann ganz ungehindert seinen Zauber entfalten. Der rührt vor allem von der eigentümlichen Mischung aus edelmännischem Konservatismus und libertärer Frivolität her.

"Ich wäre gern eine schöne Frau, bis ich vierzig bin, dann bis sechzig ein sehr glücklicher und gerissener General, und dann, bis ich achtzig bin, ein Kardinal."

Damit wird der Prince de Ligne zum Musterbeispiel eines Mannes, der, vom Zeitalter der Aufklärung geprägt, die Epochenerfahrung der Revolution zur Formung eines entschieden gegenrevolutionären, anti-utopischen Weltbildes nutzte – doch dies alles fern von jeglichem Dogmatismus.

Bei aller Internationalität, bei aller Affinität zu Frankreich, Preußen, später auch Polen, Russland und Ungarn, galt seine oberste Loyalität, die Loyalität eines Fürsten des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation, eben doch dem Reich und nach dessen Selbstauflösung 1806 dem Nachfolgestaat Österreich.

Von 1794 bis zu seinem Tod inmitten des Wiener Kongresses lebte der Prinz von Ligne in Wien. Hier wurde er in den letzten 20 Jahren seines Lebens endgültig das, wofür er uns heute gilt: ein Verkörperer des "alten Europa", ein Musterbeispiel glücklicher Selbstverwirklichung. Wer wissen will, was für ein Persönlichkeitsbegriff dem deutschen Humanismus zugrunde lag, der muss zu diesem Buch greifen. Denn von Menschen wie dem Prince de Ligne bezog dieser Begriff seine Substanz.


Philip Mansel:
Der Prinz Europas. Prince Charles-Josephe de Ligne 1735-1814
,
Verlag Klett-Cotta, Stuttgart 2006