Geschichtspolitik und deutsche Opferkultur

Von Norbert Seitz |
Seit sich unsere Erinnerungskultur auch verstärkt für die Geschichte der deutschen Opfer interessiert, wird gern davon gesprochen, dass wir uns endlich auf einen geschichtspolitischen Konsens zubewegten.
Dieser war in der Vergangenheit kaum möglich, weil missliebige Themen wie Flucht, Vertreibung oder Bombenkrieg aus dem historischen Diskurs verdrängt worden waren.

So hat sich der öffentlich-rechtliche Haushistoriker Guido Knopp in den letzten Jahren redlich bemüht, in zahllosen Serien noch lebende Zeitzeugen vor die Kamera zu bringen, die den Leuten erzählen sollten, wie es damals wirklich war.

Haben wir uns aber "Normalität" im Umgang mit Geschichte so vorzustellen, wie sie derzeit auch vom "Untergang" in der Reichskanzlei, der "Hölle von Dresden" bis zum Luftbrücken-Heroismus über alle Spielfilmkanäle flimmert?

Seit dem jüngst gesendeten Dresden-Epos im Deutschen Fernsehen wittern Kritiker nämlich eine unheilige Allianz aus deutscher Opfergeschichte und herzzerreißendem Versöhnungskitsch auf dem Plan.

Auch Arnulf Baring, der als Junge das Bombeninferno in Dresden überlebt hat, kritisierte den TV-Spielfilm als allzu ängstlichen Kompromiss mit der politischen Korrektheit. Zuviel Selbstverleugnung der Deutschen – zuwenig Requiem für die unschuldigen Opfer.

Was aber bedeutet jene diffuse Mischung aus Ereignishistorie und Geschichtsgefühl für die Anstrengungen einer mittlerweile intakten Erinnerungskultur im Lande?

Für Eckhard Fuhr ist zum Beispiel das Dresden-Epos auch Ausdruck dafür, dass die Berliner Republik in "einer erneuerten nationalen Identität" angekommen ist.

Für Skeptiker jedoch erholt sich die Geschichtspolitik nur schwer von der emotionalen Schleusenöffnung, die seit Jörg Friedrichs anklägerischer Aufarbeitung der Alliierten Luftangriffe auf deutsche Städte in vollem Gange ist.

Deutsche Opfergeschichte boomt. Was freilich nicht auf Campagnen von bösen reaktionären Zeitgeistern zurückgeht. Denn es sind nicht ewiggestrige Rechte, sondern eher nachholbedürftige Linke, die eine leidensgeschichtliche Wiederannäherung an das eigene Volk suchen und dabei von der bislang geübten politisch korrekten Ignoranz und geschichtspädagogischen Strenge absehen.

Erinnert sei neben Jörg Friedrichs akribischer Studie über den Bombenkrieg an Günter Grass und seine Novelle über das untergegangene Flüchtlingsschiff der Wilhelm Gustloff sowie an die von Peter Glotz mit angestoßene Kampagne für ein Zentrum gegen Vertreibung.

Gerade am Beispiel von Flucht und Vertreibung beschreibt Günter Franzen, wie sehr "die Statik der moralischen Hochsitze inzwischen gefährdet" sei - durch jene "verhassten, schwer erträglichen kleinen Geschichten" von deutschen Opfern, die seit der Gustloff-Novelle von Grass in den öffentlichen Raum gedrungen seien.

Schon Ex-Kanzler Schröder hielt viel vom Begriff »Normalität«, auch wenn er ihn nicht näher reflektierte. Er glaubte Normalität beim 60. Jahrestag in der Normandie und bei der Eröffnung der Flick-Collection in Berlin zu praktizieren.

Derweil hält seine Amtsnachfolgerin Angela Merkel über alle außenpolitischen Opportunitäten hinweg am Projekt eines europäischen Vertreibungszentrums fest. Denn sie ist davon überzeugt, dass unsere mühsam zustande gekommene Erinnerungskultur beim Thema Vertreibung nicht mehr wie früher mit dem Verdacht des Revanchismus oder Relativismus rechnen müsse.

Auch beim Thema Bombenkrieg scheint ein Perspektivenwechsel stattgefunden zu haben, seit unverdächtige Publizisten wie Wolfgang Sofsky deutlich machen konnten, dass die Erinnerung an deutsche Bombenkriegsopfer nichts mit heimtückischer Aufrechnung zu tun haben. Es sei eine "krause Logik der Kindermoral", dass derjenige, der mit dem Krieg anfange, in der Folge jedes Unrecht gewärtigen müsse oder sogar verdient habe.

Viele Wahrnehmungssperren der Nachkriegszeit sind mittlerweile aufgehoben. Wer heute auf deutsche Opfer verweist, muss nicht mehr automatisch mit der Revanchismus-Keule rechnen.

Die Frage Erinnerungskultur oder Geschichtsgefühl drückt also keine Alternative mehr aus, auf die sich der Umgang mit der jüngsten Vergangenheit zuspitzen ließe.

Mochte das jüngste TV-Epos über "Dresden" manchen Kritikern auch als Versöhnungskitsch erscheinen, aus solcher Erinnerung an die furchtbaren Bombenszenarien erwächst zumindest kein neuer Geschichtsrevisionismus mehr.


Norbert Seitz, geboren 1950 in Wiesbaden, promovierter Politologe, ist verantwortlicher Redakteur der politischen Kulturzeitschrift "Neue Gesellschaft/Frankfurter Hefte"; schreibt u. a. für den "Tagesspiegel", die "Frankfurter Rundschau" und verschiedene Magazine. Letzte Buchveröffentlichung: "Die Kanzler und die Künste. Die Geschichte einer schwierigen Beziehung" (2005).