Geschichtswissenschaft im digitalen Zeitalter

"Vielleicht eine große Chance für unser Fach"

Digitale Quelle bei der Universitätsbibliothek Kassel
Was bedeuten digitale Quellen für Historiker? © dpa / picture alliance / Uwe Zucchi
Von Stefanie Oswalt · 27.09.2017
Virtuelle Bibliotheken, Unmengen neuer Daten, soziale Netzwerke: Die Vielfalt von Quellen hat sich für Historiker in den vergangenen Jahrzehnten stark erweitert. Welche Methoden erfordern diese neuen Quellen? Eine Tagung an der Berliner Humboldt-Uni ging diesen und anderen Fragen nach.
Kaffeepause im Seminarraum 5009 der Berliner Humboldt Universität, Institut für Historische Fachinformatik: Die Fenster sind weit aufgerissen, damit den Anwesenden nicht die Luft ausgeht, denn es geht hoch her in diesem Raum: Etwa 80 Historikerinnen und Historiker sowie angrenzender Fachgebiete diskutieren hier in fünf Panels den aktuellen Stand der digitalen Geschichtswissenschaft.
Lässig: "Wenn Sie fragen: Was hat die Geschichtswissenschaft in diesem Bereich geschafft, dann ist, glaube ich, die größte Leistung, dass die digitalen Methoden, Werkzeuge, digitales Arbeiten sich innerhalb dieses Fachverbandes entwickeln kann. Wir haben also eine Arbeitsgemeinschaft gegründet auf dem Historikertag 2012 und dass es also keine Spezialdisziplin für Spezialisten ist, sondern wir tatsächlich versuchen können, neue Wege zu erschließen, neue Erkenntnisbereiche und innerhalb der Fachwissenschaft mit neuen Methoden zu experimentieren."
Simone Lässig ist Direktorin des Deutschen Historischen Instituts in Washington und eine der Pionierinnen der digitalen Geschichtsforschung in Deutschland, denn sie hat als Professorin an der Universität Braunschweig mehrere Jahre lang das Projekt "Welt der Kinder" geleitet. Dabei setzte ihre Forschergruppe zum ersten Mal in großem Maßstab digitalen Metholden und Werkzeuge der Geschichtswissenschaft ein:
"Wir wollten wissen: Welche Wissensbestände über die Welt konnten Kinder und Jugendliche aufnehmen in ihrer Zeit (im 19. Jahrhundert), einer Zeit, die auch durch Nationalisierungsprozesse geprägt gewesen ist - Globalisierung auf der einen, Nationalisierung auf der anderen Seite."
Historiker Andreas Weiß vom Georg Eckert Institut in Braunschweig hat das Projekt und die Berliner Tagung koordiniert:
"Wir hatten einen großen Korpus von Texten, Schulbüchern vor allem zur Verfügung, mit dem wir von Kooperationspartnern gestellte Werkzeuge testen konnten über dreieinhalb Jahre hinweg ... Wir haben am Anfang ziemlich viel mit Topic Modeling und Opinion Mining gearbeitet, das bedeutet im Klartext, Sie suchen bestimmte Themen in den Texten auf mit mathematisch-statistischen Verfahren - also Sie haben ein Programm, das zählt, wie oft bestimmte Wörter auf derselben Seite auftauchen."

Lässig: "Wir versuchen da natürlich, etwas elaboriert dranzugehen und auch semantische Kontexte zu erschließen. Das ist eine große Herausforderung, da müssen wir mit Informatikern und Informationswissenschaftlern sehr eng zusammenarbeiten, weil die Historiker sehr viel sensibler sind für Begriffsverschiebungen in der Geschichte, im Zeitverlauf. Das ist etwas, was Informationswissenschaftler nicht unbedingt in ihre Methoden eingeschrieben haben und deshalb ist es so wichtig, dass man auch im Dialog diese Werkzeuge weiterentwickelt."
Viele der Werkzeuge, die Historiker für ihre digitale Forschung nutzen, stammen aus dem Bereich der Linguistik - und sind somit nur für bestimmte Fragestellungen der Geschichtswissenschaft einsetzbar. Die Geschichte von Begriffen und Diskursen etwa lässt sich so gut erforschen.
Weiß: "Das große Risiko im Augenblick ist natürlich, dass die Leute ihre Fragestellung an das Tool anpassen, weil sie dieses Tool haben und damit arbeiten wollen. Wir versuchen mit der Tagung ein bisschen die Aufmerksamkeit dahin zu generieren, dass Historiker auch die Fähigkeit entwickeln müssen, die Werkzeuge so anzupassen, dass sie zu ihrer Fragestellung passen ..."

"90 Prozent aller Quellen sind noch nicht digitalisiert"

Das erfordert vielfach eine Zusammenarbeit in Teams - Stichwort "kollaboratives Arbeiten": Nicht nur müssen häufig gigantische Datenkonvolute bearbeitet werden, digitales Arbeiten erfordert auch interdisziplinäre Kompetenzen. Trotzdem taugt die Methode für zahlreiche Sparten der Geschichtsschreibung noch nicht, sagt Andreas Weiß:
"Zum Beispiel kulturwissenschaftliche Fragestellungen oder alltagsgeschichtliche Fragestellungen können Sie mit den Werkzeugen, mit denen wir momentan arbeiten, relativ schlecht untersuchen."
Präsentiert wurden auf der auch Tagung auch Tools, mit denen sich Karten oder Biografien erstellen oder Reisewege nachvollziehen lassen - Methoden und Werkzeuge, die die klassische Geschichtsschreibung nicht ersetzen, sie aber enorm bereichern können, wie Historikern Lässig und ihr Kollege Rüdiger Hohls hoffen.
Lässig: "Ich würde sagen, es ist eine Erweiterung des Methodenspektrums... und unseres Werkzeugkastens als Historiker,... und der nicht festgezurrt ist, der sich weiter entwickeln muss. Die digitalen Quellen verlangen uns ganz neues Nachdenken über Quellenkritik ab - wie gehen wir mit digitalen Quellen um, wie gehen wir mit digitalisierten Beständen um ..."
Das rückt einen zweiten, auf der Tagung ausgiebig diskutierten Aspekt in den Fokus: den Umgang mit den digitalen Quellen.
Lässig: "Man glaubt, viele Quellen am heimischen Computer nutzen zu können. Dabei wird sehr häufig ausgeblendet, dass 90 Prozent aller Quellen noch nicht digitalisiert sind und zum anderen wird viel zu wenig reflektiert, wie ist denn diese Auswahl erfolgt der Quellen, die uns digital zur Verfügung stehen. Allein die Auswahl entscheidet ja schon über Arbeitsergebnisse. Insofern ist Digitalisierung Segen und Fluch für die Historische Wissenschaft zugleich."

Kommt hinzu, dass es für den Umgang mit sogenannten "digital bourn sources" - also genuin digitalen Quellen - etwa Weblogs, Twitter- oder Facebookposts noch keinen standardisierten Umgang gibt. Viele Fragen sind offen: Wem gehören diese Daten? Unter welchen Bedingungen stehen sie für die Forschung zur Verfügung? Wie lange ist ihre Lebensdauer?
Rüdiger Hohls: "An diesem Punkt sind wir ja noch gar nicht angekommen. Die sind ja noch gar nicht archivierungswürdig. Aber wir haben die Erfahrungen mit anderen Pressekonzernen ... die ja eigene Retro-Digitalisierung betrieben haben, zeitweise zugänglich gemacht haben und jetzt nur noch kostenpflichtig zugängig machen. Denken wir an die 'Frankfurter Allgemeine' beispielsweise."
Hohls ist Professor am Fachbereich Historische Fachinformatik der Humboldt-Universität. Er glaubt, dass die Konzerne ihre Daten nicht ohne Gegenleistung für die Forschung zur Verfügung stellen werden. Dabei gibt es Fragestellungen, für die ein Zugriff auf digital born sources unabdingbar ist - etwa wenn man den Arabischen Frühling oder die Präsidentschaft von Donald Trump historisch aufarbeiten will.
Die digitale Geschichtswissenschaft, das hat die Digimet 2017 gezeigt, ist ihren Pioniercharakter jedenfalls noch nicht losgeworden. Viele Entwicklungen vollziehen sich nur langsam. Die Digitalisierung selbst aber auch die Entwicklung der Tools ist häufig mit hohen Kosten verbunden, vielfach fehlt an den Hochschulen das technische Know-how. Und in den Reihen der Zunft gibt es viele Skeptiker. Doch wird auch hier die Digitalisierung nicht zu bremsen sein und die Disziplin enorm verändern. Die Teilnehmer der Digimet 2017 stimmt das optimistisch.
Lässig: "Vielleicht ist sogar dieses Interesse am Digitalen eine große Chance für unser Fach, weil wir wieder lernen, nicht alles schon zu wissen, wenn wir Projekte konzipieren, sondern mutiger werden, weil wir wieder auch das Risiko eingehen, das eigentlich Wissenschaft kennzeichnen sollte insgesamt, nämlich auch mit Ungewissheit bestimmte Fragen in Angriff zu nehmen. Und dann zu schauen: Welche Methoden erweisen sich wirklich als fruchtbar und sind realisierbar und welche weisen in die Irre. Also auch wieder Mut haben zum Experimentieren. Mut haben zum Scheitern und damit auch Lust haben auf Wissenschaft und Forschung machen."
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