Gesichter des Islams

Von Reinhard Baumgarten · 06.12.2010
Europa hat Jahrhunderte lang vom Wissen muslimischer Gelehrter profitiert - in einer Zeit, als Arabisch die Sprache von Wissenschaft und Handel war. Doch es folgte ein schleichender kultureller Abstieg, der im Zusammenhang mit dem Erstarken eines sich ausbreitenden religiösen Dogmatismus steht.
Alkohol, Zwetschgenschnaps, Talk, Watte und Benzin?

All diese arabischen Wörter sind nicht zufällig in unsrer Sprache heimisch geworden. Sie stammen aus einer Zeit, als Arabisch die Lingua franca der Wissenschaft und des Handels war. Sie wurden in europäische Alltagssprachen integriert so wie heute englische Wörter übernommen werden.

Als die arabischen Stämme im 7. Jahrhundert nach Ägypten, Syrien und Persien vordringen, schreibt der Freiburger Islamwissenschaftler Ulrich Rebstock, legen sie den Grundstein "für eines der gewaltigsten Schöpfungswerke in der Menschheitsgeschichte." Sie erkennen, welch unschätzbarer Wert ihnen mit dem Wissen der antiken Griechen, Römer und Perser zugefallen ist. Und sie vermögen dieses Wissen zum eigenen Nutzen und Frommen weiterzuentwickeln.

In seinem Buch "Die Islamische Wissenschaft und die Entstehung der Europäischen Renaissance" weist der christlich-palästinensische Islamwissenschaftler George Saliba beispielsweise nach, wie sehr der deutsche Astronom Kopernikus von dem muslimischen Astronomen Ibn Al-Shatir profitiert hat. Al-Shatirs Sicht auf das Sonnensystem ist identisch mit der Sicht von Kopernikus – nur eben schon 200 Jahre früher.

"Wahrlich, in der Schöpfung der Himmel und der Erde und in der Aufeinanderfolge von Tag und Nacht (...), und im Wasser, das Gott vom Himmel herabsendet und damit der Erde Leben gibt (...), und im Wechsel der Winde und Wolken, die ihre festgesetzten Bahnen zwischen Himmel und Erde ziehen: (in all diesem) sind fürwahr Botschaften für Leute, die ihren Verstand gebrauchen." (Koran Sure 2 Die Kuh, Vers 164)

Groß sind auch die Verdienste islamischer Ärzte bei der Entwicklung der Medizin. Zur Zeit der größten Blüte des Maurenreiches al-Andalus um das Jahr 900 hat dessen Hauptstadt Córdoba rund 600.000 Einwohner. Städte wie Köln, Paris oder London zählen in jenen Tagen nur wenige Tausend Seelen. Córdoba hat damals ein Abwasser- und ein Frischwassersystem, es gibt beleuchtete Straßen und Plätze, am Ufer des Guadalqivir – arabisch Wadi al-Kabir – sind bewegte Apparaturen installiert, die dem Vergnügen der Passanten dienen.

Es ist eine Stadt mit Hunderten öffentlicher Bäder, mit Krankenhäusern und Apotheken sowie einer Bibliothek, die mehr Schriften besitzt als jemals in der legendären Bibliothek von Alexandria gewesen sein sollen. Jahrhunderte lang wähnen sich die Herrscher des muslimischen Morgenlandes dem christlichen Abendland überlegen. Erst der Schock der Kolonialisierung durch europäische Mächte macht den Muslimen bewusst, dass sich die Verhältnisse zu ihren Ungunsten geändert haben.

Unterrichtspause in der Imam Hatip Schule im Istanbuler Stadtteil Beyoğlu: Tischtennis zur Entspannung. Adnan spielt gegen Mesut. Mesut ist geschickter mit dem Ball. Adnan ist geschickter mit der Stimme. Im Fach Koranrezitation ist er einer der besten seines Jahrgangs.

Adnan und Mesut gehören zu den knapp 200.000 Schülerinnen und Schülern, die in der Türkei eine Imam Hatip Schule besuchen. Anfangs handelt es sich bei diesen Lehreinrichtungen um rein religiös ausgerichtete Schulen, wo Prediger und Moscheevorsteher – so genannte Imame – ausgebildet werden. Das Fach Phonetik gehört von Beginn an ebenso zum Lehrplan wie Arabisch und Koranrezitation.

Mittlerweile werden auch allgemeinbildende Fächer wie Englisch, Mathematik, Physik, Staatskunde und Sport unterrichtet. Die Imam Hatip Schulen sind speziell auf die Verhältnisse in der Türkei zugeschnitten. Sie vereinen religiösen Unterricht und kulturell-weltliche Bildung an einer Lehranstalt. Diese Kombination ist in der Türkei keineswegs unumstritten. Denn seit mehr als 8 Jahrzehnten gilt in der Türkischen Republik das Prinzip der strikten Trennung von Staat und Religion. Mehr noch: Der Staat bestimmt durch seine am französischen Vorbild ausgerichteten laizistischen Verfassung, wie viel und welche Art Religion öffentlich gelehrt und gelebt werden darf.

Die erste Imam Hatip Schule wird kurz nach dem Zweiten Weltkrieg eröffnet. An der zehn Monate dauernden Ausbildung nehmen vier Dutzend angehende Prediger teil. Der türkische Staat reagiert damals auf den zunehmenden Mangel an ausgebildeten Geistlichen bei gleichzeitig wachsender Bevölkerung und einer größeren Hinwendung zum Glauben. Inzwischen gibt es landesweit rund 460 Imam Hatip Schulen. Ihre Zahl hat in den vergangenen Jahren stetig zugenommen und dürfte auch in Zukunft weiter steigen.

Mit der regierenden AK Partisi – der Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung – bestimmt das religiös-konservative Lager die Politik der Türkei. Namhafte Köpfe der AK Partei sind Absolventen der Imam Hatip Schulen – allen voran Regierungschef Recep Tayyip Erdoğan. Auf sein Betreiben hin sind die einstigen Predigerschulen 2004 mit den säkularen allgemeinbildenden Gymnasien gleichgestellt worden. Irfan Aycan ist im Bildungsministerium für die Imam Hatip Schulen zuständig:

"Die Absolventen der Imam Hatip Schulen hatten Probleme, an einer weiterführenden Schule oder Universität unterzukommen. Diese Probleme wurden gelöst. Darüber wurde im Parlament diskutiert. Mittlerweile erfahren wir aus arabischsprachigen Ländern großes Interesse am Imam-Hatip-Modell und wir werden gebeten, beim Aufbau eines solchen Schulsystems zu helfen."

Auch wenn es immer wieder zu Diskussionen kommt, so sind diese Imam-Hatip Schulen doch als ein Modernisierungsinstrument unseres Landes anerkannt. In der islamischen Welt gibt es keine vergleichbaren Schulmodelle. Die Schulsysteme in den islamischen Ländern haben den Schwerpunkt in der religiösen Bildung und von diesen Systemen wollen viele Länder weg. Aus diesem Grund findet das Imam-Hatip-Modell reges Interesse. Es soll zur Modernisierung dieser Länder beitragen.

Kein anderes muslimisches Land bricht auf dem Weg in die Moderne so konsequent mit seiner islamischen Vergangenheit wie die neu gegründete Türkische Republik. Im Frühjahr 1924 schafft die Nationalversammlung in Ankara das Kalifat ab. Mehr als 400 Jahre haben die türkischen Osmanen die Führung aller Muslime als weltliche und geistliche Herrscher beansprucht. Doch der 43-jährige Republikgründer Mustafa Kemal – genannt Atatürk – will einen modernen Staat, in dem Religion Privatsache ist. Religiöse Bruderschaften werden verboten, die Geistlichkeit wird entmachtet.

Der säkulare Staat will fortan die Grenzen organisierter Religiosität abstecken. Heute – mehr als 70 Jahre nach dem Tod Atatürks – zeigt die Kemalismus genannte antiklerikale Staatsdoktrin jedoch erhebliche Risse. Die Hüter des reinen Laizismus, der strikten Kontrolle religiösen Lebens durch den Staat, befürchten den Verlust gesellschaftspolitischer Errungenschaften. In den Imam Hatip Schulen sehen sie Brutstätten eines politisierten Islams. Irfan Aycan weist diesen Vorwurf zurück:

"Imam Hatip Schulen haben nichts mit politischem Islam zu tun. Der Islam gehört zur Bevölkerung. Das heißt nicht, dass islamische Regeln und Gesetze gemacht werden sollen. So was geht bei uns nicht. So etwas passiert nur in totalitären Staaten. Wir akzeptieren das nicht. Wir glauben nicht, dass Imam Hatip Schulen etwas mit politischem Islam zu tun haben. Sie sind getrennt vom politischen Islam."

Speisesaal der Imam Hatip Schule in Beyoğlu, einer Ganztagesschule für Jungen mit angeschlossenem Internat. Die meisten Schüler stammen aus dem Großraum Istanbul oder der Westtürkei. Etliche Schüler kommen auch aus Provinzen in Mittel- und Ostanatolien.

Bittgebet nach dem Essen. In staatlichen Schulen undenkbar, in Imam Hatip Schulen selbstverständlicher Bestandteil des Schulalltags. Die Aufwertung der einstigen Predigerschulen zu vollwertigen Oberschulen hat bereits lange vor Übernahme der Regierungsgeschäfte durch die religiös-konservative AK Partei angefangen. Glücklicherweise, betonen reformorientierte islamische Theologen am Bosporus. Denn in vielen islamischen Ländern werden Geistliche fast ausschließlich in Theologie oder theologienahen Fächern unterrichtet. In der Türkei ist allgemeinbildender Unterricht Pflicht. Dadurch soll das Denken erweitert und die Auslegung der religiösen Quellen den Anforderungen der Gegenwart gerechter werden.

"Bei uns sind der Koran und das Leben des Propheten Mohammed sehr wichtig. Doch nur weil Mohammed auf einem Kamel ritt, müssen wir das nicht auch tun. Die moderne Zeit hat viele Erfindungen hervorgebracht. Auf einem Kamel zu reiten, bedeutet nicht Gehorsam, denn wir können uns heute mit anderen Dingen fortbewegen. Nur weil es früher so gemacht wurde, müssen wir das heute nicht auch so machen."

Die islamischen Quelltexte zeitgemäß zu lesen und auszulegen, ist in vielen islamischen Ländern keineswegs selbstverständlich. Den sich immer höher auftürmenden sozialen und politischen Verwerfungen, glauben konservative muslimische Geistliche allzu oft mit Rezepten begegnen zu können, die ihren Ursprung häufig im Mittelalter haben. Doch wenn Korandeutungen vor 400, 800 oder 1200 Jahren sinnvoll waren, müssen sie das nicht notwendigerweise auch im 21. Jahrhundert sein, stellt der Islamgelehrte Yaşar Nuri Öztürk fest.

"Im Koran ist das Dogma auf ein Minimum beschränkt. Stattdessen fordert der Koran dazu auf, den Verstand zu benutzen. Den Verstand zu benutzen heißt, jeden Tag aufs Neue entsprechend den Verhältnissen des Tages Interpretationen vorzunehmen. Der Koran benutzt an dieser Stelle radikale Aussagen. Er sagt: Wer seinen Verstand nicht benutzt, auf den wird Schlechtes niedergehen. Will heißen: Deren Leben wird sich in ein Chaos verwandeln, falls sie ihren Verstand nicht benutzen. Man muss jeden Tag aufs Neue seinen Verstand einsetzen und die Quellen auslegen."

Die vor mehr als 85 Jahren in der Türkei auf den Weg gebrachte Trennung von Staat und Religion hat tiefe Spuren hinterlassen. Wer die Türkei mit den säkularisierten Gesellschaften Westeuropas vergleicht, mag diesen Eindruck nicht gewinnen. Aber wer die Türkei mit seinen muslimischen Nachbarn im Nahen Osten vergleicht, kann schnell zu diesem Schluss kommen. In der Türkei sind Prozesse angestoßen worden, die in der islamischen Welt einzigartig sind. In keinem anderen muslimischen Land werden heute derart kritisch als unantastbar geltende religiöse Grundsätze hinterfragt und öffentlich diskutiert. Yaşar Nuri Öztürk gehört zu den populärsten islamischen Denkern der Türkei:

"Der Koran hat die Religion vom Verstand abhängig gemacht, nicht den Verstand von der Religion. Nach dem Koran kontrolliert der Verstand den Glauben. Aber der Glaube kann nicht den Verstand kontrollieren. Der Verstand ist der Befehlshaber über den Glauben. Der Koran vergleicht auch Wissenschaft und Glauben. Wissenschaft kann den Glauben kontrollieren, aber der Glaube nicht die Wissenschaft, weil der Glaube subjektiv ist und die Wissenschaft objektiv. Der Koran sagt: Die objektive Wissenschaft soll den subjektiven Glauben kontrollieren. Daher akzeptiert der Koran auf keinen Fall, dass der Verstand eingeengt wird."

Der Islam schreibt dir vor, zu entdecken, betont der ägyptische Nobelpreisträger Ahmed Zuweil:

"Es gibt keine Grenze des Entdeckens im Koran. Die Frage in allen Religionen lautet nicht, was das Buch dir vorschreibt, sondern wie man interpretiert, was dort geschrieben ist."

In den meisten muslimischen Ländern dominiert eine konservative Lesart. Der Blick heftet sich an die gloriose Vergangenheit, als islamische Gelehrte und Wissenschaftler das Maß der Dinge waren. Nur: Damals waren nicht Glaubenseifer und die buchstabentreue Auslegung der Quellen die wichtigen Faktoren. Damals wurde die im Koran genannte Offenheit noch anders verstanden.

"Sind sie denn niemals auf der Erde umhergereist, um ihr Herz Weisheit erlangen und ihre Ohren hören zu lassen? Doch wahrlich, es sind nicht ihre Augen, die blind geworden sind. Blind geworden sind ihre Herzen in ihrer Brust. Koran Sure 22 Die Wallfahrt." (Vers 46)

"Ich werfe den Muslimen ihre letzten 50 Jahre vor. Die Kolonialisierung war ja eine beeinflussende Größe, aber sie hat in den meisten Ländern damals geendet. Die Muslime haben die Gelegenheit nicht genutzt, ihr Wissen zu verbessern und sie haben die Zeit nicht genutzt um wirklich gute Führungen in der Politik zu etablieren."

Die Schlüssel zur Wissensgesellschaft sind Freiheit, Vielfalt und Aufgeschlossenheit. In den meisten islamischen Ländern sind diese Grundvoraussetzungen in den vergangenen Jahrzehnten massiv eingeschränkt worden. Leidet die Zivilgesellschaft, leidet auch die Wissensgesellschaft. Die gigantische Wissenslücke zwischen muslimischen und nichtmuslimischen Ländern lässt sich auch in Zahlen ausdrücken.

Zwischen 1980 und dem Jahr 2000 haben Saudi-Arabien, Ägypten, Kuwait, Syrien, Jordanien und die Vereinigten Arabischen Emirate in den USA zusammengenommen 367 Patente angemeldet. Im gleichen Zeitraum meldeten Südkorea 16.328 und Israel 7.652 Patente an. Die Zahl der Bücher, die jährlich für mehr als 350 Millionen Menschen in den arabischen Staaten ins Arabische übersetzt werden, entspricht einem Fünftel dessen, was beispielsweise jährlich für etwas mehr als elf Millionen Griechen übersetzt wird.

"Ich komme gerade erst aus der Türkei. Hier gibt’s enormen Fortschritt in Ausbildung und Lehre. Die Türkei exportiert Wissen und dort (besteht die Bevölkerung) zu 99 Prozent aus Muslimen. Daher nochmals, dies ist nicht im Islam verankert. Wenn man das richtige System fördert, sowie auch eine gute Ausbildung, und eine Beteiligung des Volkes, dann kann man Fortschritt machen.

Sprich: Können diejenigen, die wissen, und diejenigen, die nicht wissen, für gleich erachtet werden? Nur diejenigen, die mit Einsicht versehen sind, bedenken dies." (Koran Sure 39 Die Scharen, Vers 9).