80. Todestag der Geschwister Scholl

Ist Sophie Scholl ein Vorbild für die heutige Jugend?

Ein Foto zeigt Sophie Scholl, ihr Blick ist gesenkt in Richtung Boden während ihre kurzen Haare ihr vor die Augen fallen.
Sophie Scholl kämpfte im Widerstand in der Gruppe Weiße Rose gegen das Regime der Nationalsozialisten. Im Alter von 21 Jahren wurde sie hingerichtet. © picture alliance / Photo12 / Archives Snark
22.02.2023
Hans und Sophie Scholl wurden als Mitglieder der Weißen Rose zu Ikonen des Widerstands gegen den Nationalsozialismus. Ihr früher Tod und zahlreiche Filme und Bücher haben dazu beigetragen. Doch können sich junge Leute heute mit ihnen identifizieren?
„Die Schule ist jetzt vorbei. Ich bin saumäßig schlecht aufgelegt“, schreibt Sophie Scholl ihrem Freund kurz vor ihrem 17. Geburtstag. „Wenn ich mich bei Annlies über meine Familie beklage, dann lacht sie immer furchtbar. Ich habe der Liesel aus Wut drei weitere Briefpapiere geklaut.“ Eine Jugendliche, die sich langweilt, mit ihren Freundinnen zankt, sich über ihre Familie beklagt und ihrem Freund lange Nachrichten schickt. Halt typisch Teenager.
Dass ihr Name heute wie kein anderer für den Widerstand gegen den Nationalsozialismus steht, sie zur Ikone wurde, lässt sich anhand dieser Briefe noch kaum erahnen. Doch als Mitglied der Weißen Rose wird sie wenige Jahre später die Verbrechen der Nazis anprangern und Flugblätter verteilen, um die Menschen aufzurütteln.
Mit 21 Jahren wird Sophie gemeinsam mit ihrem Bruder Hans und dem Weggefährte Christoph Probst festgenommen und kurz darauf, am 22. Februar 1943, hingerichtet. Das ist nun 80 Jahre her.

Eine idealisierte Sophie Scholl taugt nicht als Vorbild

Heute gibt es zahlreiche Filme, Biografien und Social-Media-Projekte über Sophie Scholl. Selbst im Berliner Wachsfigurenkabinett von Madame Tussauds ist sie neben Anne Frank zu sehen.
Aber Sophie Scholl war nicht von Beginn an Widerstandskämpferin, entwickelte ihre Überzeugungen erst allmählich. Doch gerade die Brüche in ihrem Leben machen sie glaubhaft und geeignet als Identifikationsfigur. Denn soll ihre Biografie jungen Menschen heute helfen, Geschichte besser zu verstehen, muss sie vom Sockel der Verehrung geholt, greifbar, menschlich werden, sagt Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden.

Die mutigen Widerstandskämpfer der NS-Zeit wie perfekte Menschen darzustellen, halte ich nicht für klug. Denn perfekte Menschen gibt es nicht. Wenn sie auf einen Sockel gestellt werden, taugen sie nicht mehr als Vorbild. Denn dann werden sie unerreichbar.

Josef Schuster, Präsident des Zentralrats der Juden

Ein Filmstill aus "Sophie Scholl - Die letzten Tage" zeigt die Verhaftung der Widerstandskämpferin in München.
Als Identifikationsfigur dient Sophie Scholl bis heute, in zahlreichen Filmen wird ihr Leben nacherzählt.© picture-alliance / Mary Evans Picture Library
Ähnlich sieht es der Historiker Dirk Riedel vom NS-Dokumentationszentrum München – zuständig für Bildungsprojekte. „Es geht nicht darum, irgendwelche Heldenbilder zu schaffen und dann sollen sich die Jugendlichen ganz klein fühlen“, betont er. „Sie sollen nicht mit Heldenfiguren überwältigt werden, sondern die Werkzeuge an die Hand bekommen, sich selber entscheiden zu können.“
Mit anderen Worten: ein kritisches Geschichtsbewusstsein entwickeln. Dabei sei wichtig, auch Parallelen zur Lebenswirklichkeit der Jugendlichen, zur Gegenwart zu ziehen.
„Dass es auch heute noch Ausgrenzung gibt, Kriege gibt, Antisemitismus und Rassismus gibt. Aber eben auch, dass die Dimension eine andere ist als bei Leuten, die unter der Verfolgung im Nationalsozialismus leiden mussten.“

Erst Hitlerjugend, dann Widerstand

Wie ihre Geschwister Hans und Inge ist Sophie Scholl erst in der Hitlerjugend aktiv – den Eltern, die die braune Ideologie kritisch sahen, zum Trotz. Mit 13 ist sie ein begeistertes Jungmädel, macht Radtouren und Ausflüge, sitzt mit den anderen am Lagerfeuer, steigt innerhalb der Jugendorganisation der Nationalsozialisten zur Scharführerin auf.
Doch angeregt durch Diskussionen und Bücher wachsen Sophies Zweifel am NS-Regime, die Kriegsbegeisterung schreckte sie ab.
„Manchmal graut mir vor dem Krieg, und alle Hoffnung will mir vergehen“, schreibt Sophie Scholl am 9. April 1940 an ihren Freund Fritz Hartnagel. „Ich mag gar nicht dran denken, aber es gibt ja bald nichts anderes mehr als Politik, und solange sie so verworren ist und böse, ist es feige, sich von ihr abzuwenden.“
„Spannend ist ja, dass das junge Menschen waren, die in diesem nationalsozialistischen System aufgewachsen sind – und sich daher die Frage stellt: Was führte dazu, dass sie begannen, kritisch zu denken und schließlich zur Entscheidung, Widerstand zu leisten“, sagt Edith Koller von der Weiße Rose Stiftung.
Koller führt regelmäßig Schülerinnen und Schüler durch die Ausstellung “Die Weiße Rose. Widerstand gegen die NS-Diktatur” an der Ludwig Maximilians Universität in München – also an dem Ort, an dem Sophie und Hans Scholl Flugblätter auslegten und festgenommen wurden.

Generation Z weiß wenig über den Nationalsozialismus

Die Schulklassen seien meist gut informiert, sagt Koller, schließlich werde der Ausstellungsbesuch in den Geschichtsunterricht integriert. Doch aktuelle Studien zeigen: Das Wissen um die NS-Zeit unter den Millennials und der Generation Z ist teilweise erschreckend gering.
Laut einer neuen Studie der Jewish Claims Conference in den Niederlanden sind Unwissen und Lügen über die Shoah weit verbreitet. 53 aller Befragten und 60 Prozent der Jüngeren sagen, der Holocaust habe nicht in den Niederlanden stattgefunden – und dies, obwohl 70 Prozent der jüdischen Bevölkerung der Niederlande deportiert worden ist.
Der Trend, dass jüngere Generationen weniger über den Nationalsozialismus wissen, gilt auch hierzulande, sagt Rüdiger Mahlo von der JCC. Das Interesse jedoch ist hoch. Die Generation Z interessiert sich deutlich mehr für die NS-Zeit als die Generation ihrer Eltern (75 Prozent bei den Jüngeren/66 Prozent bei den Eltern). Das ist zentrales Ergebnis einer Studie aus dem Januar 2022 im Auftrag der Arolsen Archives. 

Sophie Scholl auf Insta - Jan Böhmermann empört

Bildungseinrichtungen und Medien versuchen deswegen, Jugendliche auch bei Youtube, Tiktok oder Instagram zu erreichen. Im Kanal @ichbinsophiescholl ließ die 21-jährige Sophie Scholl, gespielt von Luna Wedler, ihre User*innen hautnah, emotional und in nachempfundener Echtzeit an den letzten zehn Monaten ihres Lebens teilhaben.

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Fast eine Million Follower hatte der Instagram-Account. Gleichzeitig hagelte es jede Menge Kritik an dem SWR- und BR-Projekt von 2022. Auch Jan Böhmermann zerpflückte es in seiner Fernsehsendung "Magazin Royale". Der Vorwurf: Viele Nutzerinnen und Nutzer hätten nicht verstanden, was echt und was Fiktion war.
„Es ist ein interessantes Format. Aber man muss das als Lehrer auch begleiten und einordnen – und darf das Ganze nicht als Ersatz für eine Geschichtsstunde sehen“, sagt Edith Koller. Ihre Weiße Rose Stiftung stand bei dem Projekt beratend zur Seite.
„Tatsächlich konnte man teils Jugendliche und vor allem junge Erwachsene erreichen, die sich vorher nicht mit dem Thema beschäftigt hatten. Es sind Schulklassen zu uns gekommen, die gesagt haben, sie haben den Instagram-Account gesehen, nun wollen sie mehr erfahren.“
Der Historiker Riedel blickt kritischer auf das Projekt: „Ich glaube wir müssen in den Geschichtswissenschaften schon darüber nachdenken, wie wir Themen zeitgemäß vermitteln können. Aber ob das Projekt geeignet ist, habe ich ein wenig Zweifel", sagt er.
"Zum einen, weil es wieder nur Sophie Scholl ins Zentrum rückt. Die Weiße Rose hat ja aus einer großen Gruppe bestanden. Und dann erklären die Macher ja selber, dass sie bestimmte Dinge, die sich historisch nicht belegen lassen, fiktiv gefüllt haben. Letztendlich bleibt es also Fiktion.“

Die Weiße Rose war mehr als Sophie Scholl

1942 zieht Sophie Scholl ihrem Bruder Hans hinterher, nach München, beginnt dort ein Biologie- und Philosophie-Studium. Sie kommt über ihren Bruder in Kontakt mit Christoph Probst, Willi Graf, Alexander Schmorell und Kurt Huber. Die Gruppe schreibt Flugblätter, in denen sie die NS-Regierung und Verbrechen wie den Massenmord an den Juden scharf kritisierten. "Wir schweigen nicht, wir sind Euer böses Gewissen", heißt es darin.
Am 18. Februar 1943 legt Sophie Scholl mit ihrem Bruder Flugblätter in der Universität aus. Die beiden fliegen auf, werden festgenommen. Auch etliche andere Mitglieder der Weißen Rose werden inhaftiert. Am 22. Februar 1943 werden Christoph Probst, Sophie und Hans Scholl hingerichtet.

So ein herrlicher, sonniger Tag, und ich muss gehen. Was liegt an meinem Tod, wenn durch unser Handeln Tausende von Menschen aufgerüttelt und geweckt werden.

Das soll Sophie Scholl einen Tag vor der Hinrichtung gesagt haben. .

Unter einem Youtube-Video für Jugendliche über das Leben von Sophie Scholl schreibt Alice: „Wow, unvorstellbar schrecklich wie das damals war. Ich hatte die ganze Zeit Gänsehaut. Mir fehlen echt die Worte...“ Und Julian: „Oha, hatte nicht gewusst, dass das noch so eine spannende Geschichte ist. Hatte echt Gänsehaut bekommen.“

Von Querdenkern und AfD vereinnahmt

„Sie ist sehr mutig gewesen und sie ist eine Person, die größte Anerkennung verdient“, sagt Historiker Riedel. „Diesen Mut hatten viel zu wenige.“

Was mir ganz wichtig ist, dass Sophie und Hans keine Helden waren. Denn wenn sie als Helden betrachtet werden, dann ist das eine Entschuldigung auch für die anderen. Jeder kann dann sagen, zum Helden bin ich nicht geboren.

Das betonte ihre Schwester Elisabeth Hartnagel, die im Jahr 2020 starb, rückblickend.

Die Ikonisierung der Geschwister Scholl führt heute auch dazu, dass ihr Andenken vereinnahmt wird: von der AfD genauso wie von der „Querdenker“-Bewegung. Auf einer Demonstration gegen die Corona-Maßnahmen 2020 verglich sich eine Rednerin mit Sophie Scholl. Und die AfD Nürnberg Süd/Schwabach warb 2017 so lange mit dem Slogan "Sophie Scholl würde AfD wählen" für sich, bis das Landesgericht Berlin dies verbat.
(Quellen: lkn, Hans Scholl, Sophie Scholl: „Briefe und Aufzeichnungen“, S. Fischer, Frankfurt am Main 1984, dpa, kna)
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