Geschichtsklitterung?

Von Rudolf Walther · 02.11.2007
Preisfrage: Was haben der französische Revolutionär Saint-Just und der junge deutsche Dichter Büchner mit Heinrich Himmler, dem Planer der Vernichtung des europäischen Judentums und anderer Massenmorde, zu tun? Martin Mosebach konstruierte anlässlich der Verleihung des Georg-Büchner-Preises eine direkte Linie von Büchners Bühnenfigur Saint-Just in seinem Drama "Dantons Tod" über Büchner als Bürger bis hin zu Himmler.
Mit solchen historischen Kontinuitätslinien wird eine Ursachenkette meistens nur erschlichen. Mosebachs behauptete Kontinuitätslinie belegt zweierlei: erstens Verhältnisblödsinn und zweitens Begriffsverwirrung. Die Figur des Saint-Just im Drama - wie auch der historische Saint-Just und der revolutionäre Bürger Büchner - haben mit Himmler und der Massenvernichtung nicht einen einzigen direkten Berührungspunkt. Schon ein Vergleich des Ausmaßes der jeweils begangenen Verbrechen verdeutlicht dies. Die Begriffsverwirrung liegt darin, dass Mosebach vorgaukelt, mit einem - wie er sagte - "Halbsätzchen" vom staatlichen Terror der Französischen Revolution zur nationalsozialistischen Massenvernichtung zu springen. Sollte die Massenvernichtung nur die Rückseite des Terrors sein? Sollte die staatliche Terrorherrschaft von 1793/94 nur eine Vorstufe zur nationalsozialistischen Massenvernichtung sein?

Warum deutet Mosebach derlei an mit seiner Rede vom "Halbsätzchen? Mit seinem Hinweis auf den Politiker und Philosophen Joseph Marie de Maistre, einen katholischen Fundamentalisten und Gegner der Französischen Revolution, gibt Mosebach einen Wink, worum es ihm geht. Wie de Maistre will Mosebach anscheinend nicht die terroristischen Entgleisungen der Revolution kritisieren, sondern der Revolution selbst jede Berechtigung absprechen. De Maistre war einer der Ersten, der die Revolution für - so wörtlich - "von Grund auf schlecht" und für "die reine Unreinheit" hielt. Dieser sei nur mit einem Mittel beizukommen - nämlich dem, "die Revolution zu töten". Harte Reaktionäre wie de Maistre einer war, meinten derlei noch wörtlich, weichgespülte wie Mosebach kokettieren nur damit.

Und was hat Georg Büchner, der staatlich verfolgte Autor und Revolutionär, mit reaktionärem Gerede gemein, das sich hinter die Französische Revolution und die Moderne zurückphantasiert? Der Büchnerpreisträger kleidet Büchner neu ein. Er unterstellt, der Autor Büchner spreche selbst, wenn seine Bühnenfigur Saint-Just sagt: "Der Weltgeist bedient sich in der geistigen Sphäre unserer Arme ebenso, wie er in der physischen Vulkane oder Wasserfluten gebraucht. Was liegt daran, wenn sie nun an einer Seuche oder an der Revolution sterben?" Büchner steht jedoch weder als Autor noch als Bürger hinter diesen Worten seiner Bühnenfigur. Das Stück ist keine Rechtfertigung der jakobinischen Terrorherrschaft, sondern kritisiert diese radikal. Büchner war, um es platt zu sagen, kein Sympathisant des Terrors. Zu der Zeit, als Büchner historisches Material für das Drama durcharbeitete, schrieb er an seine Verlobte: "Ich gewöhnte mein Auge ans Blut. Aber ich bin kein Guillotinenmesser."

Büchner bedrückte der Verlauf der Geschichte: der begann mit den glücklichen Tagen des Juli 1789. Darauf folgte das Zwischenspiel der Terrorherrschaft von 1793/94, und diese mündete 1799 in die Herrschaft Napoleons. Mit dessen Kriegen in ganz Europa setzte bis 1815 ein bislang unbekanntes Massensterben ein. Den Abschluss der Epoche bildete die missratene Pseudorevolution von 1830, die den Adel durch den Geldadel ersetzte.

Beim Studium dieser Geschichte fühlte sich Büchner, wie er schrieb, "zernichtet" und litt unter dem "gräßlichen Fatalismus der Geschichte." Jeder Satz seines Werks steht jedoch gegen diesen Fatalismus. Die Bühnenfigur Saint-Just verklärt jedoch genau diesen Gang der Geschichte als naturgegeben. Für Büchner ist der Terror kein Naturgesetz von Revolutionen, sondern eine von Menschen zu verantwortende Tat. Als Gegenfigur zu Saint-Just porträtiert Büchner Georges Danton, der auf Freiheit und Gleichheit setzt und nicht auf Terror. Danton sagt in Büchners Stück: "Jeder muss in seiner Art genießen können, jedoch so, dass keiner auf Unkosten eines anderen genießen oder ihn in seinem eigentümlichen Genuss stören darf."

Für Mosebach dreht sich Büchners Drama nicht um Freiheit und Gleichheit. Mit ein paar modischen Kapriolen und im Geiste de Maistres will Mosebach das Stück buchstäblich "töten". Ein rundum würdiger Preisträger.

Rudolf Walther lebt als Journalist in Frankfurt am Main und arbeitet für deutsche und schweizerische Zeitungen. Zusammen mit Werner Bartens und Martin Halter schrieb er das "Letzte Lexikon", das 2002 im Eichborn Verlag erschien.