Gesellschaft

Mehr Trauer, weniger Schmerz

Von Michael Böhm · 21.01.2014
An etwas zu scheitern, ist so eine Sache: Sich selbst will man es meist nicht eingestehen und andere werfen es einem auch nicht vor. Aber fehlt in einer Welt, in der man nicht mehr scheitern kann, nicht etwas Wesentliches, fragt Michael Böhm.
Unsere fortschritts- und erfolgshörige Gesellschaft tabuisiert das Scheitern. Sie hält Mechanismen bereit, um es zu verhindern und aufzuheben: Scheitern etwa berufliche Karrieren, weil Erwachsene arbeitslos werden, gibt es Arbeitsämter, die sie wieder in den Arbeitsmarkt zu integrieren versuchen. Scheitern Schüler in der Schule, weil sie schlechte Leistungen erbringen, gibt es Sozialarbeiter, die mit ihnen "Aufmerksamkeitstraining" betreiben. Scheitern Kinderwünsche, weil Schwangerschaften ausbleiben, gibt es die Reproduktionsmedizin, um dennoch Kinder zu bekommen.
Denn zu scheitern - das widerspricht dem Glücksversprechen der Moderne, demzufolge jedes Problem lösbar sei, wenn man mit Willen und Vernunft an ihm arbeite. "Der Mensch wird depressiv, wenn er die Illusion ertragen muss, dass ihm alles möglich ist", schreibt der französische Soziologe Alain Ehrenberg. Tatsächlich greifen seit 50 Jahren in Deutschland immer mehr Menschen zu Antidepressiva. Nicht zu reden von Alkoholismus und Drogensucht. Sie sind in der Gesellschaft weit verbreitet - in unserer Kultur, die das Scheitern zu verhindern sucht, so scheint es, betäubt dergleichen den Schmerz darüber.
Kassandra scheiterte schuldlos
"In der antiken Tragödie ist die Trauer tiefer, der Schmerz geringer; in der modernen ist der Schmerz größer, die Trauer geringer", schreibt der Philosoph Sören Kierkegaard 1843. Er meinte den seelischen Schmerz, der aus der Schuld am Scheitern resultierte, da der Mensch über sie reflektierte. Er meinte, dass etwa Kassandra als Wahrsagerin schuldlos scheiterte, da Gott Apollon wollte, ihr solle niemand glauben. Oder Hektor im Kampf gegen Achilles schuldlos scheiterte, da ihn die Göttin Athene täuschte.
Denn in der Antike hatte jeder Mensch sein Schicksal, über das die Götter beschlossen. Doch sie gebärdeten sich dabei zuweilen wie spielende Kinder, unvernünftig und gemein. So befreite die antike Kultur des Scheiterns vom Zwang, alles können zu müssen. Der göttliche Schicksalsspruch bannte zuweilen den Willen der Menschen und ihre Vernunft, er wirkte manchmal als letzter Grund. Das tragische Schicksal machte es so möglich, ungewollt zu scheitern und die Schuld bei Misserfolgen an höhere Mächte zu verweisen.
Doch das Christentum kannte nur einen Gott. Er war der Gott der Liebe und der Vernunft, der die Menschen nach seinem Bilde schuf; so dass sie immer und überall liebevoll und vernünftig zu sein hatten. So schwand die Idee des antiken Schicksals, das manchmal unvernünftige Götter beschlossen. Die Vernunft saß seither immer und überall in jedem Menschen. Sie ließ ihn mehr und mehr über seine Schuld am Scheitern nachdenken, schuf immer größeren Schmerz darüber. Gemäß dem technischen Fortschritt, der sich in der Aufklärung aus dem Christentum säkularisierte, der seither das Scheitern abzumildern, ja zu verhindern sucht und der seit der Industrialisierung immer mehr Mechanismen dafür etablierte.
Vernunft und freier Wille als Illusion?
Um eine wirkliche Kultur des Scheiterns wirklich zu schaffen, müssten wir zu den vielen Götter zurückfinden, die die Menschen tragisch, schuldlos scheitern ließen. Doch vielleicht brauchen dafür wir keine Götter mehr?
Es erscheint fast wie ein antiker Göttermythos, wenn Neurologen davon sprechen, Vernunft und freier Wille des Menschen seien lediglich Illusionen, und menschliches Handeln stelle nur einen willkürlichen Akt dar: Dass etwa ein verheirateter Mann seine Frau mit einer Anderen schuldlos betrüge, da ihr Charme nur neuronale Prozesse im Hirn auslöse oder ein Börsianer mit seinen Spekulationsgeschäften scheitere, da ihn Proteine und Moleküle schuldlos dazu treiben würden.
Vielleicht liegt hier der Samen zu einer neuen Kultur des Scheiterns, so dass die Menschen künftig wieder Schuld an höhere Instanzen abgeben, wieder tragisch scheitern können und tiefere Trauer bei geringerem Schmerz empfinden.
Michael Böhm, Publizist, geboren 1969 in Dresden, studierte Politikwissenschaft in Berlin und Lille und lebt als freier Publizist in Berlin. Er schreibt für verschiedene Zeitschriften und den Rundfunk im deutschsprachigen Raum, u. a. "GDI-Impuls" und "RBB-Kulturradio". Letzte Buchveröffentlichung "Alain de Benoist - Denker der Nouvelle Droite" 2008.
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