Gesellschaft

Die Welt ist nackt

Das Firmenlogo von Google ist an einem Bürogebäude in Dublin zu sehen.
Gilt unter Datenschützern als Datenkrake: der Internetkonzern Google © picture-alliance / dpa / Jessica Binsch
Von Michael Meyer · 29.09.2014
Ob Staat oder privat – durchs Schlüsselloch gucken, das war verpönt. Doch unsere Vorstellung von Privatsphäre hat sich verändert. Facebook und Co. haben uns in das Zeitalter der "postprivacy" geführt. Brauchen wir eine Umkehr? Oder ist die Privatsphäre einfach nicht mehr zeitgemäß?
"Privatsphäre ist für mich, das Gefühl, selbst entscheiden zu können, wer Zugang zu Informationen hat, über mich selbst, die mir wichtig sind, und an wen ich diese Informationen weitergeben möchte und was mit denen passiert.
"Ich glaube, dass der Begriff Privatsphäre, dass es dazu immer weniger Common Sense gibt, sondern immer mehr Verästelungen, was man darunter versteht.
"Privat im klassischen Sinne ist, was mir gehört."
Die Welt ist nackt. Wie sich unser Begriff von Privatsphäre verändert hat. Eine Sendung von Michael Meyer
Die Privatsphäre – sie ist ein heiliges Gut und ist in allen modernen Demokratien verankert. Und doch: Sie ist bedroht, auch weil sich unsere Vorstellung von ihr in den vergangenen Jahrzehnten stark verändert hat.
Was man in der Biologie als "semi-permeable Membran" bezeichnet, als halbdurchlässige Hülle, gilt auch für unsere Privatsphäre in der modernen Welt: Was privat ist und was nicht, ist nicht mehr so genau auszumachen. Oder, wie die ZEIT anlässlich der Einführung von "Google Street View" schrieb:
"Die neue Welt ist nackt".
Die beiden Juristen Samuel Warren und Louis D. Brandeis beschrieben den Begriff "Privatsphäre" 1890 so: Das sei, in einfachen Worten, "das Recht in Ruhe gelassen zu werden". Man kann den Begriff aber auch deutlich enger fassen:
"Privatsphäre wäre also der Bereich der Dinge, die ich als mein Eigentum ansehe, würde ich als erstes sagen."
So der Soziologe Joachim Güntner, der einen langen Essay über den Begriff der Privatsphäre verfasst hat.
Das Internet hat keinen Stein auf dem anderen gelassen
"Die Frage ist, wo man da die Grenzen zieht, und das ist sicher historisch kontingent, jede Geschichte und jede Gesellschaft macht das dann für sich selber aus."
Doch genau darüber wird heutzutage wieder diskutiert. Was ist "Privatsphäre", wie weit geht sie, was ist schützenswert und was nicht? Das Internet hat in diesem Bereich kaum einen Stein auf dem anderen gelassen. Der Begriff des Privaten verschwimmt.
Wir leben in der Zeit der radical transparency, sagt Facebook-Gründer Marc
Zuckerberg – oder auch: Wir leben im Post-privacy- Zeitalter. Mit anderen Worten: Privatsphäre ist in der Welt des 21. Jahrhunderts angeblich nicht mehr so wichtig, radikale Offenheit scheint im Trend zu liegen. Und das bezieht sich nicht nur auf das Internet, sondern auch auf die Welt der klassischen Medien und der Prominenz: Unzählige Bücher, CDs, Filme wurden nicht zuletzt deswegen gut verkauft, weil der jeweilige Promi sein Innerstes nach außen kehrte und über sein Leben berichtete. Doch ist es wirklich so, dass radikale Offenheit das Gebot der Stunde ist? Dass wir in einer "post-privaten Ära" leben?
"Jede Äußerung, die ein Mensch tut, ist schon eine Veröffentlichung"
Ja, sagen die Künstler und Schauspieler Ingolf Keiner und Johannes Brandrup, die im vergangenen Jahr in Berlin ein Theaterstück zum Thema Privatsphäre und Individuum in der vernetzten Welt aufgeführt haben. "Public is the new private" hieß die Performance, die von einer Ausstellung und einem Blog im Internet begleitet wurde. "ICH BIN KEINER und Das Ende der Privatheit" handelt davon, dass die Hauptfigur "Keiner" alle nur erdenklichen Identitäten annehmen kann – das sogenannte Keiner-Syndrom. Er kann sich in Datensätze auflösen. Das Keiner-Syndrom ist ansteckend. Irgendwann sind vielleicht alle "Keiner". Was öffentlich und privat ist, werde dann nicht mehr so wichtig sein, erklärt Ingolf Keiner:
"Ich habe mir gedacht – das war auch ein wichtiger Aspekt dieses Themas – was ist das wirklich unvergänglich Private, was übrig bleibt? Und das ist eigentlich nur jeder für sich mit seiner Individualität und der Tod letztendlich. Und jede Bewegung, jede Äußerung, die ein Mensch in die Welt tut, ist schon eine Veröffentlichung. Er veröffentlicht seinen Körper, seine Sprache, seine Emotionen und tritt in Interaktion. Ist dieser öffentliche Bereich eigentlich sehr groß, schon immer gewesen, und das Private ist eher konnotiert mit Pause, mit Rückzug, aber auch mit Angst, mit Schutzbedürfnis."
"Wir sind hier in der Kastanienallee 64 …"
Die Performance, die Ingolf Keiner und Johannes Brandrup inszeniert haben, ist ein Spiel mit Identitäten, Formen, Farben und Bildern – und persifliert die Motive Verfolgungswahn, Sicherheitsdenken und die Suche nach eindeutigen Antworten.
"Es liegt in jedermanns Macht"
Ingolf Keiner sagt, dass man angesichts der überwältigenden technischen
Entwicklung nicht mehr tun könne, als immer wieder sich selbst zu fragen: Wie weit will ich gehen, wie weit will ich mich selbst entäußern? Eine Frage, vor der jeder Künstler ohnehin jeden Tag stehe:
"Es ist schon so, dass sich die Werte Vertrauen und das gesprochene Wort, oder das Versprechen, die Verabredung wieder neues Vertrauen bedürfen, und das im Moment erst mal Dinge wieder aufgebrochen werden, zum Teil auch kaputt gehen und zum Teil auch missbraucht werden, natürlich. Und das Ganze führt zu einem Diskurs und das führt dazu, dass sich jeder einzelne tatsächlich fragen muss, inwieweit er bereit ist, überhaupt etwas zu veröffentlichen. Ich meine, wir könnten uns auch alle völlig ins Private zurückziehen, das Internet abschalten, Tür zu machen, wieder Zeitung lesen oder meditieren, und das war's dann. Also dann möchte ich sehen, wie die Globalisierung mit ihrer Technik dann voranschreitet. Wir sind die Kunden, die Käufer, die User, die Liker, wir sind diejenigen, die's auch mittragen, und dann finde ich sollten wir das auch verantwortungsvoll tun, und bewusst tun. Jeder entscheidet, also es gibt da keinen: die Bösen, die Anderen. Sondern es liegt natürlich in jedermanns Macht."
Vielleicht hilft es, erst einmal zurückzuschauen, woher der Begriff kommt und wie sich unser heutiges Verständnis von Privatheit verändert hat. Bereits im alten Griechenland gab es die Unterscheidung zwischen der Hausgemeinschaft,
griechisch: "Oikos" und dem öffentlichen Marktplatz, der viel zitierten "Agora". Aber auch im alten Rom, so erklärt es Joachim Güntner, gab es die Trennung zwischen Öffentlichem und Privatem: Publicus und Privatus – dafür gibt es Begriffe –, und in den ländlichen Zivilisationen des Mittelalters mit Zünften, Standesorganisationen usw. wurde diese Unterscheidung dann kassiert, wurde sie hinfällig, die Grenzen verschwammen, und erhielten erst richtig wieder mit der frühen Industrialisierung und der Aufklärung Profil und Kontur.
Recht auf Privatheit nur für höhe Stände
Im vorindustriellen Zeitalter war das Recht auf Privatheit nur den höheren Ständen zugestanden worden: dem Adel, dem Klerus, höhergestellten Beamten. Die niederen Kasten konnten sich Privatsphäre nicht leisten – schon aus wirtschaftlichen Gründen: Die Wohnungen waren klein, es lebten viele Menschen auf engem Raum – und die Unverletzlichkeit der Wohnung war ebenfalls noch nicht gegeben.
"Also die Vorstellung von Privatheit kann glaube ich nur da entstehen, wo es auch einen Begriff von Eigentum gibt, und zweitens scheint das Beharren auf einen privaten Raum an städtische Zivilisation geknüpft zu sein, auch an Bürgerlichkeit. Er braucht also eine Grundlage für Individualismus."
Dennoch hat sich auch in den großstädtischen, intellektuellen Kreisen der Begriff der Privatheit verändert. Der Schlachtruf: "Das Private ist politisch" der 68er und der Frauenbewegung hat in der jüngeren Neuzeit für Debatten gesorgt: Der Begriff des Privaten war in diesen Kreisen nicht mehr unumstößlich. Allerdings zielte die Kritik der Linken vor allem auf die Ziele des politischen Liberalismus, meint Joachim Güntner. Die Trennung der Sphären, stehe dem Anliegen der Linken und Progressiven entgegen:
"Wir sehen historisch, dass beispielsweise Kirchen, die Wissenschaft, die Bildung auseinandertreten. Wir sehen überhaupt dass Arbeiten und Wohnen auseinandertritt, was auch eine Bedingung dafür ist, dass unser Home unser Castle werden kann – also eine feste Burg, die man absichern kann. Und wir sehen, wenn wir die Kritik des jungen Marx lesen in dem Essay zu Judenfrage, das genau das angegriffen wird, also: Die Französische Revolution will plötzlich das Individuum postulieren mit seinen privaten Rechten und seinen eigenen Sphären. Aber wir wollen doch eigentlich was ganz anderes: Wir wollten die Gesellschaft als großes Kollektiv, als kooperative Gemeinschaft, das ist die Kritik von links an diesen individualen, an diesen liberalen Individualrechten."
Allerdings ist bekanntermaßen die Idee des großen Kollektivs, der kooperativen Gemeinschaft in den sozialistischen Gesellschaften missbraucht worden – dort galt und gilt die Idee einer "Privatsphäre", einer individualistischen Lebensführung, erst einmal verdächtig, wenn nicht gar staatsfeindlich.
Misstrauen gegen Staat größer als gegen Konzerne
Schon Anfang der Achtzigerjahre befassten sich Künstler, wie etwa die Band Kraftwerk, mit dem Aufkommen von Computern und einer Gesellschaft, deren Daten zunehmend vom Staat gesammelt und überwacht werden. Der von George Orwell in seinem Roman "1984" beschriebene allwissende Überwachungsstaat erschien damals allerdings eher als eine wilde, übertriebene Utopie, denn Realität. Dennoch wehrten sich die Bürger in der Bundesrepublik gegen eine geplante Volkszählung und das Bundesverfassungsgericht schrieb 1983 in einem Urteil das "Recht auf informationelle Selbstbestimmung" fest. Danach ist es mit diesem Rechtsbegriff nicht vereinbar, wenn die Bürger nicht wissen können, wer was wann über sie weiß. Das bezog sich auf den Staat als "Datensammler", heute könnte man es ebenso gut auf die Googles, Facebooks dieser Welt beziehen. Interessant dabei ist allerdings, dass das Misstrauen dem Staat gegenüber meist sehr viel größer ist als bei privaten Unternehmen, bestätigt der Medienpsychologe Leonard Reinecke.
Er forscht an der Uni Mannheim zu Verhaltensweisen in medialen Kontexten. Bei der jüngsten Volkszählung war der Widerstand zwar deutlich schwächer als beim Volkszählungsboykott in den 80er-Jahren – aber grundsätzlich gelte immer noch: Bei Auskunftspflichten staatlichen Behörden gegenüber empfinden Bürger und Nutzer mehr Misstrauen:
"Ich bin ganz stark mit einer Situation konfrontiert, in der ich das Gefühl habe, es obliegt nicht mir, ob ich diese Informationen zur Verfügung stellen möchte, weil ich eine Informationsverpflichtung habe letztendlich dem Staat gegenüber. Und das führt sicherlich zu sehr viel stärkeren Gefühlen des Kontrollverlustes und zu sehr viel stärkeren Widerständen."
Wir brauchen einen Digitalknigge
Auch wenn der Staat mit Maßnahmen wie der Vorratsdatenspeicherung oder dem Staatstrojaner durchaus ebenfalls subtil vorgeht, herrscht bei vielen Internetnutzern das Gefühl vor, dass die Datensammelwut privater Unternehmen wie Facebook oder Google sparsamer ist, bestätigt Leonard Reinecke. Doch dieses Denken könne man erklären:
"Facebook tritt ja gar nicht als Daten sammelndes Unternehmen in der Situation in Erscheinung, wenn ich Selbstoffenbarung betreibe. Wenn ich Facebook benutze, werde ich in der Regel nicht darüber nachdenken, was irgendwann mit diesen Informationen passiert, inwiefern die monetarisiert werden. Das sind Prozesse, die sich der Mehrheit der Nutzer entziehen und die darüber noch gar nicht aufgeklärt sind, deswegen ist aus meiner Sicht bisher der Widerstand gegen solche Verhaltensweisen noch relativ moderat. Wobei man da auch ein wachsendes Verständnis für die Wichtigkeit, da ein Auge drauf zu haben erkennen kann, in der Nutzergemeinschaft."
Doch wie gehen die User im Netz eigentlich mit ihren Daten um? Sind sie arglos, uninformiert? Ist ihnen Privatsphäre überhaupt noch wichtig? Aus einer – nicht repräsentativen kleinen Umfrage – durchgeführt auf Facebook:
Privatsphäre: Die eigenen vier Wände. Digitale Privatsphäre: Dinge, die privat bleiben sollen, haben in der digitalen Welt nichts verloren. Doch jeder von uns zieht die Grenze anders. Ist es okay, ungefragt Freunde auf Fotos zu taggen? Ist es okay, Schnipsel aus privaten Unterhaltungen oder Mails zu posten? Wohl eher nicht. Fazit: Wir brauchen einen Digitalknigge.
"Privatsphäre ist für mich nur da sicher, wo die moderne Elektronik eben nicht hinkommt. Sprich, die eigenen dunklen Geheimnisse, die man auch nirgendwo anders hinschreibt als in ein verstecktes abschließbares Tagebuch, sind vermutlich alles, was von der Privatsphäre heute übrig ist. Eine kleine geschrumpfte Insel, die man besser hütet wie seinen Augapfel. Jeder hat ein Recht auf seine Geheimnisse, also muss man sie sorgsam verstecken."
"Ist privat nicht muffig?"
"Privatsphäre? Man sprach lange von der 'Tyrannei der Intimität', die die Öffentlichkeit zerstört, jetzt ist es offenbar gegenläufig, die Privatsphäre gilt als bedroht. Wirklich? Ich weiß es nicht. Braucht man nicht noch mehr Privates im Öffentlichen, um das Öffentliche zu retten? Ist dieser Dualismus 'Privat' und Öffentlich überhaupt haltbar? Ist privat nicht muffig? Privat ist mir fast schon zu negativ besetzt, ein Schutzraum der Angst, weil man Angst hat, dass etwas Dunkles ans Licht kommt."
Privatsphäre ist den meisten Menschen also durchaus wichtig – auch wenn jeder die Grenze anders zieht. Und dass die Grenzen verschwimmen, dafür sorgen vor allem die seit fünf, sechs Jahren allgegenwärtigen, populären sozialen Netzwerke im Internet. Sie erfüllen, das muss man an dieser Stelle noch einmal betonen, mehrere Bedürfnisse, und sind gerade deswegen so erfolgreich: Sie dienen meist eben nicht nur der Vernetzung mit Freunden, Bekannten, Kollegen, sondern werden auch genutzt für politische Information oder auch Protest – etwa wenn man sich einer Online-Bewegung anschließt. Doch hier beginnen die Probleme der mangelnden Privatsphäre, meint Thilo Weichert. Er ist der Datenschutzbeauftragte von Schleswig-Holstein, und einer der Vorkämpfer, wenn es um mehr Datenschutz im Netz geht – namentlich bei Facebook, aber auch einigen anderen Netzwerken.
"Das große Problem ist, dass eine Vielzahl von unterschiedlichen Lebenswirklichkeiten zusammenfließen, auch eine Vielzahl von unterschiedlichen Spuren zu einem Nutzer zusammengeführt werden können. Und das veranlasst dann die jeweiligen Betreiber dazu, unter Umständen Profile zu erstellen, die dann vermarktet werden können, die sehr viel Wert sind für Werbezwecke und das muss eben dann vom Datenschutz eingebunden oder eingegrenzt werden auf das, was akzeptabel ist."
Soziale Netzwerke vermitteln das Gefühl privater Räume
Thilo Weichert kann sich richtig aufregen, wenn behauptet wird, dass 80 Prozent der Internetnutzer ihre Privatsphäre nicht so wichtig sei – im Gegenteil. Den meisten sei sie sogar sehr wichtig, nur sei eben die praktische Umsetzung oft komplex und schwierig. Der Medienpsychologe Leonard Reinecke beschreibt dieses Phänomen als eine Art "Privatsphäre – Paradox": Man wisse zwar meist um die Gefahren, schert sich in der Praxis dann aber oft doch nicht darum:
"Und das liegt meiner Ansicht nach daran, dass man einen Unterschied machen muss zwischen psychologisch gefühlter Privatsphäre und informationsbezogenem Verhalten. Ich denke, dass insbesondere soziale Netzwerk-Plattformen durch eine ganze Reihe von Mechanismen Nutzerinnen und Nutzern das Gefühl geben, dass sie sich eigentlich in einem sehr privaten Kontext bewegen. Und dass deswegen die Verbreitung von Informationen, die sie da tätigen, gar keine Gefahr für ihre Privatsphäre darstellt. Weil nämlich eben das Setting, dass ich da in erster Linie mit Personen kommuniziere, die mir bekannt sind, die ich in den meisten Fällen also schon mal getroffen habe, und auch das Gefühl, dass ich eine große Kontrolle darüber habe, was ich von mir preisgebe und was nicht, und mir das Gefühl gibt, Herr der Lage zu sein, dabei aber oft übersehe, dass mein Verhalten eine Gefahr dafür darstellt."
Anders ausgedrückt: In der vernetzten Welt des Internets übersieht so mancher Nutzer, dass ein achtlos dahin geschriebenes Posting oder ein ins Netz gestelltes Foto eben weltweit einsehbar ist, und es meist auch von Suchmaschinen gefunden werden kann. In der Wissenschaft wird ein solches Verhalten als "De-Kontextualisierung" bezeichnet. In der realen Welt werde ich genau überlegen, wem ich wann wie was erzähle. Im Netz ist es viel schwerer abzuschätzen, wer mitliest, meine Informationen abrufen kann. Dieses Verhalten habe aber auch damit zu tun, so beschreibt es Leonard Reinecke, dass es im Netz einer Art "Positivity Bias" gibt – zu deutsch: Man will sich möglichst positiv darstellen, es werden meist nur Dinge preisgegeben, von denen man glaubt, sie steigern den eigenen sozialen Status – und das könne ja dann nicht schlecht sein. Ein Trugschluss, dem oft gerade auch jüngere Internetuser erliegen.
Privatfernsehen legt den Grundstein
Der offenherzige Umgang mit persönlichen Informationen ist nicht erst seit der Erfindung der sozialen Netzwerke zu beobachten, er begann bereits Ende der Achtziger-, Anfang der Neunzigerjahre, als das kommerzielle Fernsehen in immer breiterem Maße Talkshows, Reality-Dokumentationen und einiges anderes auf die Bildschirme brachte. Dominik Höch, Anwalt mit Spezialgebiet Medienrecht meint, dass diese Zeit als Ursprung für den laxen Umgang mit Privatem und Intimem gelten kann:
"Da begann diese Ausstellung eigentlich. Und eigentlich mit diese Entwicklung der audio-visuellen Medien haben Sie gesehen, dass dann hinzukam, die Möglichkeiten des Netzes. Gleichzeitig hat sich die Printlandschaft immer weiter ausdifferenziert, ich darf nur mal darauf hinweisen, dass wir mittlerweile im Bereich der Yellow-Blättchen, die über die Privatsphäre von Prominenten berichten, haben wir mittlerweile 30 Hefte, die da am Kiosk liegen, das waren in den Neunzigerjahren fünf oder so. Das heißt: In dem Moment, wo Platz zur Verfügung steht, Privates preiszugeben oder auch unfreiwillig mit Privatsphäre Auflage oder Einschaltquote zu machen, wird es gemacht."
Mit anderen Worten: Was Nutzer heutzutage ins Netz stellen, ist nur die logische Konsequenz einer durch das kommerzielle Fernsehen veränderten Wahrnehmung von Öffentlichem und Privatem. Und noch heute ist so manche erfolgreiche Sendung im Fernsehen nicht gerade sensibel, wenn es um die Ausstellung von Intimem geht. Formate wie "Germanys Next Top Model" sind erklärtermaßen ein Angriff auf das Privateste der Teilnehmer, sagt Daniel Poli, Projektleiter von "Watch Your Web", einer Initiative für einen vernünftigeren Umgang mit Daten im Netz, die sich vor allem an Jugendliche richtet. Poli sagt, Jugendliche hätten im Netz aufgrund des medialen Dauerfeuers oft Abgrenzungsprobleme:
"Wir haben gemerkt, dass eine große Unsicherheit bei den Jugendlichen besteht. Einerseits gibt es das Bedürfnis nach Privatsphäre, andererseits wollen sie sich auch darstellen, wollen mit anderen in Kontakt treten, und sie waren sehr unsicher, wie sie das tun. Also wenn ich ein Profil anlege, wer kann das eigentlich sehen, wie stelle ich das so ein, dass das wirklich nur meine Freunde sehen können? Eine große Angst war auch immer: Können das die Lehrer auch sehen? Können das meine Eltern sehen? Das möchten Jugendliche, wenn sie unter sich sind, ja erst mal nicht."
Zwischen Privatsphäre und dem Wunsch, sich darzustellen
Immerhin: Tausende von Anfragen erreichten die Macher von "Watch Your Web" – ein Beweis dafür, dass der Gesprächsbedarf für Fragen der Privatsphäre enorm ist – zumindest bei den jungen Nutzern. Einer der Punkte, in der es eindeutig um die Verletzung von Privatsphäre geht, ist das sogenannte Cyber-Mobbing. Kein neues Phänomen, seit einigen Jahren wird immer mal wieder darüber berichtet. Das geschieht vor allem dann, wenn die Beschimpfungen und Herabsetzungen im Netz solche Ausmaße angenommen haben, dass Menschen sich vor lauter Verzweiflung das Leben nehmen. Das sind sicher die drastischsten Fälle. Aber, so berichtet der Medienanwalt Dominik Höch, das Cyber-Mobbing sei auch bei harmloseren Beispielen ein wichtiges Thema:
"Ich habe sehr viele Diskussionen mit Internetaktivisten geführt zu diesem Thema, und mir wurde immer wieder gesagt: Naja, Beleidigungen und den blöden Spruch am Schulklo, den hat's ja früher schon gegeben. Ja, klar hat's den schon gegeben, nur, es ist heute unendlich viel leichter, eine Hassseite aufzuziehen und damit erreiche ich eben nicht nur die Jungs oder Mädels, die auf das Schulklo gehen, sondern eben potenziell die ganze Welt und im Zweifel bleibt's da stehen, weil kein Hausmeister kommt, der es irgendwann wegpinselt. Das heißt, man muss sich dessen bewusst sein, dass da großer Schaden angerichtet werden kann."
Inzwischen kann man sich gegen derartige Beleidigungen im Netz etwas besser Wehren. Bedeutend schwieriger wird es, wenn Nutzer selbst Informationen in die weite Welt des Internets stellen. Das ist nicht nur bei den sozialen Netzwerken auffällig, sondern auch beim Online-Einkaufen. Auch hier zeigt sich: Verbraucher, Bürger, Internetnutzer sind oftmals ein wenig bequem, wenn es darum geht, ihre Daten zu schützen. Das hat nicht unbedingt damit zu tun, dass sie es nicht besser wüssten, sondern: Man geht den Weg des geringsten Widerstands. Ein 2009 durchgeführtes Experiment an der Technischen Universität Berlin beweist es: In einer Gruppe von jeweils zwei Dutzend Probanden wurde getestet, wie die Nutzer mit ihren Daten umgingen. Die Versuchsanordnung war folgendermaßen: In zwei Onlineshops konnten DVDs bestellt werden – der eine war etwas teurer, dafür aber mussten weniger persönliche Angaben gemacht werden. Der andere etwas billiger – dafür aber mussten mehr Daten eingegeben werden – etwa zum persönlichen Einkommen.
"Und bei diesem Experiment haben wir dann rausgefunden, dass alle bei dem billigeren gekauft haben. Und die haben auch alle ihr Einkommen angegeben, und wir haben das hinterher überprüft, wir wissen natürlich nicht, was das Einkommen ist, aber das waren alles Angaben, die halbwegs realistisch waren."
Erklärt die Projektleiterin, die Wirtschaftssoziologin Dorothea Kübler.
"Und dann haben wir ein zweites Experiment gemacht, bei dem war es so, dass bei beiden Läden die Preise gleich waren, und die sich nur noch unterschieden haben in der Abfrage der Daten. Wir haben bei dem einen nach wie vor das monatliche Einkommen abgefragt, bei dem anderen die Lieblingsfarbe zusätzlich zur Adresse, was man so braucht, wenn man online was bestellt. Dann haben wir gesehen, dass die Leute sich ziemlich gleichmäßig über beide Läden verteilen, das heißt, die haben wie zufällig einen der beiden ausgewählt, wir haben also nicht gesehen, dass jetzt wo die Preise gleich sind, sie alle vermieden haben, ihr monatliches Einkommen anzugeben, das war ihnen scheinbar egal."
Freigiebig wider besseren Wissens
Bei einer anschließenden Befragung kam heraus, dass die Probanden durchaus die Unterschiede registriert haben, ihnen also bewusst war, dass man eine Menge wissen wollte.
"Und das ist das, was man in der englischen Literatur das "Privacy Paradox" nennt. Also die Leute sind einerseits sehr besorgt immer, und sagen, das ist ein großes Problem und andererseits sind sie freigiebig, wenn es darum geht, ihre eigenen Daten zu schützen."
Nun stellt sich die Frage nach dem: "Warum?" Warum verhalten sich Menschen so – wenn sie es doch besser wissen sollten? Da spekuliert die Wissenschaftlerin nur ungern. Allerdings seien einige Vermutungen zulässig, meint Dorothea Kübler:
"Ich glaube, ein großes Problem ist, dass die Leute sehr schlecht informiert werden darüber, was mit ihren Daten gemacht wird. Es ist ja nicht so, dass wenn man diese Daten angibt, dass dann daneben steht: 'Wir werden diese Daten in den nächsten fünf Jahren an die folgenden Firmen weitergeben und Sie werden deswegen spezifische Werbeangebote von diesen Firmen bekommen' Das wäre ja eine vollständige Beschreibung dessen, was da passiert. Das ist aber nicht der Fall, diese Regulierungen und diese AGBs sind ja immer wahnsinnig allgemein, wahnsinnig lang und unleserlich, aber da steht nichts Konkretes drin. Sozusagen: Selbst der Fachmann weiß nicht wirklich, was hinterher dann damit passiert. Deswegen: Eine Möglichkeit wäre natürlich, das alles stärker zu regulieren, Firmen zu verpflichten, Käufern viel genauer mitzuteilen, was mit ihren Daten passiert. Ich kann mir vorstellen, dass Leute dann vorsichtiger werden."
Doch bis dahin ist es wohl noch ein weiter Weg. Wie es scheint, folgen wir schon längst der Macht der Algorithmen, bei Google, bei Facebook, bei Amazon und anderen Unternehmen. Google weiß genau, was wir suchen – und Onlineshops wie Amazon sowieso. Und oft genug stimmt es ja auch. Wir interessieren uns in der Tat auch für dieses oder jenes vorgeschlagene Buch. In der Wissenschaft heißt dieses Phänomen "Bulb" – die Blase. Oder, wie es der amerikanische Internetforscher und Rechtswissenschaftler Lawrence Lessig ausdrückt: "Code is Law", der Algorithmus bestimmt, was wir sehen und lesen.
"Bye, bye Privatsphäre" möchte man fast rufen. Wer sich nur auf die Macht der Algorithmen verlässt, also jene technischen Daten, die Google, Amazon und all die anderen Internetriesen bereits von uns wissen, wird man sich bald nur noch in einer Blase der immer gleichen Informationen bewegen.
Unterwegs zu einer Art Totalitarismus
Der Wiener Internetphilosoph und Medienkünstler Konrad Becker formuliert es so: All die Millionen und Milliarden Daten, die wir freiwillig oder unfreiwillig im Netz hinterlassen, können eigentlich nur noch maschinell ausgewertet und gebündelt werden, und das habe auch entsprechende Folgen für den Einzelnen in der realen Welt. Das Gerede von der "Post-Privaten Ära", in der man ohnehin Informationen großzügig weitergibt, hält er für interessengesteuert und völlig ungeeignet für die Privatheitsansprüche eines Individuums in der westlichen Welt:
"Das ist völlig unvereinbar mit jeglicher demokratischen Grundordnung. Es gibt nun mal ein geheimes Wahlrecht, ohne geheime Wahl gibt es auch keine Demokratie, und geheime Wahl heißt nun auch, dass der Meinungsaustausch und der demokratische Diskurs geschützt sein müssen. Und wer das infrage stellt, hat schon den Totalitarismus eingeführt. Und wir sind in gewisser Weise, muss ich sagen, unterwegs zu einer Art Totalitarismus und zwar in der Hinsicht, dass es ja keineswegs so ist, dass alle Dinge transparenter werden und nur der Konsument und der Bürger wird transparent. Die Business-Entitäten, die diese Daten sammeln und kontrollieren sind überhaupt nicht transparent."
Die "Piratenpartei", die ihre Unkonventionalität schon im Namen trägt, hat eine weitere Spielart in die Debatte um Privatsphäre eingebracht: Die des permanenten Widerspruchs nämlich – auch eine Art "Privacy-Paradox". Einerseits wehrt man sich gegen staatliche Ausspähung und Kontrolle –andererseits verlangt man sich selbst und den Bürgern größtmögliche Offenheit ab und überträgt auch schon mal Fraktionssitzungen live übers Internet.
Doch wie wird unser Umgang mit der Privatsphäre in Zukunft sein? Werden wir künftig bewusster, vor allem im Internet, unseren individuellen Schutzraum überwachen? Der Medienpsychologe Leonard Reinecke meint: Ja, es wird passieren. Allerdings werde das ein langfristiger sozialer Aushandlungsprozess sein, mit Gewinnern und Verlierern. Im Übrigen: Wer wohlhabend und gebildet ist, wusste schon immer seine Privatsphäre zu schützen – das wird auch in Zukunft kaum anders sein. Dennoch wird sich das Verständnis von Privatsphäre wandeln, so Reinecke – verhandelt zwischen den Akteuren Individuum, Staat und privaten Unternehmen:
"Letztendlich kann man sich für die Zukunft zwei Szenarien sich vorstellen, die in verschiedene Richtungen gehen: Das eine ist das, was immer unter dem Stichwort der 'Post-Privacy' diskutiert wird und eher so in die Richtung geht, dass – durch Medientechnologie beschleunigt – sich ein Prozess vollzieht, in dem immer mehr Informationen ständig und für jedermann zugänglich sind, wo im Grunde der Stellenwert von Privatheit sehr reduziert ist. Das ist ein Extremszenario, und ich glaube eigentlich aus psychologischer Perspektive nicht an dieses Szenario. Sondern ich halte es für realistischer, und wenn man es normativ formuliert, auch wünschenswerter, dass es eine gewisse Rückbesinnung auf den Wert Privatsphäre geben wird. Also so eine 'Privatsphäre 2.0', das sich Nutzerinnen und Nutzer immer stärker hinentwickeln werden zu einer spezifischen Medienkompetenz, die mit den Herausforderungen des Web 2.0 umzugehen weiß und halt diesen Spagat schafft zwischen der Privatsphäre und der Befriedigung von sozialen Bedürfnissen, aber das ist sicherlich eine offene Frage."
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