Geschichte zwischen den Zeilen

In seinem Roman "Kokoschkins Reise" erzählt der Schriftsteller Hans-Joachim Schädlich ein ganzes politisches Jahrhundert. Er bedient sich einer nüchternen Berichtssprache und knappen Dialogen, in denen das Wesentliche immer ausgespart wird.
Das Wort der Kritiker für den Stil des Schriftstellers Hans-Joachim Schädlich ist immer: "lakonisch". Aber das ist ein zu harmloses Wörtchen, ein Euphemismus. Schädlich treibt alles, was lakonisch genannt werden könnte, ins Radikal-Zugespitzte. "Kokoschkins Reise" ist nun so etwas wie der äußerste Punkt, an dem er mit seinem sprachlichen Zugriff angekommen ist. Es gibt keine psychologische Innenschau, keine gefühlsmäßige Innenausstattung der Figuren, es gibt keine kommentierende Erzählerhaltung, nichts Ausschmückendes, nichts bloß Atmosphärisches.

Der Roman besteht aus einer nüchternen Berichtssprache, aus knappen, keineswegs ausschweifenden Dialogen, in denen das Wesentliche immer ausgespart wird. Das, was Schädlich erzählen will, erzählt er zwischen den Zeilen, erzählt er durch das Schweigen der Figuren, erzählt er dadurch, was geschieht und was nicht geschieht. Und dennoch ist dieser Roman lebensprall, voller zeitgeschichtlich aufgeladener Details, dennoch lebt er von einer intensiven Vorstellungskraft und einer genauen, analytischen, sensiblen Beobachtungsgabe. Eine Seite Schädlich entspricht ungefähr 20 Seiten üblicher handlungsstarker Prosa. Er ist ein Meister der Reduktion, der mit dieser Reduktion eine ungeheure Intensität erreicht.

Erzählt wird ein ganzes politisches Jahrhundert. Fjodor Kokoschkin, 1910 im russischen Petersburg geboren, hat eine exemplarische Biografie im 20. Jahrhundert, und im Jahr 2005 fährt er, im Alter von 95 Jahren, noch einmal die Stationen dieser Biografie ab. Wir erleben ihn auf der Gegenwartsebene des Romans auf der sechstätigen Schiffsreise zurück in die USA, und im Laufe dieser Schiffsreise werden sein Leben und die eben zurückliegende Reise rekapituliert. Stück für Stück setzen sich dadurch seine Erfahrungen zu einem ganz besonderen Mosaik zusammen, wobei die Zeiten durchaus nicht geradlinig erzählt werden: die russische Revolution 1917/18, die Flucht vor den Bolschewiki nach Odessa werden erinnert, die Weimarer Republik in Berlin sowie der deutsche Nationalsozialismus nach 1933 und die liberale tschechoslowakische Republik in den 30er-Jahren tauchen auf. Es gelingt dem völlig mittellosen Exilrussen in Prag, ein Stipendium der USA für ein Studium zu ergattern und anschließend ein renommierter amerikanischer Biologe zu werden.

Schädlich hat diesem Kokoschkin einen konkreten historischen Vater gegeben. Zwei bürgerliche Minister der provisorischen russischen Regierung nach der Vertreibung des Zaren, Kokoschkin und Schingarjow, werden von den Bolschewiki im Januar 1918 ermordet – sie gehören der Partei der konstitionellen Demokraten an, einer Partei, der sich auch der Autor Hans-Joachim Schädlich zugehörig fühlt und die für ihn die Alternative zu den totalitären Systemen gewesen wäre. Der Blick zurück, den Kokoschkin gegen Ende seines Lebens wirft, macht die Geschichte in scharfen Konturen kenntlich.

Besprochen von Helmut Böttiger

Hans-Joachim Schädlich: Kokoschkins Reise
Rowohlt Verlag, Reinbek 2010
188 Seiten, 17,95 Euro