Gespenster der Vergangenheit

Von Richard Szklorz · 27.05.2011
Androhung von Grenzkontrollen an der deutsch-dänischen Grenze, aus Italien ankommende Züge, die in Frankreich gestoppt und nach nordafrikanischen Flüchtlingen durchsucht werden. Vorerst sind es nur Frankreich und Dänemark, die ankündigen, das Schengen-Abkommen aussetzen zu wollen – ein Abkommen, das den Europäern eine früher kaum vorstellbare Bewegungsfreiheit ermöglicht. Warum plötzlich diese Umkehr?
Auch heute noch staunt an den östlichen europäischen Binnengrenzen der Zeitgenosse, der die früheren Sperranlagen und die peniblen Kontrollen mäßig freundlicher Grenzbeamter in Erinnerung hat. Fährt er von Berlin nach Prag oder von Wien nach Budapest, trifft er an den alten Übergängen auf keine ihn freundlich durchwinkenden Wachposten mehr. Ohne durchgewunken zu werden, kommt er sich ein wenig verloren vor, bis er sich schnell wieder besinnt und erlöst feststellt: Ach, das war einmal, jetzt ist aber Schengen! Europa!

Europa? Vor über 20 Jahren, als die Ungarn, Tschechoslowaken, Ostdeutschen, Polen, die baltischen Länder ihre Diktaturen abschüttelten, taten sie es, weil sie eine Idee von einem anderen Leben hatten. Der Blick war nach Westen gerichtet, zu den Ländern, die sich selbst für das Herzstück des Kontinents hielten.

Die strengen Grenzanlagen waren nicht vom sogenannten Westen aufgestellt, um Ost-Flüchtlinge am Einsickern zu hindern, sondern von den östlichen Regimen, um die eigene, leibeigene Bevölkerung davon abzuhalten, sich unkontrolliert von dem ihr zugewiesenen Territorium davonzumachen.

Damals wurden die Westeuropäer von ihren östlichen Nachbarvölkern um ihre Reisefreiheit aufrichtig beneidet. Und es ist kein Zufall, dass während der Kampagne zur ersten freien Parlamentswahl im Frühjahr 1990 in der Tschechoslowakei an allen Ecken die Losung "Zurück nach Europa" zu sehen war. Damit waren nicht nur Demokratie und Wohlstand gemeint, sondern an vorderster Stelle auch die Reisefreiheit.

Man hätte sich allerdings schon damals fragen können: Wieso "zurück"? War der Zustand von 1945 bis 1989 nicht auch "Europa", war der Eiserne Vorhang wirklich so uneuropäisch, weil von den Sowjets aufgezwungen? Ist "Europa" immer nur für das Gute zuständig und für das Böse die anderen, die Fremden? Ach, und die Sowjets, waren die wirklich so uneuropäisch, weil despotisch?

Nein, Europa bedeutete niemals nur das edle Abendland. Die besten Stacheldrahtverhaue und die undurchlässigsten Betonmauern und die effizientesten Verfahren zur Massentötung von Menschen durch Menschen, die waren schon vor dem Eisernen Vorhang da.

Solche historischen Banalitäten zu erwähnen, scheint notwendig, um sich zu vergegenwärtigen, was Europa eigentlich immer war und was es leicht wieder werden könnte: Ein Konglomerat an zerstrittenen Völkern und Ländern, die sich nicht als Teil einer Nation verstanden, sondern sich gegenseitig als potenzielle Beute belauerten.

Erst die unermesslichen Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs mit seinen über 50 Millionen Toten zwangen die politischen Eliten der westeuropäischen Demokratien zum Umdenken. Schritt für Schritt scheint man sich dem Ziel eines übernationalen Zuhauses zu nähern. Doch manchmal auch davon zu entfernen. Wir sind noch lange keine Nation und es ist offen, ob aus uns jemals eine wird.

Bis diese Frage historisch entschieden ist, scheinen Gespenster der Vergangenheit herumzuspuken, je nach Populismusbedarf der Oberen in den jeweiligen Ländern. Die Xenophoben aus Dänemark und Frankreich, die sich vorgenommen haben, so wenigen Flüchtlingen wie nur möglich einen erfolgreichen Sprung vom Elend in den Wohlstand zu gönnen. Oder die deutschen Regierungsstuben, die sich von den täglichen Flüchtlingsdramen vor der Insel Lampedusa oder den weniger sichtbaren, aber nicht weniger tragischen an der fernen griechisch-türkischen Grenze abwenden und so tun, als handele es sich nur um ein rein italienisches oder griechisches Problem.

Soll das Europa sein? Ein Kontinent, dessen Binnengrenzen frei sind, nur wenn seine Außengrenzen im festen Griff von Anlagen aus bester Frontex-Technologie bleiben zum Abfangen von Flüchtlingen? Ein Spiegelbild des Eisernen Vorhangs? Nicht ganz. Denn den Schießbefehl, den haben wir – noch – nicht ausgegeben.

Richard Szklorz wuchs in der Nachkriegs-Tschechoslowakei auf. Er lebt schon seit Jahrzehnten in Berlin, dort arbeitet er als Journalist.





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