Geschichte vom Held ohne Vornamen

Jaroslav Rudiš im Gespräch mit Jürgen König · 15.04.2009
Selbstironisch nennt der 36-jährige Schriftsteller Jaroslav Rudiš seine Hauptfigur in "Grand Hotel" einen Versager und damit einen typischen Held der tschechischen Literatur. Fleischman ist Mitte 20 und arbeitet als Hotelboy in Liberec. Er war noch nie mit einer Frau zusammen und beobachtet lieber die Wolken.
Jürgen König: Denken Sie sich einen Mann, der seinen Lebtag nicht aus der nordböhmischen Stadt Liberec herausgekommen ist. Er lebt in einem Hotel, hoch über der Stadt. Das ist ein Grand Hotel, er arbeitet dort als Mädchen für alles, könnte man sagen. Aber es ist kein Grand Hotel, wie man es sich luxuriös und mondän vorstellt, sondern ein eher etwas heruntergekommenes, ein Hotel, das allerlei seltsame irgendwie gestrandete Menschen beherbergt. Unser Mann ist 25 Jahre alt, war noch nie mit einer Frau zusammen. Und immer, wenn sein Chef mit seinen Frauengeschichten prahlt, dann zieht sich unser Mann zurück und gibt sich seiner Leidenschaft hin: Das ist die Beobachtung der Wolken und wie sie sich zu immer neuen Wolkenbildern formen. Eine Frau liebt er auch, eine Meteorologin im Fernsehen. Ihr schreibt er Briefe, bekommt aber immer nur Autogrammkarten zurück. Wie dieser Mann am Ende doch die Liebe, die wirkliche Liebe erlernt, das erzählt der Roman "Grand Hotel" von Jaroslav Rudiš. Geschrieben 2006, ist das Buch jetzt auf Deutsch erschienen, und sein Autor ist unser Gast. Herr Rudiš, schön, dass Sie gekommen sind!

Jaroslav Rudiš: Danke für die Einladung. Hallo!

König: Fleischman heißt Ihr Held, heißt der Wolken beobachtende Hotelboy. Dem Nachnamen fehlt ein - n - und er hat überhaupt keinen Vornamen. Wo ist der abgeblieben?

Rudiš: Ja, der hat eine Menge Sachen in seinem Leben verloren, vor allem sich selbst hat er mit seinen 25 verloren. Und er versucht, sich in meinem Roman irgendwie neu zu finden und vor allem einen Ausweg, einen Weg aus Liberec zu finden und vielleicht aus seinem Leben. Also in der theoretisch-literarischen Hinsicht ist er ein typischer Held der tschechischen Literatur, also ein Versager, der wartet auf ein Zeichen, dass er mit seinem Leben halt was unternehmen muss. Und er arbeitet in einem Hotel in Liberec, das ist eine Stadt in Nordböhmen an der Grenze zu Deutschland, mit einer ganz speziellen Stimmung, weil es regnet die ganze Zeit dort oder es schneit dort. Auch die Leute sind ganz besonders da, ein bisschen melancholisch, ein bisschen traurig, ein bisschen verloren vielleicht.

König: Ihr Held hat nicht nur keinen Vornamen, er hat auch keine Eltern. Diese emigrierten, übergaben ihr Kind einem Heim. Dort holte ihn dann sein Cousin heraus und holte ihn zu sich ins Grand Hotel. Das heißt, Fleischman führt eine durch und durch einsame Existenz und kann auch diesen Ort Liberec nie verlassen. Er versucht es, aber gerät dann fast in Panik. Was hält ihn, was bindet ihn, was fesselt ihn so an diesen Ort?

Rudiš: Ich meine, es ist vielleicht die Vergangenheit. Dieser Fleischman ist sich sehr langsam bewegende Geschichte dieser Stadt. Er hat mehrmals, wie Sie gesagt haben, versucht zu flüchten, aber der hat ja auch hier versagt. Der hat auch nie eine Frau zum Beispiel gehabt. Und das Einzige, was ihn so richtig interessiert und was bisschen Bewegung in sein Leben bringt, das sind diese Wolken über dieser Stadt. Wie gesagt, es regnet sehr viel in Liberec, und diese Stadt ist umgeben von Bergen. Alle diese Wolkenmengen, die von der Nordsee da kommen, bleiben dort stehen, und alles fällt runter auf Fleischman.

König: Sind Sie selber auch ein Wolkenbeobachter?

Rudiš: Ich musste das natürlich auch erlernen, und ich muss hier zugeben, dass ich mir diese Geschichte oder diese Obsession von meinem Bruder ausgeliehen habe. Der war fünf Jahre lang ein Amateurmeteorologe und hat sich drei Mal pro Tag, so die Temperatur und Luftdruck hat er gemessen und hatte so eine Tabelle an der Wand. Und ich fand das großartig, dass er fünf Jahre zurückgucken kann, um zu sehen, wie das Wetter hier war. Und dieser Fleischman, da habe ich das ein bisschen natürlich übertrieben, der macht das 25 Jahre lang, oder 20 Jahre lang sagen wir. Der weiß genau, wie das Wetter war. Und vor allem, er fühlt sich nicht nur mit der Geschichte der Stadt verbunden, aber auch mit diesen Wolken und Wetterfronten. Ich dachte, ich habe mir das absolut ausgedacht, aber dann, wenn ich recherchiert habe zu diesem Roman, war ich auch bei dem Wetterdienst in Prag. Und die haben mir gesagt, ja, wir haben solche Typen hier, und wir haben so eine Liste hier mit 30 Namen von den Leuten, die uns ständig anrufen und mit uns reden wollen und verwechseln uns Meteorologen mit den Psychologen, weil sie auch das Gefühl haben, die sind irgendwie mit dem Wetter mehr als verbunden.

König: Dieser Fleischman ist ja wirklich ein großer Individualist. Ist dieses Buch oder ist diese Figur in diesem Buch gleichermaßen auch so eine Art Gruppenporträt einer ganzen Generation von Tschechen, die sich plötzlich in dieser …

Rudiš: Hoffentlich nicht.

König: … in dieser Einöde wiederfinden und nicht so richtig wissen, was mit sich anzufangen?

Rudiš: Hoffentlich nicht. Ich bin auch ab und zu gefragt worden, ob diese Figur nicht autobiografische Züge hat, nicht, weil sonst wäre ich wahrscheinlich nicht hier jetzt im Studio …

König: Dann säßen Sie noch im Hotel und würden die Wolken anschauen.

Rudiš: … und würde diese Stadt nie verlassen. Obwohl, ich muss hier auch sagen, ich habe zwei Jahre lang in einem Grand Hotel in Liberec wirklich als Nachtportier gearbeitet und natürlich dort eine Menge Geschichten gesammelt, ohne zu wissen, dass ich mal darüber ein Buch und ein Drehbuch – weil es ist wirklich parallel ein Buch und ein Drehbuch entstanden. Fleischman ist kein richtiger Heroe unserer Generation, sonst wäre das ein bisschen traurig. Also wenn man sich diesen Mann halt vorstellt, er ist zwar …

König: Entschuldigung, weil Sie sagten, er sei ein typisch tschechischer Romanheld, nämlich ein Versager. Das lässt irgendwie doch darauf schließen, dass es …

Rudiš: Wenn man halt zum Beispiel zurück an Bohumil Hrabal denkt oder auch Schwejk, ja, also von Jaroslav Hašek, also das sind so die Typen von Literaturhelden, die ich natürlich auch sehr mag und die irgendwie auch zu der tschechischen Literatur passen. Auch in diesem Roman gibt es eine Menge … oder ich fange immer, mit dem Schreiben fange ich an mit einem Satz, dass ich in der U-Bahn oder in der Straßenbahn oder irgendwo im Hotel mal gehört habe, und das bleibt mir irgendwie im Kopf, und dann plötzlich denke ich über eine Figur nach und dann kommt das. Auch dieses ein bisschen das deutsch-böhmische oder sudetendeutsche Thema im Roman natürlich, ich habe mich damit schon früher irgendwie beschäftigt. Und vor allem, wenn Sie halt in Liberec oder wenn Sie diese Grenzgebiete von Tschechien halt mal besuchen, Sie können sich nicht vorstellen von dieser deutschen Geschichte und man stolpert über die, und auch in der Zeit nach dem Krieg und nach '45, wenn die Deutschen dann vertrieben wurden. Und vor allem die kommunistische Regierung hat immer versucht, das zu vertuschen und zu sagen, hier waren ja nie Deutsche.

König: Wie denken junge Tschechen jetzt darüber, die das mehr oder weniger nur noch vom Hörensagen …

Rudiš: Für viele ist das kein Thema mehr und sie interessieren sich nicht dafür. Die leben in einem Europa ohne Grenzen und bewegen sich ganz frei, auch was die Geschichte angeht. Also für viele ist das kein Thema mehr. Aber ich meine, für eine gewisse Gruppe von den Tschechen, die haben für sich dieses Thema auch entdeckt. Ich denke an mehrere tschechische Künstler, Filmemacher, Theatermacher, aber auch Schriftsteller, die sich mit diesem Thema auseinandersetzen. Und ich meine, es hat ein wahnsinniges Dramapotenzial. Für mich ist das viel, viel mehr spannender, über Liberec oder über diese Grenzgebiete zu schreiben als über Prag, obwohl mein dritter Roman "Potichu" spielt in Prag und beschreibt so oder es ist eine Geschichte von fünf Leuten in Prag von heute.

König: Moment, bleiben wir noch mal in der Grenzregion. Ich meine, Sie gehen ja sehr sarkastisch mit der ganzen Situation um, Sie schildern zum Beispiel, wie jemand die Asche eines Vertriebenen in seine alte Heimat zurückbringt und dort ausstreut, weil es heißt, der Mensch solle zu seinem Ursprungsort zurückkehren.

Rudiš: Und das stimmt auch.

König: Ja. Aber wie reagieren tschechische Zuhörer, wenn Sie so was sagen? Ist das so ein Witz, den man gern zur Kenntnis nimmt, oder stößt das schon noch an ein Tabu?

Rudiš: Genau diese Momente wurden in mehreren, also wenn das Buch besprochen wurde, wurden erwähnt, ob man damit so umgehen kann, ob das nicht übertrieben ist. Und natürlich, ich bin auch in Deutschland dann ab und zu gefragt worden, und immer wieder kommt natürlich jemand, dessen Vater, Großvater vertrieben wurde, oder sogar es kommen Leute, die aus Liberec vertrieben wurden, weil das ist auch eine sehr große Stadt, 100.000 Einwohner, und fragen sich, oder ich merke das ab und zu, die Frage liegt in der Luft: Darf man das? Und ich hoffe, man darf das. Ich würde mir mehr solcher Bücher oder Filme wünschen, die sich mit diesem Thema auch mit so einer gewissen Leichtigkeit auseinandersetzen, dass da auch ein bisschen Humor vorkommt, weil dieser Humor uns alle auch ein bisschen befreit. Und für mich ist das auch der Beweis dafür, dass das irgendwie vorbei ist, wenn wir uns darüber auch so ein bisschen lustig machen können. Aber natürlich, ich weiß, es war ein Unrecht, es war traurig und es war drastisch. Aber trotzdem meine ich, dass man jetzt heutzutage damit auch so ein bisschen doch mit so einer gewissen Leichtigkeit umgehen kann.

König: Kommen wir zurück zu Ihrem Buch "Grand Hotel" mit seinem Mädchen für alles, dem Wolkenbeobachter Fleischman. Sie beschreiben diesen zurückgezogenen, fast verschämt versteckten Fleischman, der die Liebe sucht, in einem Ton, der – jedenfalls in der deutschen Übersetzung – so leicht daherkommt, dass man es immer wieder gar nicht glauben mag. Woher nehmen Sie diese einfache, diese so gerade angesichts der großen Themen, die Sie bearbeiten, so unpathetischen Sprache?

Rudiš: Das weiß ich nicht, das weiß ich wirklich nicht. Ich weiß nur, dass ich mir nicht vorstellen kann, ohne diese Leichtigkeit, ohne Humor, ohne Ironie und aber auch ohne Selbstironie zu schreiben. Natürlich, ich bin ziemlich kritisch den Tschechen gegenüber, aber eine Eigenschaft mag ich sehr, und das ist dieser Bezug zur Selbstironie und Ironie. Das ist auch das, was ich meine – ich merke, auch in Deutschland oder in Polen zum Beispiel, deswegen sind hier auch die tschechischen Bücher so gelesen oder die tschechischen Filme sind da viel anders als die deutschen Filme oder das polnische Kino heutzutage. Also einfach, ich kann mir das nicht vorstellen, und ausgerechnet auch über solche Themen zu schreiben, wie ich das schon gesagt habe, mich hat das sehr befreit und natürlich, mir hat geholfen, dass meine Generation ist natürlich überhaupt nicht verantwortlich, genauso wie die Generation meiner deutschen Freunde dafür, was hier passiert ist im Zweiten Weltkrieg. Aber natürlich, wir können uns fragen, dürfen uns fragen, warum es so schiefgegangen ist zwischen den Deutschen und Tschechen und was ist damals passiert. Aber wir können das natürlich auch mit schwarzem Humor verarbeiten.

König: Der Schriftsteller Jaroslav Rudiš im Gespräch. Sein Roman "Grand Hotel" ist, übersetzt von Eva Profousová, erschienen im Luchterhand-Verlag. Herr Rudiš, alles Gute für Sie und vielen Dank für Ihren Besuch!

Rudiš: Danke sehr!
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