Gesellschaftsroman

Multikulturalität und Klassengesellschaft

Die englische Schriftstellerin Zadie Smith bei einer Veranstaltung im Rahmen der Leipziger Buchmesse 2014
Zadie Smith bei einer Veranstaltung im Rahmen der Leipziger Buchmesse 2014 © picture-alliance / dpa / Hendrik Schmidt
Zadie Smith im Gespräch mit Barbara Wahlster · 14.03.2014
Das Thema der Rasse habe gegenüber dem der Klasse deutlich an Bedeutung verloren, sagt Zadie Smith. In ihrem Gesellschaftsroman "London NW" habe sie verschiedene Möglichkeiten zeigen wollen, sich zur Existenz zu bekennen, so die englische Schriftstellerin.
Liane von Billerbeck: Zadie Smith ist noch nicht 40. 1975 wurde sie geboren, die Londonerin, die im Nordwesten der Stadt lebt. Und genau dort, in "London NW" spielt auch ihr neuer Roman, nicht ihr erster. "Zähne zeigen" beispielsweise war ein Bestseller, und für ihre Bücher wurde sie mit einigen Preisen ausgezeichnet, wie 2006 mit dem Somerset-Maugham-Preis. Mit "London NW", ihrem neuen Buch, ist Zadie Smith auf der Buchmesse zu Gast, und meine Kollegin Barbara Wahlster hat sie in Leipzig zum Gespräch getroffen. Man hat den Eindruck, dass es in dem neuen Roman "London NW" so etwas wie zwei Modelle für weibliche Identitäten gibt: Einmal eine Zurückweisung von Aufgaben, von Verantwortung, den Versuch, sich am Rande und fast wie im Ausstieg zu verhalten, und ein anderes Modell, nämlich das, die Werte der Gesellschaft und ihre Bilder anzunehmen, um aufzusteigen und woanders ankommen zu wollen. Aufsteigen oder mitspielen, sind das die Alternativen, egal, was für einen Hintergrund sie haben und gleichgültig, ob sie Emigrantinnen sind oder nicht?
Zadie Smith: Ich denke, die Generation, um die es in meinem Buch "NW" geht, sind keine Migranten mehr. Sie leben in der zweiten und dritten Generation in London. Mir ging es um verschiedene Möglichkeiten, sich zur Existenz zu bekennen. Das ist eine existenzielle Frage für mich. Nicht nur für Frauen, auch für Männer, Entscheidungen im Leben zu treffen, frei nach dem Goethe-Zitat beziehungsweise der scheußlichen Übersetzung von Culler: "Treffe eine kluge Entscheidung, denn deine Wahl wird von kurzer Dauer sein, und doch endlos." Das trifft auf die Frauen im Buch zu. Sie haben es dauernd mit extremen Entscheidungen zu tun. Es ist also ein allgemeines Problem, nichts Frauentypisches.
Barbara Wahlster: Auf der ersten Seite steht ein ganz entscheidender Satz in diesem Roman, den die Protagonistin Lea im Radio hört. Ich allein verfasse das Lexikon, das mich definiert. Das ist das Credo von Individualismus, von Erfolgsfixierung, und fast scheint es so, als würde dieser Roman diesen Satz dauernd ad absurdum führen, weil sich zeigt, dass andere Faktoren sehr viel stärker sind: Herkunft, Milieu, Erwartungen, Gesellschaft, Familie.
Smith: Ich habe diesen Satz tatsächlich so gehört, aus dem Mund eines schwarzen amerikanischen Prominenten im Fernsehen. Als ich es zum ersten Mal hörte, fand ich das sehr lustig, wie Sie sagen, ziemlich absurd. In dieser Zeit las ich zufällig gerade eine Menge Kierkegaard, Sartre und allgemein Texte über Existenzialismus. Als ich dann diesen Satz hörte, erschien er mir auch zunächst als das etwas absurde Statement einer egoistischen, narzisstischen, individualistischen Kultur. Gleichzeitig hätte es auch perfekt auf eine Seite aus einem Sartre-Text gepasst. Es erscheint merkwürdig, dass die Idee, sich selbst aus dem Nichts heraus zu erschaffen, einerseits als unsozial, antigesellschaftlich gesehen wird, andererseits auf existenzieller Ebene die Situation darstellt, in der man sich befindet. Man wird in diesen reißenden Strom geworfen und muss herausfinden, was man jetzt in der Strömung machen kann. Über das ganz Buch hinweg habe ich versucht herauszufinden, was ich von diesem Satz halte. Ich glaube nicht, dass man das einfach so als Witz abtun kann. Der Generation, über die ich schreibe, wird oft vorgeworfen, egoistisch, narzisstisch zu sein. Vielleicht stimmt das auch, aber ich glaube, es ist etwas komplizierter als das.
Wahlster: Glauben Sie, dass die Wahl, vor der wir heute stehen, einfach deshalb so entscheidender oder auch so bedrückender und so größer erscheint, weil die gesellschaftlichen Rollen und die familiären Rollen nicht mehr so definiert sind?
"Sie glauben, das Ziel des Lebens ist Glück"
Smith: Ich bin keine Philosophin, aber wenn Sie mich persönlich fragen, denke ich, dass es sehr unterschiedliche Erwartungen darüber gibt, was ein Leben enthalten könnte. Viele sehr junge Leute wie die Studenten, die ich unterrichte, erwarten, glücklich zu sein. Sie glauben, das Ziel des Lebens ist Glück, Glücklichsein. Viele Entscheidungen, die sie treffen müssen, wie die, Kinder zu haben, erscheinen ihnen sinnlos. Wenn sie Leute mit Kindern besuchen, erscheinen diese ihnen müde oder unglücklich oder können noch nicht mal ins Kino gehen. Das ergibt für sie keinen Sinn, weil es im Leben doch um Vergnügen geht – vielleicht ein besseres Wort als Glück. Ich weiß nicht, ob man auf Deutsch da unterscheidet. Wenn Sie denken, dass es nur ums Vergnügen geht im Leben, glauben sie nicht, dass es auch Schmerz und Leiden enthalten sollte und das dies gar auf einer anderen Ebene Teil des tieferen Lebensglücks sein könnte. Da liegt wohl das Problem, dass Leute über ihr Leben denken, als wäre es ein Lebensstil und nicht ein Leben. Wie etwas aus einem Magazin. Sollte ich Kinder haben oder nicht, sollte ich um die Welt reisen oder in meinem Dorf bleiben. Das ist eben keine Lifestyle-Entscheidung wie die zwischen einem iPod und einem Handy. Es ist dein Leben, etwas Wirkliches, das auch Dinge enthält, die einen nicht jeden Augenblick vor Freude ins Delirium versetzen.
Wahlster: Zadie Smith im Gespräch mit Deutschlandradio Kultur, wir sprechen über den neuen Roman "London NW". Es ist ein Gesellschaftsroman, ein London-Roman eben auch, wie der Titel es sagt, und eine Untersuchung auch der Veränderungen in der Londoner Einwanderungsgesellschaft aus Polen, Indern, Kariben, Afrikanern – das Ende des Politischen, und das ist das, was Sie jetzt gerade eben auch angesprochen haben, ist so deutlich in diesem Roman, dass es wirklich aussieht, als sei alles einer individuellen Wahl anheimgestellt. Ist die Zeit des erhofften Aufstiegs, des Ankommens in Großbritannien vorbei?
"Es geht einfach nur noch ums Geld"
Smith: Das ist etwas, was mit Margaret Thatcher begonnen hat. Sie kennen das berühmte Zitat, es gibt keine Gesellschaft, es gibt nur Individuen. Das machte sich in meinem Viertel sehr praktisch bemerkbar, indem Häuser des sozialen Wohnungsbaus an Privatleute verkauft wurden. Meiner Ansicht nach kann es keine Veränderungen für die Leute der Arbeiterklasse geben, ohne dass kollektiv in Aktion getreten wird. Und was Thatcher so brillant beherrschte, war, die Menschen, die gemeinsam handeln wollten, klar zu machen, dass es ihnen besser gehen würde, wenn sie nur für sich alleine aktiv werden. Und Blair setzte diese Idee natürlich fort: jeder für sich selbst. Was interessant war: Ich habe eine politische Talkshow gesehen, "Question Time", mit einer Runde von Politikern, wo ein junger, eher liberal wirkender Mann aufstand und die Notwendigkeit einer qualitativ hochwertigen Bildung hervorhob. Daraufhin standen einige Leute im Publikum auf, offensichtlich aus der Arbeiterklasse. Sie waren wütend und beklagten sich darüber, dass er das Thema überhaupt aufbrachte, dass Leute mit mehr Geld eine bessere Bildung erhalten würden. Für sie war das der eigentliche Skandal, dass er darüber sprach. Sie sahen den Mann als Snob. Er sollte beherzigen, dass doch alle gleich viel Wert seien und alle gleichartig etwas erreichen könnten.
Es gibt also eine Art zweischneidiges Denken bei den Leuten, in ihren Köpfen. Sich auch nur auf ihre Klassensituation zu beziehen, ist schon etwas Unglaubliches. Man sollte es gar nicht erst bemerken. Und für mich ist das ziemlich problematisch. Ich habe das Buch geschrieben und gedacht, so, wie ich aufwuchs und wie ich meine Bildung erhalten habe, dass das Thema der Rasse gegenüber der Klasse deutlich an Bedeutung verloren hat. Wenn man sich die Unruhen von 2011 in London ansieht, dann war das ein absolut multiethnischer Mob, der da durch die Straßen gezogen ist. Es waren Leute aus allen Nationen, von allen Hautfarben, von überall auf der Welt. Und das ist die Realität, die England nun mal heute aufweist. Es geht nicht mehr um die Rasse, es geht einfach nur noch ums Geld.
Wahlster: Es geht ja in dem Buch um alles. Es geht um Sex und Drogen, um Mode und Liebe, um Geld und Familie, und dabei haben Sie zum Teil die aberwitzigsten Dialoge. Bekifften Macho-Talk, unerträgliche Elterntexte, aufgeladene Anmache. Wo hören Sie zu? Wo kriegen Sie diese Bestandteile her?
Smith: Ich höre einfach viel zu. Ich mache mir jetzt keine Notizen und schreibe auch kein Tagebuch, aber ich halte meine Ohren offen. Wie viele englische Autoren habe ich ein gutes Ohr für die verschiedenen Rollen, in die ich schlüpfe. Man braucht ein musikalisches Ohr. Meine Brüder sind sehr musikalisch, und ich denke, es liegt wohl in der Familie.
Wahlster: Dann gibt es in diesen Dialogen, bei diesen Menschen, die den Roman bevölkern, eine Kombination, die sehr auffällig ist. Viel Wut, viel unterdrückte Wut, und unglaublich viel Humor und Witz. Was ist das für eine Kombination?
"Leute, die nicht viel zu verlieren haben, haben oft auch eine große Dynamik"
Smith: Ich habe das so auch in New York wahrgenommen. Leute, die nicht viel zu verlieren haben, haben oft auch eine große Dynamik, viel Charakter und viel Spaß am Leben. Wie sie mit den Leuten umgehen und so weiter. Das Leben der Mittelklasse erscheint daneben öde und langweilig. Es geht darum, vorsichtig zu sein, gute Geschäftsbeziehungen zu pflegen, niemanden zu beleidigen, immer respektvoll zu sein. Das ist doch die zäheste und ermüdendste Lebensart überhaupt.
Wenn man diese Erwartungen nicht mehr hat, kann das Leben sehr interessant sein. Ich wollte auch zeigen, dass das Leben in diesen sozialen Wohnungsbaublocks nicht nur schrecklich ist. Für mich, die ich da auch gelebt habe und aufgewachsen bin, war da auch eine Menge Spaß. Nicht die Häuser selber bedeuten, dass es einem dort schlecht geht oder dass es keinen Spaß macht, sondern dass die Fahrstühle nicht funktionieren, dass die Farbe abblättert, dass nicht investiert wird – das nervt. Aber neben Leuten zu wohnen, die so sind wie man selbst, zu denen man Kontakt hat, die man sieht, mit denen man sprechen kann, zu denen man Beziehungen aufbauen kann. Das ist durchaus positiv.
Jetzt in New York ist das ähnlich. Ich wohne auch in so einem großen Wohnblock. Wir haben alle die gleiche Wohnung, es sind ungefähr tausend Leute, die da leben. Aber es macht Spaß. Es ist leicht, gute Beziehungen zu den Nachbarn zu haben. Die Kinder rennen die Treppen hoch und runter. Alle haben miteinander zu tun, das ist gut so. Und in einem feinen, bourgeoisen Umfeld in diesen Gegenden mit Einzelhäusern, denke ich, lebt man auch sehr isoliert. Und für viele in diesen Häusern, besonders für die Frauen, kann das auch sehr traurig sein.
von Billerbeck: Die britische Autorin Zadie Smith im Gespräch mit meiner Kollegin Barbara Wahlster, die sich beide auf der Leipziger Buchmesse getroffen haben. Übersetzt hat Marei Amir. Smiths Roman "London NW" ist jetzt bei Kiepenheuer und Witsch erschienen. Auf unserer Internetseite deutschlandradiokultur.de können Sie all das nachhören und auch die Angaben über das Buch nachlesen.

Zadie Smith: London NW
Aus dem Englischen von Tanja Handels
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2014
432 Seiten, 22,99 Euro

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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