Gesellschaftsbild mit Gänsehaut
Zwei Amerikaner zeigen "Unheimliche Wirklichkeiten" aus dem Alltag der amerikanischen Mittelschicht. In Baden-Baden begegnen sich die hyperrealistischen Porträtfiguren von Duane Hanson (1925-1996) und die cineastisch angehauchten Vorstadtszenarien des 48-jährigen New Yorker Fotokünstlers Gregory Crewdson.
Die Ausstellung ist fertig, doch im Foyer wird noch gestrichen. Ein bekleckster Maler tüncht die Wand mit rosa Farbe – doch er bewegt sich nicht. Und auch die alte Frau, die da neben dem Kassentresen etwas verlassen auf einem Stuhl sitzt, wartet wohl vergeblich, dass sich jemand um sie kümmert.
Beide sind Kunstmenschen aus täuschend echt bemalter Bronze, Fiberglas und PVC, mit echten Kleidern, echten Accessoires und perfekten Posen. Auf allen drei Etagen des Museums ist das plastische Personal des Bildhauers Duane Hanson platziert, knapp drei Dutzend Individuen: ein Arzt, ein Autoverkäufer, ein Obdachloser, ein Wachmann, eine korpulente Reinigungsfrau mit ihren Utensilien – sie stehen überall herum, mischen sich unters Publikum, sitzen in Ecken, lehnen an den Wänden, lungern auf dem Boden, viele von ihnen sind buchstäbliche Fremd-Körper im Museum. Was macht hier eine Flohmarktverkäuferin mit ihrem Krempel? Und was, zum Teufel, macht der Mann mit seiner Mähmaschine, wo es hier doch keinen Rasen gibt?
Nicht immer verfängt das Spiel mit der Illusion so sehr wie dort, wo wir in einer Nische plötzlich einen scheinbar verlassenen Kinderwagen samt Inhalt entdecken.
Denn darum geht ja: Dass wir kurz zusammenzucken und persönlich reagieren, dass wir so etwas wie Anteilnahme zeigen und Hansons Figuren als eine Art sozialplastische Studie der amerikanischen Gesellschaft begreifen, auch wenn Hanson selbst das gar nicht unbedingt so wollte:
"Daran denke ich gar nicht so sehr. Das ergibt sich eher zwangläufig, wenn der Betrachter das so interpretiert. Mir geht es hauptsächlich darum, Kunst zu machen, Skulptur. Und wenn das klappt, dann entspricht das zu einem gewissen Grad auch den Gefühlen, die ich gegenüber diesen Menschen habe: Wie das Leben den Leuten mitspielt, was sie für unerfüllte Träume haben. Wir haben ja alle Zeiten, wo es uns mal schlechter oder besser geht und wo sich der Traum erfüllt. Aber das meiste davon erfüllt sich nicht."
So weit Hanson, 1991, fünf Jahre vor seinem Tod. Gregory Crewdson, eine Generation jünger als Hanson, legt sein Augenmerk ebenfalls auf den amerikanischen Alltag, auf das Leben in den Vorstädten, hinter deren Fassaden der amerikanische Traum oft genug ein Albtraum ist. In seinen großformatigen Farbfotos, jedes gut zwei Meter breit, lichtet er raffinierte Szenerien ab.
Eine verschneite Kleinstadtstraße, Abenddämmerung, ein Auto biegt um die Ecke, hinterlässt eine Reifenspur im Schnee. Sonst nichts. Und doch spürt man: Gleich wird was passieren. Aber was?
Crewdson ist ein Meister des "suspense", jener Art von Nervenkitzel, der langsam unter die Haut kriecht. Er liebt das Zwielicht, das Zweideutige, das Unausgesprochene:
"Mich interessiert am allermeisten der Moment zwischen dem Vorher und dem Nachher. Ein Augenblick, der ungelöst, der in der Schwebe ist. Der eine Frage offen lässt, auch für mich selbst."
Mal ist der Schauplatz ein Badezimmer, mal ein Schlafzimmer oder ein Bahndamm; die Gesichter der Protagonisten lassen sich kaum deuten, doch der Betrachter wittert stets das Schlimmste, ein Drama. Und in der Tat lässt jedes dieser Bilder ein kleines Kino im Kopf ablaufen. Aber, sagt Crewdson:
"Anders als bei einem Film, der sich in der Zeit entfaltet, sind diese Fotos ganz unbewegt und lautlos. Ein ganz anderes Medium also. Aber ich benutze schon gewisse Codes, die wir aus dem Kino kennen, um eine Geschichte zu enthüllen."
Die Geschichten, die schreibt der Alltag, das Leben in der Nachbarschaft. Nichts ist in Ordnung in diesen kaputten Idyllen, wo das Vertraute plötzlich umschlägt, ins verstörend Fremde.
Manches entsteht im Studio, anderes direkt vor Ort. Um die speziellen Situationen zu schaffen, lässt Crewdson schon mal ganze Straßenzüge sperren, ein Haus in Brand setzen oder eine Fassade demolieren, setzt Regen- oder Nebelmaschinen ein und, wenn's sein muss, auch künstlichen Schnee.
Tagelang ist Crewdsons Team damit beschäftigt, den Schauplatz perfekt zu inszenieren. Die Beleuchtung, die Stimmung, die Details, darauf kommt es an. Er ist der Regisseur, er hat das Bild im Kopf, den Auslöser drückt sein Kameramann. Anders funktioniert es für ihn nicht.
Und der Aufwand ist enorm. Drei, vier Bilder kommen am Ende heraus. Sammler bezahlen mehr als 100.000 Dollar für einen Abzug. Das ist gar nicht so viel. Manche der Plastiken von Duane Hanson kosten das Zehnfache. Es ist auf jeden Fall ein ungemein spannungsreicher Dialog, den die Arbeiten der beiden Amerikaner da bieten, ein Gesellschaftsbild mit Gänsehaut.
"Ordinary Life" wollte Crewdson die Schau nennen: Das ganz normale Leben. Das war den Baden-Badenern zu banal: "Unheimliche Wirklichkeiten" heißt sie jetzt. Das lockt das Publikum. Auch gut. Das Museum ist ja vielleicht einer der unwirklichsten Orte auf der Welt. Nur dort kann das passieren, was uns hier passiert.
Service:
Die Schau "Unheimliche Wirklichkeiten – Duane Hanson und Gregory Crewdson" ist im Museum Frieder Burda in Baden-Baden bis zum 6. März 2011 zu sehen.
Beide sind Kunstmenschen aus täuschend echt bemalter Bronze, Fiberglas und PVC, mit echten Kleidern, echten Accessoires und perfekten Posen. Auf allen drei Etagen des Museums ist das plastische Personal des Bildhauers Duane Hanson platziert, knapp drei Dutzend Individuen: ein Arzt, ein Autoverkäufer, ein Obdachloser, ein Wachmann, eine korpulente Reinigungsfrau mit ihren Utensilien – sie stehen überall herum, mischen sich unters Publikum, sitzen in Ecken, lehnen an den Wänden, lungern auf dem Boden, viele von ihnen sind buchstäbliche Fremd-Körper im Museum. Was macht hier eine Flohmarktverkäuferin mit ihrem Krempel? Und was, zum Teufel, macht der Mann mit seiner Mähmaschine, wo es hier doch keinen Rasen gibt?
Nicht immer verfängt das Spiel mit der Illusion so sehr wie dort, wo wir in einer Nische plötzlich einen scheinbar verlassenen Kinderwagen samt Inhalt entdecken.
Denn darum geht ja: Dass wir kurz zusammenzucken und persönlich reagieren, dass wir so etwas wie Anteilnahme zeigen und Hansons Figuren als eine Art sozialplastische Studie der amerikanischen Gesellschaft begreifen, auch wenn Hanson selbst das gar nicht unbedingt so wollte:
"Daran denke ich gar nicht so sehr. Das ergibt sich eher zwangläufig, wenn der Betrachter das so interpretiert. Mir geht es hauptsächlich darum, Kunst zu machen, Skulptur. Und wenn das klappt, dann entspricht das zu einem gewissen Grad auch den Gefühlen, die ich gegenüber diesen Menschen habe: Wie das Leben den Leuten mitspielt, was sie für unerfüllte Träume haben. Wir haben ja alle Zeiten, wo es uns mal schlechter oder besser geht und wo sich der Traum erfüllt. Aber das meiste davon erfüllt sich nicht."
So weit Hanson, 1991, fünf Jahre vor seinem Tod. Gregory Crewdson, eine Generation jünger als Hanson, legt sein Augenmerk ebenfalls auf den amerikanischen Alltag, auf das Leben in den Vorstädten, hinter deren Fassaden der amerikanische Traum oft genug ein Albtraum ist. In seinen großformatigen Farbfotos, jedes gut zwei Meter breit, lichtet er raffinierte Szenerien ab.
Eine verschneite Kleinstadtstraße, Abenddämmerung, ein Auto biegt um die Ecke, hinterlässt eine Reifenspur im Schnee. Sonst nichts. Und doch spürt man: Gleich wird was passieren. Aber was?
Crewdson ist ein Meister des "suspense", jener Art von Nervenkitzel, der langsam unter die Haut kriecht. Er liebt das Zwielicht, das Zweideutige, das Unausgesprochene:
"Mich interessiert am allermeisten der Moment zwischen dem Vorher und dem Nachher. Ein Augenblick, der ungelöst, der in der Schwebe ist. Der eine Frage offen lässt, auch für mich selbst."
Mal ist der Schauplatz ein Badezimmer, mal ein Schlafzimmer oder ein Bahndamm; die Gesichter der Protagonisten lassen sich kaum deuten, doch der Betrachter wittert stets das Schlimmste, ein Drama. Und in der Tat lässt jedes dieser Bilder ein kleines Kino im Kopf ablaufen. Aber, sagt Crewdson:
"Anders als bei einem Film, der sich in der Zeit entfaltet, sind diese Fotos ganz unbewegt und lautlos. Ein ganz anderes Medium also. Aber ich benutze schon gewisse Codes, die wir aus dem Kino kennen, um eine Geschichte zu enthüllen."
Die Geschichten, die schreibt der Alltag, das Leben in der Nachbarschaft. Nichts ist in Ordnung in diesen kaputten Idyllen, wo das Vertraute plötzlich umschlägt, ins verstörend Fremde.
Manches entsteht im Studio, anderes direkt vor Ort. Um die speziellen Situationen zu schaffen, lässt Crewdson schon mal ganze Straßenzüge sperren, ein Haus in Brand setzen oder eine Fassade demolieren, setzt Regen- oder Nebelmaschinen ein und, wenn's sein muss, auch künstlichen Schnee.
Tagelang ist Crewdsons Team damit beschäftigt, den Schauplatz perfekt zu inszenieren. Die Beleuchtung, die Stimmung, die Details, darauf kommt es an. Er ist der Regisseur, er hat das Bild im Kopf, den Auslöser drückt sein Kameramann. Anders funktioniert es für ihn nicht.
Und der Aufwand ist enorm. Drei, vier Bilder kommen am Ende heraus. Sammler bezahlen mehr als 100.000 Dollar für einen Abzug. Das ist gar nicht so viel. Manche der Plastiken von Duane Hanson kosten das Zehnfache. Es ist auf jeden Fall ein ungemein spannungsreicher Dialog, den die Arbeiten der beiden Amerikaner da bieten, ein Gesellschaftsbild mit Gänsehaut.
"Ordinary Life" wollte Crewdson die Schau nennen: Das ganz normale Leben. Das war den Baden-Badenern zu banal: "Unheimliche Wirklichkeiten" heißt sie jetzt. Das lockt das Publikum. Auch gut. Das Museum ist ja vielleicht einer der unwirklichsten Orte auf der Welt. Nur dort kann das passieren, was uns hier passiert.
Service:
Die Schau "Unheimliche Wirklichkeiten – Duane Hanson und Gregory Crewdson" ist im Museum Frieder Burda in Baden-Baden bis zum 6. März 2011 zu sehen.