Gesellschaft

Sehnsucht nach Identität

Die undatierte Aufnahme zeigt den indischen Publizisten und Historiker Pankaj Mishra. Er erhält den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung 2014. Foto: Nina Subin, S. Fischer Verlag
Der indische Autor Pankaj Mishra © dpa / Nina Subin
Moderation: Barbara Wahlster |
Die Europäer hätten sich lange nicht für das interessiert, was in Asien, Afrika und Lateinamerika geschieht, sagt Schriftsteller Pankaj Mishra. Das habe sich heute verändert, da es in Asien aufstrebende Wirtschaftsmächte gibt. Mishra erhält den Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung.
Frank Meyer: Für die Europäer war das 20. Jahrhundert das Jahrhundert der beiden Weltkriege und des Kalten Kriegs. Für den größten Teil der Weltbevölkerung aber war das 20. Jahrhundert viel stärker von anderen Dingen geprägt: vom Ende des Kolonialzeitalters und vom Aufstieg Asiens. Diesen anderen Blick auf die jüngere Geschichte - und damit auch auf die westliche Kultur - beschreibt der indische Autor Pankaj Mishra. Heute Abend wird er mit dem Leipziger Buchpreis zur Europäischen Verständigung geehrt.
Das war schon eine Überraschung: Den Leipziger Buchpreis für Europäische Verständigung bekommt in diesem Jahr kein Europäer, sondern der indische Autor Pankaj Mishra. Er wird ausgezeichnet für sein Buch "Aus den Ruinen des Empires. Die Revolte gegen den Westen und der Wiederaufstieg Asiens" - ein Buch, das vor allem vom Aufstieg Chinas und Indiens erzählt. Das hat mit europäischer Verständigung erst mal nichts zu tun, aber die Jury für den Preis meinte, eine solche Analyse der Auflehnung Asiens gegen den westlichen Kolonialismus habe es bisher noch nicht gegeben. Und Mishras Blick auf Europa aus asiatischer Perspektive trage zu einer europäischen Selbstverständigung bei.
Deshalb hat unsere Literaturredakteurin Barbara Wahlster Pankaj Mishra bei ihrem Gespräch zuerst gefragt: Was erwartet er aus seiner Sicht von einer Selbstverständigung Europas?
Aufstrebende Wirtschaftsmächte
Pankaj Mishra: Also ich habe jetzt keinen besonderen Insidereinblick in die Entscheidungen von Jury, aber es ist schon so, dass wir in Asien, dass zu unserem Selbstverständnis Europa und auch der Westen einfach dazugehört, ganz einfach, weil der Westen eine sehr dominante Rolle für Hunderte von Millionen von Asiaten spielt. Zumindest war das so in den letzten 200 Jahren. Und es ist unmöglich für uns in Asien, uns nicht mit der Philosophie, der Literatur und der Politik des Westens oder Europas auseinanderzusetzen.
Wir müssen diesen Aspekt einfach auch verstehen. Weil es ist einfach so, dass ein sehr großer Einfluss des Westens auf Asien stattgefunden hat, auf China und auch auf Indien. Es sind eigentlich nur die Europäer, die sich eingeigelt haben, die sich sehr lange nicht für das interessiert haben, was in Asien, in Afrika und Lateinamerika geschieht. Und der einzige Grund, warum sich das in letzter Zeit verändert hat, liegt einfach darin, dass es in Asien eben aufstrebende Wirtschaftsmächte gibt, die einen sehr viel größeren Einfluss haben.
Barbara Wahlster: Dieses Wachsen, dieses Anwachsen Asiens werden wir gleich noch mal kurz besprechen, aber Sie haben 2006 ein Buch geschrieben, "Lockruf des Westens". Worin bestehen diese Verlockungen heute, wenn doch zugleich große Gruppen den Westen als gescheitert ansehen, als zerrissen, als gefangen in der Doppelzüngigkeit?
Mishra: Also für sehr viele - sei es in China, sei es im Iran oder sei es in Ägypten - sind die Demokratien des Westens vor allem in Europa nach wie vor unglaublich wichtig. Weil es ist einfach so: Dass wenn es um gewisse Rechte geht, wie das Recht der Frauen, ja, es geht da auch um Fragen wie sexueller Selbstbestimmung oder das Recht der Arbeiter, der Wohlfahrtsstaat, der in Großbritannien oder in Deutschland existiert, all das ist immer noch sehr relevant für viele Länder, die erst seit 50, 60 Jahren ihre Unabhängigkeit gefeiert haben und noch dabei sind, sich als Staat aufzubauen, eine Gesellschaftsordnung zu geben.
Insofern sind diese Kämpfe, die da innerhalb Europas stattgefunden haben, nach wie vor sehr wichtig für uns, und man will diesen Verlockungen der Demokratie natürlich auch wirklich erliegen und sich mit dem auseinandersetzen, weil man immer noch von dieser europäischen Erfahrung lernen kann.
Wahlster: Wie erklären Sie denn den vergleichsweise, ja, ich würde sagen gelassenen Umgang vieler asiatischer Intellektueller mit dem Westen, mit der postkolonialen Geschichte im Vergleich zu denjenigen Ländern der arabischen Welt, wo Opfermentalität, Schuldvorwürfe und auch die eigene Ambivalenz, wie mir scheint, gegenüber dem Westen doch deutlich stärker ausgeprägt sind?
Junge Leute haben eine andere Haltung zu den USA
Mishra: Das hat sicherlich mit einer ganz unterschiedlichen postkolonialen Geschichte zu tun, von Ländern, die ihre Unabhängigkeit in den 1940er-Jahren oder ab 1940 erlangt haben, wie beispielsweise China oder Indien - die waren sehr viel autonomer. Und dort war es eben so, dass die neuen Eliten oder die neuen Regierungen nicht von ausländischen Mächten installiert wurden oder eingesetzt worden sind.
Das war in Ägypten ganz anders. Seit Nasser gab es eigentlich nur proamerikanische Despoten, und die USA haben einfach nur versucht, eine Art Status quo aufrechtzuerhalten und haben das auch finanziell stark unterstützt, was eben von einem Großteil der Bevölkerung auch abgelehnt worden ist. Der Iran ist ein noch sehr viel besseres Beispiel: Dort ist eine Elite eben jahrzehntelang von den USA und von Europa unterstützt worden, bis es 1979 zur Revolution kam und man gesehen hat, wie viel Antiamerikanismus sich dabei aufgestaut hatte.
Und der existiert bis heute, auch wenn es mittlerweile so ist, dass vor allen Dingen junge Leute im Iran eine ganz andere Haltung zu den USA haben und einen gewissen Lebensstil der Amerikaner, der USA auch selber ganz gerne hätten. Aber das muss man eben sehen, jedes Land hat seine eigene Geschichte und ist eben auch einzeln zu betrachten.
Wahlster: Der indische Historiker und Publizist Pankaj Mishra im Gespräch mit Deutschlandradio Kultur. Er ist der diesjährige Preisträger des Leipziger Buchpreises zur Europäischen Verständigung.
Hat denn gerade auch, weil Sie das iranische Beispiel genannt haben, der Islam, der millenaristische Islam, die Utopien des Sozialismus ersetzt, etwa im Kampf gegen den exzessiven Materialismus?
Mishra: Nun, wir wollen es auch nicht übertreiben, was den Einfluss dieses millenaristischen Islams betrifft, weil in Ägypten beispielsweise, wenn die Muslimbruderschaft noch sehr viel länger an der Macht gewesen wäre, noch einige Monate mehr gehabt hätte, dann wäre eine gewisse Illusion wahrscheinlich auch zerstört worden. Vielleicht wären sie dann auch kompromissbereiter gewesen und man hätte gemerkt, dass der Islam nicht die Lösung aller Probleme Ägyptens bedeutet.
Aber dieser islamische Millenarismus oder dieser millenaristische Islam ist eben eine Reaktion beispielsweise auf das brutale proamerikanische Regime im Iran gewesen. Und nach 35 Jahren im Iran ist jetzt eine neue Generation herangewachsen, die auch aus gewissen Fehlern gelernt hat und die auch weiß, dass der Islam eben nicht eine politische Ideologie ist.
Und so langsam kommt da zu einer anderen Auffassung, und die Slogans von 1979 sind nun bei Weitem nicht mehr alle so populär. Aber genau darum geht es, dass eben jede Generation auch lernt und ihre Erfahrungen mit einbringt, und man soll aufhören, diesen millenaristischen Islam oder den radikalen Islam immer nur dem Westen entgegenzusetzen und immer nur so zu formulieren: Islam gegen den Westen, gegen den westlichen Materialismus. Das bringt uns nicht weiter.
Wahlster: Wenn aber Begriffe wie Würde, Loyalität so ein großes, neues Gewicht gewinnen, dann rücken auch alte Ordnungen in den Hintergrund, das heißt, nationalstaatliche Konstrukte oder Dinge, die manche Gesellschaften zusammengehalten haben, verlieren an Bedeutung. Kann man das nicht auch daran sehen, dass ethnische, religiöse, sprachliche Gruppierungen immer wichtiger werden und damit natürlich so etwas wie Homogenität?
Rassismus nimmt wieder zu
Mishra: Nun, das Ganze ist schon wirklich sehr, sehr komplex, das sind sehr komplexe Probleme, die durch die Globalisierung entstanden sind, und da würde ich Westeuropa oder den Westen in einem Atemzug nennen mit Ländern wie Indien, der Türkei oder auch dem Iran, weil man überall schon das Gefühl hat, in all diesen Ländern, dass man nicht mehr wirklich frei ist, dass man nicht mehr wirklich unabhängig ist und dass die politischen Institutionen dieser Länder nicht mehr wirklich die Antworten auf die Probleme der Bevölkerung geben.
Selbst in den Demokratien haben wir das Phänomen, dass viele nicht mehr so recht funktionieren, und dass es eine Sehnsucht gibt nach einer neuen Identität, die mehr im Nationalen, im Ethnischen, sogar im Regionalen liegt. Und das hat man in Indien, das hat man in Indonesien, das hat man bei sehr vielen rechtsradikalen Parteien, die einfach auch gegen Einwanderer sind, Rassismus nimmt wieder zu, wir haben diese Antimigrationsbewegung beispielsweise auch in Großbritannien.
Und das liegt einfach an diesem globalen Kapitalismus, an diesen schnellen Bewegungen von Geld und von Menschen, dass die Jobs nicht mehr sicher sind, dass man auch wegen Arbeit plötzlich sich so viel bewegen muss. Und all das führt wirklich zu einer Unsicherheit und zu einer Entfremdung, und die Reaktion darauf ist, dass man sich wieder nach etwas sehnt, was anscheinend etwas Altes ist, was lange zurückliegt. Und die Ausbrüche von Gewalt und Hass, wenn es beispielsweise Minderheiten trifft, schaffen dann plötzlich eine Form der Solidarität, die es eigentlich längst nicht mehr gibt unter Menschen.
Meyer: Der indische Autor Pankaj Mishra im Gespräch mit Barbara Wahlster. Jörg Taszman hat das Gespräch übersetzt.
Pankaj Mishra wird heute Abend mit dem Leipziger Buchpreis für Europäische Verständigung geehrt, für sein Buch "Aus den Ruinen des Empires. Die Revolte gegen den Westen und der Wiederaufstieg Asiens". Das Buch ist im S. Fischer Verlag erschienen.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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