Gespaltenes Frankreich

Das "Ancien Régime" in den Köpfen

Touristen laufen durch die Altstadt von Aix-en-Provence, aufgenommen am 24.09.2009. Aix-en-Provence war urspr
Viele Franzosen suchen Zuflucht in der Vergangenheit. © Waltraud Grubitzsch
Von Cécile Wajsbrot · 21.04.2017
Statt sich mit der Gegenwart zu konfrontieren, suchen viele Politiker und Bürger in Frankreich eine Zuflucht in der Vergangenheit, meint die französische Autorin Cécile Wajsbrot. Sie lebten in der Illusion, dass die gloriose nationale Erzählung immer noch gilt.
Woraus besteht ein Land? Aus Leuten in der U-Bahn, in der S-Bahn, auf der Straße. Aus Cafés, Marktplätzen, Läden. Aus Nachbarn, die man kennt oder nicht kennt, aus vertrauten Gesichtern. Aus Hochhäusern, Einzelhäusern, Feldern, Bäumen, Vögeln. Aus einer Landschaft.
Woraus besteht ein Land? Aus gemeinsamen Erinnerungen, Daten. 10. Mai 1981 – zum ersten Mal seit Jahrzehnten wurde ein sozialistischer Präsident in Frankreich gewählt. 13. November 2015 – Terroranschlag im Bataclan.
Woraus besteht ein Land? Aus Stimmen unterschiedlicher Herkunft, mit unterschiedlichen Hintergründen, aber mit einer gemeinsamen Sprache. Aus gemeinsamen Zielen, aus dem Gefühl, dazuzugehören. Gibt es noch heute in Frankreich eine Schicksalsgemeinschaft, ein Gemeinwohl? Hat das Wort "gemeinsam" noch eine Bedeutung?

Sehnsucht nach der Vergangenheit

Ein Fluss fließt durch das Land – ohne Brücke. Auf einem Ufer stehen diejenigen, die sich nach der Vergangenheit sehnen, die noch von der "grandeur de la nation" sprechen, die eine Art "Restauration" - die Wiederherstellung eines republikanischen Ancien Régime – fordern, ohne wissen zu wollen, dass die Zeit vergeht, dass die Zeit existiert.
Auf dem anderen Ufer stehen diejenigen, die sich ausgeschlossen fühlen. Und denken, wenn es um Wahlen geht, dieses Mal gehe ich nicht wählen – oder nur extrem.
Den Fluss gibt es schon seit langem. Oder ist es ein Abgrund, der sich über die Jahre vertieft hat?
Seit 20 Jahren oder so sind die "Présidents" an die Macht gekommen, nur um an der Macht zu bleiben. Manchmal ist es ihnen gelungen – Chirac – manchmal nicht – Sarkozy, Hollande. Sie wussten, wie man einen Wahlkampf führt, aber danach wirkten sie hilflos, boten keinen Horizont an. Sie beobachteten das Land nur als Zuschauer oder Kommentatoren, als ob sie damit nichts zu tun hätten.

Flüchtige aus der Realität

So ist allmählich ein Gefühl der Irrealität entstanden. Statt sich mit der Gegenwart zu konfrontieren, suchen viele Politiker wie Bürger eine Zuflucht in der Vergangenheit, in der Illusion, dass die gloriose nationale Erzählung immer noch gilt. So tauchen in den Reden – und nicht nur im aktuellen Wahlkampf – so tauchen im öffentlichen Bewusstsein alternative Weltgeschichten auf – die fabelhafte Welt der Amelie – denen zufolge Frankreich ohne Europa noch eine wichtige Rolle spielen könnte, den zufolge Frankreich eine universale Aufgabe zukäme.
Vielleicht kann Frankreich kaum Flüchtlinge willkommen heißen, weil die Franzosen selbst Flüchtlinge sind – aus der Realität, aus der Gegenwart.

Abgrund zwischen Wort und Wirklichkeit

Man denkt, das Land hätte Angst vor den Terroranschlägen, man glaubt, es genügt, Soldaten mit Gewehren auf die Straßen zu schicken, um die Bevölkerung zu beruhigen. Ob ein solches Kriegsbild je beruhigen kann?
Aber es ist noch mehr: Die Angst ist nicht vom Terrorismus verursacht. Die Angst ist aus der Spaltung, aus dem Abgrund zwischen den Wörtern und der Wirklichkeit entstanden, zwischen dem, was die Leute hören und dem, was sie sehen, was sie im Alltag erleben. Als ob es zwei Welten gäbe – die Welt der Sprache und die Welt des realen Lebens.
Wie kann man einen solchen Gegensatz ertragen? Dann ist es keine Überraschung, dass viele sich verloren fühlen, dass noch am Vorabend der Wahl viele noch nicht wissen, für wen sie abstimmen sollten, ob sie überhaupt wählen gehen werden.
Das Problem ist, wenn die Diagnose falsch ist, dann wird die Behandlung kaum wirken.

Cécile Wajsbrot ist Schriftstellerin, Essayistin, Übersetzerin und Hörspielautorin. Sie wurde 1954 als Tochter polnischer Juden in Paris geboren. 2014 erhielt sie den Eugen-Helmlé-Übersetzerpreis. 2014/15 war sie Gastprofessorin an der Freien Universität in Berlin. Im Deutschen ist zuletzt ihr Buch "Für die Literatur" erschienen. Am 4. Mai wird der erste Teil ihres neuen Hörspiels "Cousine Lisbeth" im Deutschlandradio Kultur als Ursendung zu hören sein.


Die französische Schriftstellerin Cecile Wajsbrot
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