Geschichte und Dekadenz

20.04.2010
Emil Cioran schreibt in "Über Frankreich" über Kultur, Geschichte und Dekadenz des Landes. Der Text beginnt mit einer Analyse sowie intellektueller Genauigkeit - und endet mit Zertrümmerung.
Emil Cioran (1911 bis 1984) ist berühmt, vielleicht eher: berüchtigt für seine Produktion von Aphorismen, die sich für potenzielle Selbstmörder eignen - wie der viel zitierte Satz: "Es gibt überhaupt keine Argumente für das Leben." Sein Feld war das stilisierte, zugespitzte Denken, die schwarze Eleganz seiner intellektuellen Vernichtungsfeldzüge legendär. So wurde er so berühmt wie alt, womit er bewies, dass man zum Leben nicht einmal Argumente braucht.

Der gebürtige Rumäne, der seit seinem 26. Lebensjahr in Frankreich lebte, wechselte nach Kriegsende die Schreibsprache und wurde Franzose, kein naturalisierter Franzose, sondern ein akkulturierter. "Über Frankreich" heißt eine kleine Schrift aus dem Jahr 1941, verfasst noch in rumänischer Sprache, die in seinem Nachlass gefunden wurde und nun, zwei Jahre nach dem Erscheinen seines Gesamtwerks auf Deutsch als Einzelbändchen erscheint.

Es ist die Beschreibung einer Kultur, der sich der 30-jährige Kulturmigrant und Priestersohn anzuverwandeln begonnen hatte. Der Text, hier als Essay bezeichnet, tut anfangs so, als sei er tatsächlich Analyse, bedacht auf intellektuelle Genauigkeit. Aber Cioran pflegte schon damals die obsessive Neigung zum Apercu, und obwohl dieser Text für seine Verhältnisse teilweise fast freundlich wirkt, ist er doch am Ende das, was man erwartet hat: eine Zertrümmerung.

Eingangs heißt es noch, Frankreich sei "das Land, das seine Pflicht getan hat. Es ist das Land der Erfüllung". Doch nur wenige Seiten später sind wir bereits bei der prinzipiellen Feststellung, dass die französische Kultur der Form und der Oberflächlichkeit verpflichtet ist. Frankreichs Gottheit sei der gute Geschmack, Deutschland hingegen das Land der Geschmacklosigkeit, wo man das Erhabene liebe.

Auf das Erhabene und die Tiefe zu pfeifen, und zwar möglichst melodisch und hübsch zu pfeifen, ist das, was Cioran hier zu tun vorgibt. Zugleich macht er diese geistige und ästhetische Haltung - die Ablehnung des Unendlichen wie des kulturell Anderen als Stillosigkeit - für die Erstarrung der französischen Kultur verantwortlich: "Die Franzosen sind (...) vielleicht das einzige Volk in Europa, das die Sehnsucht nicht kennt – diese Form unendlicher Unerfülltheit des Gefühls."

Sein Fazit ist: Dekadenz. Ciorans Frankreich ist ein sterbendes Frankreich, eine Kultur am Ende ihrer Kraft, umgeben von Barbaren. Wobei Cioran selbst lange Zeit durchaus auch politische Sympathien für diese Barbaren hatte.

Man muss diesen kurzen Text auch als Zeitdokument lesen: Frankreich war besetzt, die triumphalen Gesten eines de Gaulle, die intellektuelle Ausstrahlung eines Camus, eines Sartre von ihrer Blüte noch weit entfernt. Dennoch wird man darin vieles finden, das für die Gegenwart Bestand hat. Dass es ausgerechnet Frankreich war, das die postmodernen Denker hervorgebracht hat, passt zu Ciorans mal scharfsinniger, mal hämischer, manchmal auch seichten Analyse - ebenso wie die Fremdheitserfahrungen, die wir, als Deutsche, mit der französischen Kultur bis heute machen können.

Besprochen von Katharina Döbler

E. M. Cioran, Über Frankreich
Aus dem Rumänischen von Ferdinand Leupold
Suhrkamp Verlag, Frankfurt a. M. 2010, 120 Seiten, 19,80 Euro