Geschichten vom großen und kleinen Alltagsterror

01.01.2013
Don DeLillo ist berühmt für seine geradezu visionäre Zeitdiagnostik. Sein Œuvre umfasst mehr als ein Dutzend Romane und Novellen. Doch als Verfasser von Short Storys ist DeLillo bislang noch nicht hervorgetreten. Umso bemerkenswerter, dass er nun einen Band mit Erzählungen herausbringt. Sie sind in den letzten drei Jahrzehnten entstanden.
Die Erzählungen sind zwischen 1979 und 2011 entstanden und greifen in ihren Stoffen, Themen, Figuren und Schauplätzen weit aus - von einem Touristenpaar, das auf einer Karibik-Insel festsitzt, zu einem Gefängnislager für Wirtschaftsverbrecher in den USA, von zwei Astronauten in einer Raumkapsel zu einem Erdbeben in Athen und von der New Yorker Ausstellung von Gerhard Richters RAF-Zyklus bis zu einem religiösen Massen-Wahn in der South Bronx. Die Themen sind die aktuellen Bedrohungs-Szenarien von heute: Krieg, Terrorismus, Finanzkrise.

Bei aller scheinbaren Disparatheit der einzelnen Geschichten sind sie doch in der Stimmung und der Weltwahrnehmung unterschwellig miteinander verbunden - einer Stimmung, die über die mehr als dreißig Entstehungsjahre hinweg auffallend konstant bleibt und wohl der Art entspricht, wie der Autor Don DeLillo die Welt sieht.

Alle Protagonisten eint ein Gefühl der Entfremdung, der diffusen Bedrohtheit und des latenten Terrors. Sie spüren die Leere und Kälte der Welt; diese ist ihnen unheimlich geworden, nicht eindeutig entzifferbar. Den eigenen Wahrnehmungen ist nicht zu trauen; geradezu obsessiv legen sie sich daher ihre eigenen Legenden über Menschen und Vorgänge zurecht, suchen nach Deutungen, nach einem Nenner, auf den sie die unverständlichen und bedrohlichen Umweltphänomene bringen könnten; sie wollen der Welt ein einleuchtendes Erklärungsmuster aufprägen und ihre eigenen Ängste damit in Schach halten.

Beispielsweise die beiden pedantischen Studenten auf einem winterlichen Campus im Norden, die den Leuten, denen sie auf ihren Spaziergängen begegnen, geradezu zwanghaft Namen und Lebensgeschichten andichten (in der Erzählung "Mitternacht in Dostojewskij"). Ihre Fantasien fokussieren sich schließlich auf einen alten Mann in einem Kapuzen-Anorak, dem sie nachschleichen und den sie als den Vater ihres verschrobenen Logik-Professors Ilgauskas deuten, von dem sie annehmen, dass er aus Osteuropa stammt. Den Lehrmeinungen dieses Professors folgen sie bedingungslos, vor allem seinem Satz, "dass wir gewohnheitsmäßig gestört sind, alltagsverrückt".

Solche Alltagsverrücktheit tritt in mehreren Erzählungen zu Tage. Von der suggestiven Macht von Falsch-Wahrnehmungen und falschen Wirklichkeitsdeutungen handelt auch die Titelgeschichte "Der Engel Esmeralda" (die in einer Vorform bereits in DeLillos Roman "Unterwelt" Eingang gefunden hatte). Sie spielt in der kaputten South Bronx, wo sich zwei Nonnen als Sozialarbeiterinnen der hoffnungslosen Fälle annehmen, der Obdachlosen, der Drogen-Wracks, der verwahrlosten Kinder. Als ein kleines Mädchen vergewaltigt und vom Dach gestürzt wird, kommt es zu einem seltsamen Massenwahn. Die Menschen glauben, auf einer Reklamewand erscheine das Engelsgesicht des getöteten Mädchens. Zwar ist es in Wahrheit das darunter klebende Reklamegesicht einer Orangensaft-Werbung, das im Licht nächtlicher Scheinwerfer momentweise durchscheint, doch bei den Menschen ist die Sehnsucht nach Tröstung stärker als die nüchterne Realität.

Besprochen von Sigrid Löffler

Don DeLillo: Der Engel Esmeralda. Neun Erzählungen
Aus dem Amerikanischen von Frank Heibert, Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln 2012. 248 Seiten, 18,99 Euro

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