Geschichte hautnah

Von Susanne Billig |
Chronik, Dokumentation und Enzyklopädie - die multimediale Zeitreise "Retrospect" bringt geballtes Geschichtswissen von 1900 bis heute auf den Computerbildschirm. Mit der überarbeiteten und aktualisierten Version lässt sich Geschichte hautnah erleben.
Chronik, Dokumentation und Enzyklopädie - die multimediale Zeitreise "Retrospect" bringt geballtes Geschichtswissen von 1900 bis heute auf den Computerbildschirm. Mit der überarbeiteten und aktualisierten Version lässt sich Geschichte hautnah erleben.

1937. Die Hindenburg, größtes Luftschiff aller Zeiten, setzt zur Landung im amerikanischen Lakehurst an. Achtzig Stunden hat die Reise über den Atlantik gedauert - ein Linienflug, Routine beinahe schon. Plötzlich das Unfassbare: Im Heck des Zeppelins bricht ein Feuer aus.

Der Riese verliert seinen Auftrieb, sinkt in nur dreißig Sekunden zu Boden und geht vollständig in Flammen auf - 35 Menschen finden den Tod. Die Katastrophe leitet, vorerst, das Ende der deutschen Luftschifffahrt ein.

Das 20. Jahrhundert katapultierte die Menschheit vom ersten Zeppelinflug bis hinauf zum Mond, von Frauen ohne Wahlrecht zu Kanzlerinnen, von der Hoffnung auf Fortschritt zu verheerenden Weltkriegen und Klimakatastrophe. Nicht zufällig beginnt die digitale Chronik "Retrospect" bei einem großen Experten für den seelisch überforderten Menschen:

"Exakt mit Anbruch des Jahrhunderts erschien 'Die Traumdeutung'. Der Wiener Nervenarzt Sigmund Freud entwarf darin eine höchste kontroverse Theorie über das Unbewusste und die verdrängten Triebe. Insbesondere eine fehlentwickelte Libido - die schon in der Kindheit angelegte sexuelle Begierde - sei für nahezu alle psychologischen Auffälligkeiten verantwortlich. Sigmund Freuds Thesen spalteten die Fachwelt. Sein Verständnis des Unbewussten prägte ein neues Menschenbild, das sich weit über medizinische Kreise hinaus niederschlug."

Dass aus dem Inneren des Menschen schwer kontrollierbare Impulse aufsteigen - das 20. Jahrhundert bewies es zu Genüge. Mit Recht nimmt die Politik den größten Raum des Nachschlagewerkes ein. Aber - man darf auch anderes entdecken. Zum Beispiel in der Kunst, die auf ihre Weise den Jahrhundertthemen auf der Spur war:

"Mit dem Ende der tonalen Musik erlebte die ernste Musik um die Jahrhundertwende einen entscheidenden Umbruch. Die traditionelle Harmonie- und Rhythmik-Lehre wurde durch neue Form- und Klangvorstellungen von Grund auf revolutioniert. Die 'Emanzipation der Dissonanz' wurde zum fruchtbaren Boden für die Atonalität der neuen Musik. Ihre Hauptvertreter Arnold Schönberg und seine Schüler Anton Webern und Alban Berg entwickelten das Zwölfton-System, das auch die Grundlage für die Zufallsmusik des Amerikaners Johns Cage bildete."

Ausführliche Dokumentationen verfolgen besondere Themen quer durch das gesamte Jahrhundert. Zwölfton-Kompositionen waren nie etwas fürs breite Volk. Das hielt sich an die Unterhaltungsmusik, deren Siegeszug mit Schallplatte und Radio begann.

In den zwanziger Jahren verließen Jazz und Blues die schwarzen Viertel der Südstaaten und eroberten die Welt, in den Dreißigern begeisterten Bigbands. Rock ‘n' Roll und Beat machten die Musik aggressiver. Ende der sechziger Jahre protestierte die amerikanische Jugend in Woodstock gegen den Vietnamkrieg - das erste Mega-Open-Air-Konzert der Weltgeschichte. Und heute?
"Sommer in den neunziger Jahren. Techno ist zur größten Jugendbewegung aller Zeiten geworden. Alljährlich treffen sich rund eine Million zumeist jugendlicher Techno-Fans in Berlin, etwas weniger sind es in anderen Städten wie hier in München, zur Love Parade. Hinter bis zu fünfzig Sattelschleppern mit gigantischen Verstärker- und Lautsprecher-Anlagen bewegt sich der Zug der schrill kostümierten Tänzer und Tänzerinnen durch die Straßen."

Und jährlich durchbricht die Kommerzialisierung neue Schallmauern, heißt es kritisch. Immer wieder beweist "Retrospect" Mut zur Meinung. Ereignisse werden gewichtet, nie entsteht das Gefühl, von Sachinformationen erschlagen zu werden.

Vier Stunden Film, 22 Stunden Ton, zahllose Fotos und ein Lexikon mit 30.000 Einträgen - so viel Historie muss eine Suchmaschine durchforsten. Am angenehmsten aber fliegt man auf einer Zeitleiste durch die Jahre. Am Bildschirmrand tauchen immer neue, anklickbare Bilder auf - nach Rubriken wie Panorama, Kultur, Politik, Wirtschaft oder Wissenschaft sortiert.
Und schließlich führt unweigerlich ein Mausklick dorthin, wo vom Anfang bis zum Ende des Jahrhunderts wohl die größte Begeisterung herrschte:

"Von allen Sportarten genießt Fußball weltweit die größte Popularität. Die vielleicht größte Stunde für den deutschen Fußball schlug 1954 im WM-Finale von Bern. Die Bundesrepublik wird Fußball-Weltmeister. In einem packenden Endspiel hatte die Mannschaft von Trainer Herberger das hoch favorisierte Team aus Ungarn mit drei zu zwei geschlagen. An dreißigtausend Fernsehgeräten verfolgten die Bundesbürger in Wohnzimmern und Kneipen das Jahrhundert-Ereignis. Mehr als Wirtschaftswunder und die bevor stehende Aufnahme in EWG und Nato berauschte der Weltmeistertitel die Nation. Endlich war man wieder wer."